A. Abschließende Reflexion zur Entscheidungstheorie als Erklärung menschlichen Handelns

Nachtrag: Als ich diese Vorlesung in den Jahren 2008 und 2009 in Bayreuth gehalten habe und dazu dieses Skript geschrieben habe, hatte ich aus Zeitgründen leider das letzte Kapitel nicht mehr niedergeschrieben. Das fand ich immer etwas schade, weshalb ich es jetzt (August 2022) nachgeholt habe.

Abschließend sollen an dieser Stellen noch einmal kritisch die Grenzen der Entscheidungstheorie als Erklärungsansatz für menschliches Handeln reflektiert werden. Diese bewusst kritische Reflexion ist dadurch motiviert, dass man nach meinem Eindruck in den Lehrbüchern der Volkswirtschaften und erst recht in der anayltischen Philosophie, dazu erzogen wird, die offensichtlichen Schwächen dieses Ansatzes hinzunehmen und beim parktischen Einsatz der Theorie nicht weiter zu beachten.

Es wurde an verschiedenen Stellen dieser Vorlesung ausgeführt, dass die Entscheidungstheorie sowohl bei der Beschreibung als auch bei der Erklärung menschlichen Verhaltens häufig scheitert (siehe dazu etwa die ausfühliche Diskussion von Rikers Versuchen historisch-politische Vorgänge damit zu erklären weiter vorn.) Für das häufige Versagen der formalen Entscheidungs- und Spieltheorie bei der Beschreibung und Erklärung menschlichen Handelns gibt es intrinsische und extrinsische Gründe. Mit den intrinsischen Gründen meine ich hier Eigenschaften der Theorie, die ihre innere Logik und ihre mögliche Beziehung zu den empirischen Gegenständen, die in ihren Bereich fallen und mit ihr erklärt werden sollen, betreffen. (Und “möglich” meint hier alle denkbaren Beziehungen zur Empirie, nicht die tatsächlich schon von Forschern bisher erprobten und erforschten.) Unter den extrinsischen Gründen verstehe ich die Gründe für das Versagen der Entscheidungstheorie, die sich aus dem Umgang der Forscher mit dieser Theorie ergeben. So verhalten sich beispielsweise gerade in der analytischen Philosophie viele Entscheidungs- und Spieltheoretiker ausgesprochen dogmatisch (hinsichtlich des Glaubens an die Theorie) und ignorant (gegenüber alternativen Ansätzen zur Erklärung menschlichen Handelns, die man etwa in der Psychologie oder der Politik- und Wirtschaftsgeschichte finden könnte, ebenso wie gegenüber der Empirie, sofern sie sich nicht auf Modelle beruft). Dafür kann die Theorie als mathematisches Gebilde nun nichts, aber mit einer Theorie lernt man immer auch Haltungen des Umgangs mit ihr, und die machen diese Theorie zumindest in der analytischen Philosophie noch schlimmer als sie ohnehin schon ist.

1. Die drei zentralen Schwächen der formalen Entscheidugnstheorie

Aber zunnächst zu den intrinsischen Gründen. Es gibt drei wesentliche Eigenschaften der Entscheidungs- und Spieltheorie, die ihre Reichweite und Erklärungsfähigkeit von vorn herein drastisch einschränken und sie als umfassende Theorie menschlichen Handelns untauglich erscheinen lassen:

  1. Unrealistische Voraussetzungen: Die Axiome, die für menschliche Präferenzen gelten sollen, sind weit weniger plausibel als das auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Insbesondere ist die Annahme vollständig geordneter und transitiver Präferenzen empirisch zweifelhaft und wahrscheinlich nicht einmal normativ sinnvoll. Ihre theoretische Rechtfertigung durch solche Überlegungen wie das Geldpumpenargument bleibt hochgradig artifiziell. Argumente dieser Art haben eher den Charakter eines Mythos (d.i. ein Narrativ, der autoritative Gültigkeit beansprucht und von der Gemeinschaft, deren Grundüberzeugungen es artikuliert, nicht hinterfragt wird). Ohnehin bleibt es ein fragwürdiges Unterfangen, empirische Theorien theoretisch beweisen zu wollen.

    (Im Allgemeinen bekennt sich die Volkswirtschaft zur Empirie, aber es gab und gibt immer wieder starke rationalistische Strömungen, die darauf zielen, die Richtigkeit ihrer Annahmen a priori und aus ersten Prinzipien ableiten zu wollen. Bekanntester historischer Vertreter dieser Tendenz ist Ludwig von Mieses.)

    Hinzu kommt, dass sich zyklische, und damit nicht-transitive Präferenzen manchmal auf ganz natürliche Weise ergeben können, wie z.B. beim Knobeln: Stein schleift (sprich: ist vorzuziehen gegenüber) Schere, Schere schneidet Papier, aber Papier wickelt Stein.

  2. Fehlende messbare Größen: Die zentrale Größte, auf der praktisch alle "Gesetzmäßigkeiten" der Spiel- und Entscheidungstheorie beruhen, sind die Nutzenwerte. Weder für den ordinalen noch für den kardinalen gibt es auch nur halbwegs präzise Messmethoden. Da sie zudem (siehe Punkt 1) auf unrealistischen Voraussetzungen beruhen, erscheint es mehr als zweifelhaft, ob sie als reale Größen überhaupt existieren. Aber selbst wenn man annimmt, das sie keine reine Fiktion sind, sondern als (bis auf Weiteres) "versteckte" Größen tatsächlich existieren, so führt das fehlen präziser Messverfahren dazu, dass die Entscheidungs- und Spieltheorie empirisch nicht wirklich überprüfbar ist, und damit – nach dem Popperschen Falsifikationskriterium – eigentlich nicht einmal als wissenschaftlich gelten dürften.

    In der Praxis kann man Modelle die sich auf sie stützen ggf. immer noch indirekt überprüfen, sofern sich aus ihnen empirisch entscheidbare Konsequenzen ableiten lassen. Es wird dann gerne so argumentiert, dass es nur auf die Richtigkeit der Prognose und nicht so sehr auf den Realismus oder auch nur die Gültigkeit der Voraussetzungen ankomme (so etwa Milton Friedmann). Diese Rechtfertigung wäre dann überzeugend, wenn uns die Volkswirtschaftslehre regelmäßig mit erstklassigen Prognosen beliefern würde. Das ist aber gerade nicht der Fall. Das Kriterium der erfolgreichen Prognosefähigkeit taugt daher am allerwenigsten zur wissenschaftstheoretischen Rechtfertigung der Entscheidungs- und Spieltheorie. Es würde eher noch gegen diese Theorien als dafür sprechen.

  3. Performative Selbstwidersprüchlichkeit: Aus den Voraussetzungen der Entscheidungstheorie folgt, dass die Bedingungen für ihre Anwendbarkeit im Normalfall nicht gegeben sind. Dabei handelt es sich um eine unmittelbare aber, wegen ihrer unerfreulichen Botschaft nur selten thematisierte Konsequenz des Satzes von Arrow, wenn man ihn auf multikriterielle Entscheidungsprobleme anwendet.

    Wegen der Wichtigkeit dieses zentralen Problems der Entscheidungstheorie, sei die Argumentation an dieser Stelle noch einmal wiederholt: Sofern man überhaupt zugesteht, das nicht alle Präferenzen über alle Gegenstände oder "Güterbündel" sofort da sind, sondern dass zumindest einige Präferenzen erst aus anderen gebildet werden, tritt das an folgendem Beispiel veranschaulichte Problem auf:

    Jemand möchte einen Kühlschrank kaufen, weiß aber nicht, welches von mehreren zur Auswahl stehenden Modellen für ihn oder sie das geeignetste ist. Die Person möchte, dass der Kühlschrank billig, energiesparend und zuverlässig ist. Hinsichtlich jeder dieser Kriterien oder auch "Dimensionen" könnte user Käufer bzw. unsere Käuferin die Kühlschränke in der präferierten Weise anordnen. Aber bei dem Versuch eine Präferenzordnung über die Kühlschränke zu bilden, die alle drei Dimensionen auf einmal berücksichtigt, zeigt der Satz von Arrow, dass sich im Allgemeinen keine Präferenzordnung finden lässt, die noch allen Axiomen genügt, die per Definition für Präferenzen gelten müssen.

    Da solche multikriteriellen Entscheidungsprobleme eher die Regel als die Ausnahme sein dürften, heißt das, dass aus den Grundannahmen (Axiomen) der Entscheidungstheorie folgt, dass in vielen in der Praxis auftretenden Entscheidungssituationen eben diese Grundannahmen nicht gelten können bzw. das eine widerspruchsfreie Anwendung der Entscheidungstheorie oft nicht möglich ist.

    Wie bei der Sozialwahltheorie kann man dann eine Vielzahl möglicher Auswege finden, die aber in der ein- oder anderen Weise eine Aufweichung der Axiome erfordern, was zeigt, dass man die Gültigkeit dieser Axiome eben nicht dogmatisch voraussetzen darf.

Fasst man diese drei Punkte zusammen, so haben wir es bei der Entscheidungs- und Spieltheorie also mit einer Theorie zu tun, die erstens auf unrealistischen Annahmen, und zweitens auf nicht messbaren Größen beruht, und die drittens darüber hinaus noch partiell selbstwidersprüchlich ist! Es ist offensichtlich, dass eine Theorie, die diese drei Eigenschaften vereint, eine ziemlich miserable Theorie ist.

2. Eine Frage der Haltung order warum schlechte Theorien so entschieden verteidigt werden

Angesichts dieser grundlegenden Schwächen der Entscheidungstheorie sollte man eigentlich meinen, dass sie von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die menschliches Entscheidungsverhalten erklären oder richtige Empfehlungen für menschliches Handeln geben wollen, nur mit spitzen Fingern angefasst wird, oder dass zumindest auch andere Alternativen für die Erklärung menschlichen Handelns in Erwägung gezogen werden, die man in der Psychologie, Soziologie und Wirtschaftsgeschichte finden könnte. Aber weit gefehlt. Nach meinen Erfahrungen wird dieser Ansatz zumindest in der analytischen Philosophie und in der Rational Choice-Schule in den Sozialwissenschaften nicht selten mit der Heftigkeit eines Glaubensbekenntnisses vertreten und die Kritik daran zuweilen eher mit Empörung gekontert statt mit Argument widerlegt.

Warum das so ist, dafür habe ich keine rechte Erklärung. Es mag ein psychologisches Phänomen sein, dass man die Dinge, an die man glaubt, aber die man nicht gut begründen kann, gerade deshalb mit umso größerer Heftigkeit verteidigt. Es kann aber in diesem speziellen Fall auch daran liegen, dass es aus kontingenten historischen Gründen zu einer Art Sektenbildung in Form des "Rational Choice"-Lagers gekommen ist, und das es auch hätte anders kommen können.

3. Schlussfazit

In jedem Fall hoffe ich, dass die hier (nachgereichte) Zusammenfassung der schon in den Grundlagen der Entscheidungstheorie steckenden Schwächen, diejenigen, die es lesen, davon abhält, sich dem Lager der "Raional Choice"-Schule oder verwandten Strömungen in der analytischen Philosophie anzuschließen, die behaupten, dass Erklärungen menschlichen Verhaltens nur oder im Wesentlichen mit mathematischen Modellen möglich sind.

Die mathematische Entscheidungs- und Spieltheorie ist auf Grund der hier zusammengefassten Schwächen so schlecht aufgestellt, das man getrost davon ausgehen kann, dass sie in den allermeisten Fällen zur Erklärung empirisch vorfindlichen menschlichen Handelns nicht mehr als ein kleines Bruchstück beitragen kann.


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