Rudolf Carnap an Johannes Schlaf, 27. Mai 1911 Mai 1911

1911; nicht bearbeitet

Verehrtester Herr Schlaf!

Als ich Ihren Aufsatz im Maiheft des Charon gelesen hatte, drängte es mich, sogleich Ihnen gegenüber meine{r} Freude Ausdruck zu geben, dass auch in diesem Teile der „exakten“ Naturwissenschaften, der bisher am schlimmsten vom Dogma tyrannisiert worden ist, endlich jemand gewagt hat, die Fachgelehrten auf die Lücken und Widersprüche ihres Systems aufmerksam zu machen. Doch um mich nicht gleich vom ersten Eindruck überwältigen zu lassen, schreibe ich Ihnen erst jetzt, nachdem ich Ihre Aufsatz wiederholt gelesen und durchdacht habe, und deshalb, wie ich glaube, mit ruhigemUrteil [sic] das Recht der freien Wahrheit und den Dogmatismus der privilegierten Wahrheitsucher abwägen kann.

Ja, die Fachlaute! Da glauben sie nun, mit ihren Formeln, Gleichungen und Tabellen ein „wahres“ Weltbild konstruieren zu können und rümpfen die Nase über den „Laien“, der mit freiem Blick die Welt sieht wie sie ist, und das Weltbild durch notwendig bindende Schlüsse aufbaut, die sicherer sind als jede Integralrechnung. Integrale und dergleichen Phantasieprodukte eines immer weiter ins Abstrakte sich verlierenden Mathematikers, der den Blick für die Wirklichkeit verloren hat, können sie für einen mit natürlicher Vernunft begabten Menschen überhaupt noch irgend einen Sinn haben, follich mit ihrer Hülfe Errechnetes und Ertüfteltes irgend eine Beweiskraft? Nachdem ich über solche Dinge oft habe den Kopf schütteln müssen, werden Sie verstehen, wie erquickend die Lektüre Ihrer Abhandlung auf mich gewirkt hat. Wie gerne hätte ich schon früher den Astronomen die | Unhaltbarkeit ihres Weltgebäudes nachgewiesen, was ich aber natürlich aus Mangel an Scharfsinn und Fähigkeit für Astronomie undPhysik [sic] nicht konnte. Zwar schätze ich den Wert der Kenntnisse in diesen Wissenschaften nicht besonders hoch, glaube aber und sehe es jetzt bestätigt, dass ein genialer Scharfblick, der voraussetzungslos die Dinge ansicht, ohne sich in unnützen Formelkram zu verlieren und ohne sich durch die toten [sic] Begriffe der „wissenschaftlichen“ Physik irre machen zu lassen, imstande ist, alle die Aufgaben klar und endgültig zu lösen, bei denen ? Astronomen und Mathematiker die unglaublichsten Irrtümer begangen haben und sich nicht einmal scheuten, diese als unbezweifelbare Ergebnisse der exakten Wissenschaft hinzustellen. Was sich wohl solch ein Logarithmenturner denken mag, wenn er diese Stelle seines doch sicher hochgeschätzten Faust liest:

„Erkennest dann der Sterne Lauf‚

Und wenn Natur dich unterweist

Denn geht die Seelenkraft dir auf‚

Wie spricht ein Geist zum andern Geist.

Umsonst, das{s} trockne{s} Sinnen hier

Die heilgen Zeichen dir erklärt.“

Übrigens ist es interessant zu sehen, wie selbst Goethe sich von dem Blendwerk des Kopernikus hat täuschen lassen, den er im „Vermächtnis“ als den Weisen preist:

„Verdank es, Erden – Sohn, dem Weisen‚

Der ihr die Sonne zu umkreisen

Und dem Geschwister wies die Bahn.“

Aber Goethe kannte auch den Mut der eignen, selbsterrungenen Meinung: |

„Jch [sic] bin von keiner Schule!

Kein Meister lebt, mit dem ich buhle;

Auch bin ich weit davon entfernt‚

Dass ich von Toten was gelernt.“

Den vorzüglichsten Eindruck hat Ihre Erklärung der Rückläufigkeit und scheinbaren Rotation der Planeten auf mich gemacht. Wenn man sie liest, erscheint sie so einfach und klar, und doch hat der Scharfsinn eines halben Jahrtausends sie nicht finden können! Diese erstaunliche Tatsache war mir zuerst unbegreiflich, bis ich mir vergegenwärtigte, dassdas [sic] ptol{e}mäische System ein und ein halbes Jahrtausend in den Köpfen der Astronomen gespuckt hat, bis es von einem scharfsinniger erdachten abgelöst wurde, das jetzt seinerseits dem endgiltig richtigen System, der absoluten Wahrheit weichen muss.

Ganz besonderen Dank schulde ich Ihnen für folgende zwei Aufklärungen. Nämlich erstens für die Erklärung der seltsamen Tatsache, dass die scheinbare Rotation gerade immer am Äquator am schnellsten vor sich geht, während sie nach den Pol{en} hin sich immer deutlicher verlangsamt. Dass dies den Astronomen nicht als bisher unerklärt aufgefallen ist, ist mir schlechterdings unfassbar. Und Ihre Erklärung durch den permanenten Druck infolge des Umlaufs ist jetzt so klar und einleuchtend. Zweitens bin ich hocherfreut, dass durch Ihre Feststellung die Horizontal- sowohl, als die Fixsternparallaxe endlich ein für alle Mal abgeschafft worden sind. Wie unfruchtbar sind doch diese seltsamen Begriffe einer verirrten Spekulation gewesen! Nein, | nicht nur unfruchtbar! Sondern durch das Balancieren mit diesen unausdenkbaren Dingern sind die Köpfe der Astronomen und die dicken Bände ihrer Werke mit einem solchen Wust von unsinnigen Angaben und daraus gezogenen noch unsinnigeren Konsequenzen vollgepfropft worden, dass der Scharfsinn eines Genies und der Mut eines Helden dazu gehört, diese Barrikaden im Sturm zu nehmen!

Auf Ihrem schweren Gange rufe ich Ihnen zu: „Heil u.Sie{g!¡‘}

Erlauben Sie mir bitte, auf einige Punkte Ihrer Theorie einzugehen. Zuerst möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, wie man die von Ihnen so glänzend bewiesene Unmöglichkeit der Rotation der um die Erde laufenden Körper durch eine ganz evidente deductio ad absurdum des bisherigen Rotationsdogmas dartun kann. Nehmen wir an, einer der Planeten drehe sich um seine Achse; so wäre doch ganze offenbar die notwendige Folge davon, dass durch die Ausweitung dieser Rotation die übrigen Körpper des Planetensystems gezwungen würden, ihre Bahn um diesen Planeten zu beschreiben! Hat schon je ein Mensch angenommen, dass das Planetensystem z.B. um Mars Kreise!? Es ist doch unglaublich, dass die Astronomen sich diese Konsequenz noch nicht klar gemacht haben; sonst hätten sie ja schon früher die von Ihnen gefundene Wahrheit finden müssen! Und wenn man gar diese Konsequenz in Bezug auf die Sonne ziehen wollte, so käme man ha schließlich wieder auf das Weltsystem, das von allen die meisten Widersprüche mit den offenkundigen Tatsachen in sich trägt, auf das Kopernikanische!

Heil Ihnen, der uns von diesem Aberglauben erlöst hat! |

Aber wir haben Ihnen auch die Errettung von einem Dogmatismus mit noch unendlich größerer Tragweite zu verdanken, der Galilei – Newton’schen Mechanik, die bisher von jedem mit blindem Glauben angenommen wurde, wie sie i{h}m der Professor kritiklos darbot. Wird künftig, wenn Ihre Anschauungen, sei es auch erst nach schweren Kämpfen, bis zu den Fachleuten durchgedrungen sind, – und das muss jeder einsichtige erhoffen, – noch jemand von allgemeiner Massenanziehung reden können, wo wir doch klar sehen, dass gegen Ende der Rückläufigkeit die Sonne den Planeten sowohl als seine Sphäre nach Osten zurückdrängt ?! Wird noch jemand an die kosmische Geltung der Zentrig{f}ugalkraft glauben können, wo wir doch die Tatsache vor Augenhaben, dass zu Beginn der Rückläufigkeit die Ausweitung der Rotationskraft Planeten samt Sphäre an sich heranzieht ?! Und dabei will man gar die Zentrifugalkraft von einem kosmisch geltenden Beharrungsvermögen ableiten? Dessen Annahme doch meiner Meinung nach durch die Tatsache der plötzlichen Rucke endgültig widerlegt ist! Und durch dieselbe Tatsache ist auch, infolge der aus ihr sich miz Notwendigkeit ergebenden Unmöglichkeit der Planetenrotation, das galileische Unabhängigkeitsprinzip endlich überwunden!

Zum Schlusse möchte ich mir erlauben, auf einige Punkte hinzuweisen, in denen ich von Ihrer Ansicht abweiche. Damit lehne ich ja durchaus nicht Ihr ganzes System ab, – welcher vernünftig denkende Mensch könnte das! – möchte Ihnen auch keineswegs meine Meinung aufdrängen, sondern würde mich sogar freuen, wenn Sie versuchen würden, mir die Fehler meiner Ansichten nachzuweisen. |

Sie behaupten, die Planeten könnten keinerlei organisches Leben tragen, da die Rucke der Rückläufigkeiten dies nicht zuließen. Jch [sic] glaube, dass wir nicht von der Form organischen Lebens, die wir auf der Erde haben, unsere Vorstellung von der Möglichkeit organischen Lebens überhaupt entnehmen dürfen. Wir haben doch wohl die gemeinsame Überzeugung, dass die Organismen sich überall den gegebenen Lebensbedingungen anpassen. Wir können uns also denken, dass die Geschöpfe auf anderen Planeten entweder nur pflanzenartig sind, also eingewurzelt, oder mit starken Krallen versehen, mit denen sie sich, durch die Erfahrung von Generationen belehrt, im Momente des Rucks anklammern. Oder ihr Körper muss aus so eisenhaltigen Stoffen aufgebaut sein, dass sie vom Magnetismus des Planeten mit genügender Kraft festgehalten werden. Doch da ich die Stärke und Plötzlichkeit des Rucks nicht kenne, kann ich nicht über die Wahrscheinlichkeit dieser Annahme entscheiden. Da sie nach Ihrer Ansicht vollständig ausgeschlossen wäre, so müssen Sie wohl den Ruck als so stark annehmen, dass ihn selbst dann die Geschöpfe nicht aushalten könnten, wenn sie im Momente des D{R}ucks auf der Seite des Planeten wären, nach der der Ruck gerichtet ist. Allerdings ist es ja nicht ausgeschlossen, dass der Ruck so plötzlich und stark vor sich geht, dass die auf dieser Seite des Planeten sich befindenden Geschöpfe platt zu Boden gedrückt würden; doch scheint mir diese Annahme bedenklich.

Ferner sagen Sie, dass die Rückläufigkeit einiger Kometen ebenso zu erklären sei wie die der äußersten Monde von Jupiter und Saturn. Meiner Meinung nach ist das nicht möglich, da die Kometen sich doch | nicht um einen durch plötzliche Rückläufigkeit{en} erschütterten Zentralkörper bewogen, wie jene Monde, bei denen Ihre Erklärung ja sofort einleuchtet. Jch [sic] glaube vielmehr, dass eine Rückläufigkeit der Kometen gar nicht möglich ist. Die irrtümliche Annahme einer solchen muss notwendigerweise, – berücksichtigen wir die Schwierigkeit einer genauen Kometenbeobachtung in der Nähe der Sonne! – auf einer optischen Täuschung beruhen; und da liegt es doch auf der Hand, dass die kreuzweise Brechung der Lichtstrahlen infolge der Konvexität der Atmosphäre dieses Phänomen zur Folge haben muss.

Jch [sic] habe vorhin die Namen einiger bedeutender Physik in einem Zusammenhange genannt, der vielleicht der Missdeutung ausgesetzt ist. Jch [sic] will ja das Verdienst solcher Männer wie Kopernikus, Galilei, Kepler und Newton keineswegs schmälern, da sie es eben nicht besser gewusst haben. Sie haben ja das wissenschaftliche Interesse ihrer Zeit befriedigt und sich so ein relatives Verdienst erworben gegenüber ihren Zeitgenossen und deren Nachkommen bis zu dem Augenblick, wo ein klarer Kopf der staunenden Welt die Schuppen von den Augenreisst [sic] und ihr die Tatsachen so klar vor Augen stellt, dass jeder Zweifel dahinschwindet!

Wohl uns, dass wir diesen Augenblick miterlebt haben!

Freiburg i/Br., den 27.5.1911

Paul Fr. Conrad.

{permutation of ‚Rudolf Carnap’}

(p.Adr. Fr. von Rohden‚Frbg.Stadtstr.6.)

{Freiburg i.B.}

Brief, msl., 7 Seiten, UCLA 01 - CC04


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