Rudolf Carnap an Hermann Nohl, 23. März 1915 März 1915

Lieber Herr Doktor‚

haben Sie herzlichen Dank für Ihre freundliche Sendung von allerhand schönen Dingen, die hier in den Karpathen besonders willkommen sind; man kommt sich hier so entfernt von Europa vor.

Wie sich die Skitruppe bewährt, wird Sie hauptsächlich interessieren. Über mein persönliches vorzügliches Wohlergehen kann man, als nicht weiter erstaunlich, zur Tagesordnung übergehen.

Das beste Zeichen für die Brauchbarkeit unserer Truppe ist wohl die Anerkennung, die wir allmählich bei der Inf[anterie] hier gefunden haben. Diese brachte uns Anfangs eine ziemliche Skepsis entgegen, besonders die „Exzellenz“ (der Divisionär), ein scharfer alter Herr, u. der Komm[andant] des Inf. Rgts., dem wir zugeteilt sind. Es war ja auch nicht schwer für uns, der Inf., die bei den hiesigen Schnee- und Geländeverhältnissen Erkundungsmaßnahmen nur in kleinem Maßstabe u. auch dann noch unter 🕮 großen Schwierigkeiten vornehmen konnte, durch Patrouillen gute Dienste zu leisten. Wir konnten tatsächlich, ohne uns in allzugroße Gefahr zu begeben, die genaue Lage der russischen Stellungen, Schützengräben u. ?, die sich auf dem Kamm einer langgestreckten Bergkette (Zwinin) befindet, feststellen. Später haben wir auch, gestützt auf die durch Patrouillen gewonnene Kenntnis des Vorgeländes, geeignete Anmarschwege für nächtliche Inf.-angriffe ausfindig zu machen u. dann die Kolonnen hinaufzuführen. Die erste Gruppe einer solchen Kolonne muß, Mann hinter Mann, oder höchstens 2 nebeneinander, für die folgenden einen Weg stampfen; bei dem tiefen Schnee u. den steilen Hängen eine ernüchternde Arbeit, die mehrmalige Ablösung nötig macht. Von einem möglichst hochgelegenen, aber noch in Deckung (Wald od. steile Böschung) befindlichen Sammelplatz aus, an dem, wenn Zeit ist, ein 🕮 provisorischer Schützengraben ausgehoben wird, wird dann zum Sturm vorgegangen. An verschiedenen Stellen hat der Angriff vor einiger Zeit endlich Erfolg gehabt, nach mehreren vergeblichen Versuchen mit starken Verlusten. Beim Sturm selbst sind wir nicht beteiligt, sondern leisten dann nur Meldefahrerdienste, um Verbindung zwischen den an den verschiedenen Stellen angreifenden Komp[anien] zu halten, immerhin auch eine wichtige Aufgabe u. vor allem durch andre Leute kaum auszuführen.

In der letzten Zeit ist uns leider das Bewußtsein der Unentbehrlichkeit immer mehr verloren gegangen. Wenn auch hie u. da ein Graben genommen wird, so ist doch im allgemeinen die Frontlinie allmählich erstarrt, die russ[ische] Befestigungslinie, auch wo keine Angriffe stattfinden, ziemlich lückenlos ausgebaut, u. kaum mehr Neues zu erkunden. In dem Gebiet, das hauptsächlich für unsre 🕮 Angriffe in Betracht kommt, weiß die Inf. jetzt durch die häufigen Kämpfe selbst Bescheid. Selten wird noch einmal ein Angriff an einer neuen Stelle befohlen.

Die Sicherung eines Frontabschnitts, der fast gar nicht durch Inf. gedeckt ist, durch Feldwachen mit Vorposten u. kleine Sicherungspatrouillen, ferner Meldefahrerdienste bei Inf.-feldwachen sind jetzt unsere Tätigkeit, viel weniger interessant u. befriedigend als die frühere. Wie sehnen wir uns alle wieder nach lohnenden Erkundungspatrouillen! Wenn nicht bald eine plötzliche Änderung in der Situation eintritt, was allerdings nicht unmöglich ist, so wirds höchste Zeit, daß der Schnee, u. damit auch unsere Truppe, sich auflöst. Vorläufig haben wir allerdings noch schönstes Winterwetter, drum hoff ich lieber auf die erste Möglichkeit.

Ihnen u. Ihrer Frau Gemahlin herzlichen Dank und Gruß von

Ihrem
Carnap

Brief, hsl., 4 Seiten, keine Signatur (Nohl-Nachlass Göttingen); Briefkopf: hsl. In den Karpathen, 23. III. 15; Briefumschlag: hsl. Feldpost  /  Herr Dr. Nohl  / Stoystr. 3  /  Jena  /  Deutschland🕮 hsl. Oberjäger Carnap  /  Kaiserl. Deutsche Südarmee  /  1. Inf. Div.  /  2. Schneeschuhbat.  /  5. Komp., 14. Trupp  /  23. III. 15.


Processed with \(\mathsf{valep\TeX}\), Version 0.1, May 2024.