\brief{Rudolf Carnap an Hugo Dingler, 20. September 1920}{September 1920} %Rudolf Carnap %Buchenbach -- Baden, 20.9.20. \anrede{Sehr geehrter Herr Doktor!} \haupttext{Nach dem Lesen Ihrer Bücher, besonders der ,,Grundlagen der Physik``\IW{}, würde ich mich freuen, mit Ihnen sprechen u. Sie über einige geplante wissenschaftl[iche] Arbeiten u. etwaige Promotion in Rat nehmen zu dürfen. Nach einer Alpentour werde ich voraussichtl[ich] Anfang Oktober durch München kommen, u. würde Sie dann, wenn es Ihnen recht ist, sehr gern einmal aufsuchen. Mein Hauptinteressengebiet sind die log[ischen] u. methodolog[ischen] Grundlagen der exakten Wissenschaften. Ich habe mich besonders mit Kant,\IN{\kant} Riemann\IN{\riemannbernhard}, Helmholtz\IN{\helmholtz}, Mach,\IN{\mach} Avenarius\IN{\avenariusrichard}, Poincar\'{e},\IN{\poincare} Natorp\IN{\natorppaul}, Ostwald\IN{\ostwaldwilhelm}, Einstein\IN{\einstein}, Weyl\IN{\weyl} beschäftigt. Im vorigen Jahre habe ich in Jena die Oberlehrerprüfung in Physik, Mathematik u. Philosophie (alles Oberstufe) bestanden. Nach Rücksprache mit Prof. Bauch -- Jena bin ich jetzt (im Anschluß an meine philos[ophische] Arbeit zur Oberl[ehrer]-Prüfung) \neueseite{} mit einer Arbeit über die philos[ophische] Bedeutung des Problems der Grundlegung der Geometrie\IC{} beschäftigt, um dann in Jena in Philosophie zu promovieren. Nun glaube ich, daß es für eine spätere Tätigkeit auf dem Grenzgebiet zwischen Philosophie u. mathem[atischen] Wissenschaften gut sein kann, auch die Befähigung in einer exakten Fachwissenschaft nachgewiesen zu haben. Deshalb würde ich gern noch mit Physik als Hauptfach den Dr. phil. nat. erlangen. Die erforderlichen Kenntnisse hierzu glaube ich zu besitzen. Ich habe von Wien -- Jena in der Oberl[ehrer]-Prüfung in Physik (Oberstufe) die Note Sehr gut erhalten. Dagegen habe ich insofern Bedenken wegen der Dissertation, als ich keine eigentlich experimentelle Arbeit mehr machen will. Ich habe in Jena bei Bädeker\IN{\baedeker} u. Wien\IN{\rjwien} länger experim[entell] gearbeitet, da ich ursprüngl[ich] vorhatte, Physiker zu werden. Nachdem ich aber jetzt durch den Krieg über 4 Jahre verloren habe (ich bin jetzt 29 J[ahre] alt) glaube ich nun für eine \neueseite{} experim[entelle] Arbeit nicht mehr die lange dazu erforderliche Zeit opfern u. meinem eigentlichen Arbeitsfeld (der Philos[ophie] d[er] ex[akten] Wiss[enschaften]) entziehen zu dürfen. Ich würde nun gern Ihren Rat darüber hören, inwieweit es möglich sein würde, mit einer rein theoret[ischen] Arbeit in München den Dr. phil. nat. (Physik als Hauptfach; Mathem[atik] u. Philos[ophie] als Nebenfach) zu machen, u. ob es möglich sein würde, daß die Fakultät\II{} Ihnen die Dissertation zur Bewertung übergäbe. Letzteres würde ich deshalb wünschen, weil ich über irgendein Problem der \uline{Grundlagen} der Physik\IC{} arbeiten möchte. Vorausgesetzt, daß eine solche Arbeit überhaupt als \uline{physikal[ische]} Arbeit angenommen würde (bei der Ausführung kann ja auf den Charakter der physikal[ischen] Facharbeit Rücksicht genommen werden), möchte ich dann gern Ihren Rat über die Wahl eines geeigneten Themas hören. Vor einigen Monaten habe ich einen skizzenartigen Plan zu einem axiomatischen \neueseite{} Aufbau der Kinematik\IC{} entworfen (noch nicht die Arbeit selbst, sondern nur programmat[ische] Vorbemerkungen u. Überblick) u. dann für spätere Bearbeitung liegen lassen. Andre fruchtbare Problemstellungen ergäben sich ja leicht im Anschluß an ihre ,,Grundl[agen] d[er] Physik``\IW{}. Doch das ist besser mündlich zu erörtern. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir \uline{ganz kurz} auf beiliegende Karte (da ich wahrsch[einlich] schon am 26.\,9. abreise) mitteilen würden, ob eine Promotion in Physik mit nicht-experim[enteller] Arbeit etwa überhaupt ausgeschlossen erscheint, wenn nicht: ob ich Sie Anfang Oktober besuchen darf, u. ob Ihnen die vorherige Zusendung meiner Skizze (zur Axiomatik der Bewegungslehre\IC{}) erwünscht erscheint. Mit vorzüglicher Hochachtung} \grussformel{Ihr\\ Rudolf Carnap} \ebericht{Brief, hsl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/869918}{HD (RC 115-04-02, ksl. Abschrift RC 028-12-11)}; Briefkopf: gestempelt \original{Rudolf Carnap \,/\, Buchenbach -- Baden}, hsl. \original{20.\,9.\,20}.}