A. Diskussion der Neu­mann-Morgen­stern­schen Nut­zen­theorie

Nachdem in der letzten Vorlesung die Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie mathematisch entwickelt worden ist, soll in dieser Vorlesung ihr Sinn und ihre Bedeutung diskutiert werden. Bei formalen Beweisführungen wie dem Beweis aus der letzten Vorlesung, der zeigt, dass man zu einer beliebigen Menge von Präferenzen mit Hilfe des Konstruktionsmittels der Lotterien eine kardinale Nutzenfunktion konstruieren kann, die dem Erwartungsnutzenprinzip genügt, tut man nämlich immer gut daran sich Klarheit darüber zu verschaffen, was dabei inhaltlich bewiesen wurde und unter welchen Voraussetzungen es bewiesen wurde. Um diese Frage zu klären werden wir im Folgenden verschiedene Lesarten des Beweises diskutieren.

1. Unterschiedliche Lesarten der Neu­mann-Morgen­stern­schen Nutzentheorie

1.1 NM als Beweis der Existenz kardinaler Nutzenfunktionen

Eine mögliche Lesart wäre die, dass uns die Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie zeigt, dass wir immer eine kardinale Nutzenskala verwenden dürfen. In dieser Hinsicht scheint der Beweis ein ebenso verblüffendes wie zwingendes Resultat zu liefern. Verblüffend erscheint das Resultat, weil wir ja keineswegs von vornherein die Existenz von „Präferenzintervallen“ angenommen haben, wie Resnik das zu Anfang des 4. Kapitels seines Buches in wenig plausibler Weise tut [S. 82]resnik:1987. Vielmehr wurde für die Konstruktion der kardinalen Nutzenfunktion nach Neumann-Morgenstern zunächst nur die Existenz einer wohlgeformten Präferenzrelation vorausgesetzt, sowie die Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung, die als solche noch nichts darüber aussagen, wie man mit Nutzenwerten umgehen kann. Die Konstruktion der kardinalen Nutzenfunktion erfolgte dann allein durch Indifferenzvergleiche zwischen Gütern, wobei zu der Menge der Güter allerdings auch die besondere Art von gedachten Lotterien gehören muss, von der Neumann und Morgenstern in ihrer Theorie Gebrauch machen.

Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass der Beweis nicht ausschließt, dass wir auf der Menge der Lotterien eine Nutzenfunktion konstruieren können, die nicht die Erwartungsnutzeneigenschaft hat und die sich nicht positiv linear in die auf dieser Menge konstruierte Nutzenfunktionen mit Erwartungsnutzeneigenschaft transformieren lässt.

Aber selbst, wenn sich dieses Problem noch irgenwie lösen ließe, kommt hinzu, dass die Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie so voraussetzungsarm eben doch nicht ist. Wir können eine kardinale Nutzenfunktion konstruieren, aber nur wenn die Präferenzrelation „reich“ genug dafür ist, d.h. wenn ihr Gegenstandsbereich alle diejenigen Lotterien umfasst, die nicht weiter reduziert1Siehe die Bedingung der Reduzierbarkeit auf Seite . werden können.

Lehnt man kardinale Nutzenfunktionen mit dem Argument ab, dass die Zuweisung von Nutzenwerten, die mehr ausdrücken als eine bloße Ordnungsrelation, willkürlich und empirisch nicht zu rechtfertigen ist, dann kann auch die Neuman-Morgensternsche Nutzentheorie kein wirklich überzeugendes Gegenargument liefern, denn anstelle der willkürlichen Zuweisung von Zahlenwerten werden jetzt nicht minder willkürlich Indifferenzbeziehungen zwischen einer neukonstruierten Klasse gedachter Güter (den Lotterien) und den Grundgütern angenommen. Das Rechtferigungsproblem der kardinalen Größen ist damit nur besser „versteckt“ aber nicht gelöst worden. Nach wie vor kann man also nur in solchen Kontexten von der Existenz kardinaler Nutzenfunktionen ausgehen, in denen sich die Zuweisung von Werten auf einer Intervallskala empirisch rechtfertigen lässt. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn wir es mit Geldwerten zu tun haben und wenn wir Grund zu der Annahme haben, dass die Geldwerte in dem ensprechenden Kontext einen konstanten Grenznutzen haben.2Vergleiche auch die Ausführungen auf Seite .

In anderen Fällen, in denen kardinale Nutzenwerte zwar nicht präzise messbar sind, aber in denen sich die “Intensität” von Präferenzen in irgendeinerweise bemerkbar macht, kann eine kardinale Nutzunktion immmer noch komparativ gesehen die bessere Annährung an die Wirklichkeit darstellen als eine ordinale Nutzenfunktion. Dies gilt zumindest dann, wenn die Ungenauigkeit bei der Feststellung der kardinalen Nutzenwerte in der entsprechenden Anwendungssituation eher vertretbar erscheint als der Wegfall der Informationen über die Intensität der Präferenzen bei der Verwendung ordinaler Nutzenfunktionen.

Dass die Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie den Bereich der Anwendbarkeit des kardinalen Nutzens nicht erweitern kann, sollte uns nicht verwundern. Es wäre im Gegenteil sehr sonderbar, wenn man das empirische Problem der Metrisierung und Messung von Präferenzen durch eine rein theoretisch-mathematische Konstruktion lösen könnte.

Erwartungsnutzen statt Erwartungswert

Im Zusammenhang mit der Neumann-Morgensternschen Nutzentheorie wird oft eine Diskussion darüber geführt, wie sich Geldwerte zu Nutzenwerten verhalten [S. 85ff.]resnik:1987. Der Vorteil von Geldwerten gegenüber bloß ordinalen Nutzenwerten besteht darin, dass man mit Geldwerten rechnen kann, was mit ordinalen Nutzenwerten nur sehr begrenzt möglich ist. Das bekannte Problem, wenn wir mit Geldwerten anstatt mit Nutzenwerten rechnen, besteht darin, dass Geldwert und Nutzen einander keinesfalls immer entsprechen müssen, z.B. weil der Grenznutzen des Geldes nicht konstant ist. Zudem sind viele Entscheidungssituationen denkbar, in denen die Ergebnisse nicht sinnvoll als monetäre Kosten oder Gewinne beziffert werden können. Sofern es überhaupt möglich ist eine kardinale Nutzenfunktion anzugeben, erscheint daher der Rückgriff auf Nutzenwerte anstelle von Geldwerten zunächst die sinnvollere Alternative zu sein. Dieser scheinbare Vorteil des kardinalen Nutzens gegenüber dem Geldwert wird jedoch in der Regel dadurch zunichte, dass sich kardinale Nutzenwerte sehr viel schlechter präzise messen lassen als Geldwerte. (Die theoretische Konstruktion des kardinalen Nutzens aus Lotterien, wie sie von von Neumann und Morgenstern vorgenommen wird, kann kaum eine zuverlässige Grundlage für empirische Messungen abgeben.) Zudem ist auch der kardinale Nutzen oft schlicht nicht vorhanden. Auch wenn Geldwerte unter Umständen nur lose an den Nutzen geknüpft sind, den jemand aus einem bestimmten Geldbetrag beziehen kann, ist das Rechnen mit Geldbeträgen, wo dies möglich ist, daher in der Regel die sehr viel zuverlässigere Alternative. Nicht nur aus didaktischen Gründen stützt beispielsweise Kaplan daher (anders als Resnik) den Aufbau der Entscheidungstheorie von vornherein nur auf Lotterien über Geldwerte []kaplan:1996. Alles in allem kann man festhalten: Welche konzeptionellen Probleme auch immer mit dem Geldwert bzw. dem erwarteten Geldwert verknüpft sind, sie können durch die Einführung von Nutzenwerten statt Geldwerten auch nicht immer befriedigender gelöst werden.

1.2 NM als Beweis des Erwartungsnutzens

Eine weitere Lesart der Neumann-Morgensternschen Nutzentheorie besagt, dass die Neumann-Mor­gen­sternsche Nutzentheorie uns die Gültigkeit des Erwartungsnutzenprinzips auch bezogen auf Einzelfälle beweist. Sie liefert damit eine stärkere Rechtfertigung des Erwartungsnutzens als der Hinweis auf das Gesetz der großen Zahlen und empirisch-statistische Überlegungen (siehe Kapitel , Seite ff.). Auch hier gilt die Einschränkung, dass das Resultat nur unter den vorausgesetzten „Bedingungen“ (siehe Seite ) bewiesen wurde. Anders als bei der ersten Lesart (Seite ), die die Konstruktion kardinaler Nutzenfunktionen hervorhebt, liefert die Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie bei dieser Lesart auch mit dieser Einschränkung noch ein gehaltvolles Resultat. Denn die Rechtfertigung des Erwartungsnutzenprinzips (auch für den Einzelfall) erübrigt sich keineswegs von selbst in den Kontexten, in denen wir mit Geldwerten zu tun haben oder kardinalen Nutzen annehmen dürfen. Was die Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie zeigt ist, dass die Verletzung des Erwartungsnutzenprinzips nicht nur (auf lange Sicht) zu einer Minderung des Gewinns führt, sondern auch Ausdruck inkonsequenten Verhaltens ist. Der Nachweis dieser Inkonsequenz funktioniert aber nur dort, wo wir genügend „reiche“ Präferenzen annehmen dürfen. Ist das aber nicht der Fall, dann können wir gegenüber Abweichungen vom Erwartungsnutzenprinzip auch nicht mit Hinweis auf Neumann-Morgenstern den Vorwurf der Inkonsequenz erheben.3Vergleiche dazu auch die frühere Diskussion zwischen Rawls und Harsanyi, Kapitel , Seite ff. .

1.3 Der Erwartungsnutzen in der Empirie

Man kann die Entscheidungstheorie in zweierlei Weise verstehen: Als empirische Theorie, die mehr oder weniger genau beschreibt, wie sich Menschen in Entscheidungssituationen verhalten, und die zugleich erklärt, weshalb sie sich so entscheiden, wie sie es tun, nämlich, weil sie ihren Nutzen maximieren wollen. Oder als normative Theorie (im instrumentellen, nicht im moralischen Sinne4Instrumentell-normative Theorien sind Theorien, die uns sagen, wie wir ein gegebenes Ziel am besten erreichen können, die aber nichts darüber aussagen, ob das Ziel es wert ist verfolgt zu werden. (In der Terminologie der Moralphilosophie Immanuel Kants könnte man sagen, sie befassen sich ausschließlich mit „hypothetischen Imperativen“.) Moralisch-normative Theorien sind dagegen philosophische Theorien, die etwas darüber aussagen, welche Ziele und Zwecke im Leben wertvoll sind oder welche Handlungen man ausführen bzw. unterlassen muss unabhängig von irgendwelchen Zielen und Zwecken (deontologischer Ansatz).), die uns lehrt, wie wir richtige Entscheidungen treffen sollen, um einen vorgegebenen Zweck so gut wie möglich zu erreichen.

Die Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie konkretisiert die Entscheidungstheorie in dem Sinne, dass sie uns zeigt, dass nutzenmaximierende Entscheidungen unter der Voraussetzung vorgegebener und genügend reicher Präferenzen dem Prinzip des Erwartungsnutzen folgen (sollten). Wenn man diese Theorie als empirisch-deskriptive Theorie auffassen will (oder größeren empirisch-deskriptiv verstandenen ökonomischen Theoriegebilden zur Grundlage geben will), dann stellt sich die Frage, ob sie menschliches Entscheidungsverhalten richtig oder falsch beschreibt.

Zu dieser Frage haben Daniel Kahneman und Amos Tversky eine Reihe von berühmten Experimenten durchgeführt. Eins läuft so ab: Die Probanden sollen ein Entscheidungsproblem mit folgender Hintergrundgeschichte lösen:

“Sie sind Gesundheitsminister und wissen, dass eine unbekannte Grippewelle in unabsehbarer Zeit Ihr Land heimsuchen wird, die voraussichtlich 600 Menschen das Leben kosten wird. Gegen diese Krankheit sind zwei verschiedene Präventionsprogramme entwickelt worden, über deren Anwendung Sie entscheiden sollen. Ihnen werden folgende Präventionsprogramme vorgeschlagen.” [S. 43]fritz:2002

Die Probanden sind bei diesem Experiment in zwei Gruppen unterteilt. Die erste Gruppe erhält folgende Information über die Wirksamkeit der Präventionsprogramme [S. 44]fritz:2002:

  • Bei Anwendung des Präventionsprogramms A werden 200 Personen gerettet.
  • Bei Anwendung von Programm B gibt es eine Wahrscheinlichkeit von 1/3, dass 600 Menschen gerettet werden und eine Wahrscheinlichkeit von 2/3, dass niemand gerettet wird.

Der zweiten Gruppe wird dagegen genau dieselbe Information in der folgenden Form mitgeteilt:

  • Bei Anwendung des Programms C werden 400 Menschen sterben.

  • Bei Anwendung des Programms D gibt es eine Wahrscheinlichkeit von 1/3, dass niemand sterben muss und eine Wahrscheinlichkeit von 2/3, dass 600 Menschen sterben müssen.

Nicht nur die Informationen sind für beide Gruppen diesselben, sondern auch der Erwartungsnutzen beider Programme ist derselbe, da sowohl bei Anwendung von Programm A als auch bei der Anwendung von Programm B nach dem Erwartungsnutzenprinzip der Tod von 200 Menschen zu erwarten ist. Würden sich die Probanden im Sinne der Erwartungsnutzenhypothese verhalten, dann müssten sie erstens zwischen beiden beiden Programmen indifferent sein, d.h. bei einer hinreichend großen Zahl von Probanden müssten sich ca. 50% für Programm A (bzw. C) und 50% für Programm B (bzw. D) entscheiden. Und zweitens dürfte es insbesondere keine Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Gruppe von Probanden geben.

Kahneman und Tversky stellten jedoch fest, dass in der ersten Gruppe von Probanden 72% das Programm A wählten, während sich in der zweiten Gruppe nur 22% für das entsprechende Programm C entschieden. Das Erwartungsnutzenprinzip ist damit als empirische Hypothese über menschliches Entscheidungsverhalten widerlegt. Andere Experimente bestätigen diesen Befund.

Man könnte einwenden, dass von diesem Experiment die Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie als empirische Theorie nicht widerlegt ist, weil in diesem Fall eine der Bedingungen ihrer Anwendbarkeit (genügend reiche Präferenzstruktur) möglicherweise nicht gegeben ist. Dennoch kommt sie durch dieses Experiment in Schwierigkeiten, denn die Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie setzt mit der Reduzierbarkeitsbedingung (siehe Seite ) implizit voraus, dass Menschen indifferent gegenüber unterschiedlichen Repräsentationen desselben Entscheidungsproblems sind. Genau das ist aber, wie Kahnman und Tversky eindrucksvoll zeigen konnten, nicht der Fall. Vielmehr hängt das menschliche Entscheidungsverhalten – wie es übrigens auch die Alltagserfahrung nahelegt – sehr wesentlich davon ab, wie ein Entscheidungsproblem dargestellt wird („Framing-Effekt“).

Es ist denkbar, dass das Experiment anders ausgefallen wäre, wenn man auf Probanden zurückgegriffen hätte, die zuvor in der Entscheidungstheorie instruiert worden sind. Aber dann hieße das immer noch, dass die Entscheidungstheorie empirisch-deskriptiv nur solche Entscheidungssituationen richtig erfasst, in denen „professionelle“ Entscheider die Entscheidungen treffen, nicht aber generell alle Entscheidungssituationen.

1.4 NM als Rationalitätskriterium

Wenn man die Neumann-Mor­gen­stern­sche Nutzentheorie weniger als empirisch-deskriptive denn als normative Theorie liest, dann besagt sie, dass man, will man rationale Entscheidungen treffen, sich bei Entscheidungen unter Risiko an das Erwartungsnutzenprinzip halten sollte. Rationalität wird dabei wie immer in diesem Zusammenhang im Sinne der spärlichen Definition David Humes als „die Fähigkeit zu gegebenen Zwecken die geeigneten Mittel zu finden“ verstanden. Dieser Rationalitätsbegriff ist nicht zu verwechseln mit dem in der kontinentalen Tradition üblichen, vor allem durch Kant geprägten umfassenden Vernunftbegriff, der auch eine Fähigkeit der Vernunft zur Erkenntnis des moralisch Richtigen unterstellt.

Aber auch im Sinne der rein instrumentell verstandenen Rationalität ist die Frage zu stellen, ob rationale Entscheidungen stets dem Prinzip der Erwartungsnutzens gehorchen müssen. In dieser Hinsicht ist es wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass die Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie lediglich zeigt, dass wenn genügend reichhaltige und wohlgeformte Präferenzen vorhanden sind, rationale Entscheidungen nach Maßgabe des Erwartungsnutzens getroffen werden müssen. Was sie aber nicht beweist und auch nicht beweisen kann ist, dass man stets über eine entsprechend reiche Präferenzrelation verfügen sollte bzw. dass es, wenn man nicht darüber verfügt, rational wäre, sich gefälligst eine zuzulegen. Wenn die Konstruktion kardinaler Präferenzen nach Neumann-Morgenstern daran scheitert, dass die Präferenzen nicht reichhaltig genug sind (indem sie nicht auch alle denkbaren Lotterien einbeziehen), dann kann man nicht mit Berufung auf den Neumann-Morgensternschen Beweis den Vorwurf der Irrationalität erheben. Dieser Beweis zeigt nur, dass unter bestimmten und bestenfalls teilweise selbstverständlichen Voraussetzungen ein bestimmtes Verhalten rational ist. Er zeigt nicht, dass die Erfüllung der Voraussetzungen des Beweis selbst eine Forderung der Rationalität ist.5Dasselbe gilt nicht nur für Neumann-Morgenstern, sondern für die Theorien des rationalen Handelns überhaupt. Z.B. kann uns die Theorie sagen, wie wir wählen sollten, wenn wir transitive Präferenzen haben, aber sie (d.h. zumindest die hier entwickelte Theorie) kann uns nichts darüber sagen, wie wir uns entscheiden sollten, wenn wir keine transitiven Präferenzen haben. Insbesondere kann sie nicht sagen, dass wir transitive Präferenzen haben sollten, denn das ist eine Voraussetzung nicht aber ein Ergebnis der Theorie.

Nun könnte man aber fragen, ob es nicht andere Gründe dafür gibt, die Voraussetzungen für den Beweis, insbesondere die Möglichkeit der Ausdehnung der Präferenzordnung auf eine vollständige Menge von Lotterien (siehe Seite ), als eine Forderung der Rationalität zu akzeptieren. Man könnte sich z.B. darauf berufen, dass es immer möglich sein muss, bei zwei Gütern zu entscheiden, welches man dem anderen vorzieht, oder ob man beide Güter gleich hoch schätzt. Kann man sich zwischen zwei Gütern nicht entscheiden, so bedeutet dies nichts anderes, als das man zwischen beiden Gütern indifferent ist. Also enthält die Annahme der Ausdehnbarkeit einer gegebenen Präferenzordnung auf die vollständige Menge der Lotterien über alle in der Präferenzordnung vorkommenden Güter keine ungewöhnlichen oder unzumutbaren Voraussetzungen.

Ein (noch relativ leicht ausräumbares) Problem kann jedoch dadurch entstehen, dass wir uns unter Umständen nur deshalb nicht zwischen zwei Gütern entscheiden können, weil wir nicht verstehen, was die Güter beinhalten. Wenn man diese Art von Unsicherheit oder Unentschlossenheit im Sinne des eben geführten Arguments als Indifferenz interpretiert, dann kann das zur Folge haben, dass wir Indifferenz zwischen zwei Gütern annehmen, die eindeutig unterschiedlichen Wert haben. Man könnte sich folgendes Beispiel vorstellen: Jemand wird vor die Wahl gestellt entweder einen Lottoschein auszufüllen, bei dem er eine Chance von ca. 1:14.000.000 hat, sechs Richtige zu bekommen, oder sich mit demselben Einsatz an einer Lotto-Tippgemeinschaft zu beteiligen, deren Gewinnchancen sich nach einem hochkomplizierten und kaum durchschaubaren Schema richten, das von einer kundigen Mathematikerin erfunden wurde, der die Tippgemeinschaft gehört. Angenommen unser Lotto-Spieler hat keine klare Vorstellung davon, wie gut seine Gewinnchancen bei der Beteiligung an der Tippgemeinschaft sind. Dann müssten wir nach der zuvor geführten Argumentation annehmen, dass der Spieler indifferent zwischen einem selbstausgefüllten Schein und der Tippgemeinschaft ist‚6Vgl. dazu auch die früheren Ausführungen zum sogenannten “Indifferenzprinzip” Kapitel Seite auch wenn die Gewinnchancen bei der Tippgemeinschaft objektiv niedriger sind (da auch die Betreiber einer Tippgemeinschaft ja von irgendetwas leben müssen).

Das Beispiel führt auf schöne Weise vor Augen, dass Unsicherheit bzw. Unentschlossenheit eben doch nicht dasselbe ist, wie Indifferenz. Im Zusammenhang mit der Neumann-Morgensternschen Nutzentheorie stellt diese Art epistemischer Unsicherheit jedoch nicht unbedingt ein gravierendes Problem dar, da man allzu komplizierte Lotterien auf Grund der Reduzierbarkeit von Lotterien immer soweit umformen und vereinfachen kann, bis man die Chance für jeden in einer verschachtelten Lotterie vorkommenden Gewinn mit einer ganz bestimmten Prozentzahl angeben kann, was verständlich genug sein dürfte.

Aber es gibt andere Beispiele, wo die Sache komplizierter wird. Nehmen wir an, jemand bekomme die Gelegenheit an einem Fussballtippspiel zur EM 2008 zu wetten, ob am 16. Juni Deutschland oder Österreich gewinnt. Gewinnt er die Wette, bekommt er € 100 Euro, sonst nichts. Nun nehmen wir weiterhin an, der wettende Fußballfan hat gute Gründe davon auszugehen, dass es wahrscheinlicher ist, dass Deutschland gewinnt, als dass Österreich gewinnt. Er wird also in jedem Fall auf Deutschland wetten. Wenn man die Wette als ein Gut betrachtet, dann stellt sich die Frage: Welche Neumann-Morgensternschen Lotterie der Form L(a, 100 €, 0 €) ist indifferent zu dieser Wette? Das Problem besteht darin, dass jede Lotterie mit \(a > 0.5\) in Frage käme. Aber sobald wir uns für irgend eine bestimmte Lottie entscheiden, also z.B. \(a = 0.8\) dann stellen wir implizit auch die Behauptung auf, dass die Fussballwette mehr wert ist als die Lotterie mit \(a = 0.75\), eine Bahuptung für die jedoch keine hinreichenden Gründe vorhanden sind, da unser Fussballfan nur Gründe für die vergleichsweise vage Annahme hat, dass Deutschland besser als Österreich ist, aber nicht dafür, dass Deutschlands Gewinnchancen auch mehr als 75% betragen. Man könnte versuchen, dass Problem dadurch zu lösen, dass man \(a\) marginal größer als \(0.5\) wählt, also \(a = 0.5 + \epsilon \). Aber dann haben wir implizit die Behauptung aufgestellt, dass die Fussballwette weniger wert ist als die Lotterie mit \(a = 0.55\), obwohl wir dafür ebensowenig hinreichende Gründe haben. Mark Kaplan, von dem ich dieses Argument adaptiert habe, bezeichnet die dogmatische Forderung, in jedem Fall irgendeinen bestimmten Wahrscheinlichkeitswert zuzuweisen, deshalb auch recht treffend als „the sin of false precision“ [S. 23]kaplan:1996.7Das Problem ist ähnlich wie diejenigen, die das Indifferenzprinzip aufwirft (siehe Kapitel , Seite ff.).

Akzeptiert man diese Einwände, dann bedeutet das, dass die Möglichkeit die Entscheidungstheorie normativ, d.h. als Anleitung zum richtigen Ent"-scheiden bei gegebener Zielsetzung, einzusetzen, wesentlich davon abhängt, ob bestimmte empirische Voraussetzungen gegeben sind. Zu diesen Voraussetzungen gehört, dass wir uns einigermaßen über den Wert der erzielbaren Gewinne (resp. „Ereignisse“ oder „Güter“) im Klaren sind, und dass die vorkommenden Unsicherheiten von solcher Art sind, dass wir einigermaßen präzise Wahrscheinlichkeitswerte dafür angeben können. Dementsprechend gibt die formale Entscheidungstheorie selbst dann nicht das Modell für Rationalität oder rationales Handeln schlechthin an, wenn wir unter Rationalität allein die „instrumentelle Rationalität“ verstehen. Man kann lediglich sagen, dass die formale Entscheidungstheorie den Begriff „instrumenteller Rationalität“ in denjenigen Fällen konkretisiert, in denen die Voraussetzungen für ihre Anwendbarkeit gegeben sind.

1.5 Mögliche Auswege?

Soeben wurde noch einmal verdeutlicht, dass die Neumann-Morgen­sternsche Nutzen­theorie ihr Resultat (Existenz einer kardinalen Nutzenfunktion, die dem Erwartungsnutzenprinzip gehorcht) nicht bloß aus selbstverständlichen Voraussetzungen ableitet von der Art, dass man Lotterien mit höheren Gewinnen oder besseren Gewinnchancen bevorzugen soll, sondern dass sie auch von recht anspruchsvollen empirischen Voraussetzungen abhängt. Diese Feststellung ist insofern ernüchternd, als damit der Anwendungsbereich der entsprechenden Entscheidungstheorie doch empfindlich eingeschränkt wird, was umso bedauerlicher ist als die Techniken der formalen Entscheidungstheorie dort, wo man sie anwenden kann, sehr leistungsfähig sind.

Will man den Anwendungsbereich der Entscheidungstheorie ausweiten, so kann man versuchen, die Entscheidungstheorie auf weniger anspruchsvolle Voraussetzungen zu gründen. Wenn es gelingt ähnlich starke Resultate aus vergleichsweise schwächeren Voraussetzungen abzuleiten, dann wäre das in jeder Hinsicht ein Gewinn für die Entscheidungstheorie. In der Tat ist ein großer Teil der wissenschaftlichen Diskussion der Konstruktion von Erweiterungen und Alternativen gewidmet, die geeignet sind, ihren Anwendungsbereich auszuweiten. Hier soll nur an einem Einzelbeispiel angedeutet werden, wie das funktionieren kann. Das Beispiel betrifft nicht die Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie im Speziellen, sondern den Präferenzbegriff als Grundlage der Entscheidungstheorie.

Wir erinnern uns, dass eine der Bedingungen für wohlgeformte Präferenzen (siehe Seite ) darin bestand, dass die Präferenzen zusammenhängend sein müssen, d.h. für jedes Paar \(x, y\) aus der Menge der möglichen Resultate einer Entscheidungssituation gilt entweder \(x \succ y\) oder \(y \succ x\) oder \(x \sim y\). Damit ist ausgeschlossen, dass es jenseits der Indifferenz (\(\sim \)) so etwas wie Unentschlossenheit oder Unsicherheit bei Präferenzen gibt, was im Umkehrschluss wiederum heisst: Die auf diesen Präferenzbegriff gegründete Entscheidungstheorie ist überhaupt nur dort anwendbar, wo diese axiomatische Voraussetzung empirisch geben ist, d.h. wo keine Unentschlossenheit in dem zuvor anhand einiger Beispiele diskutierten Sinn vorkommt. Kaplan unternimmt nun einen Versuch eine Präferenzrelation zu definieren, die die Möglichkeit dieser Art von Unentschlossenheit mit einbezieht []kaplan:1996. Wie muss er dabei vorgehen, und was muss er dafür leisten? Damit dieses Vorhaben gelingt, muss zweierlei geleistet werden: Zunächst muss ein Axiomensystem aufgestellt werden, in dem in irgendeiner Form auch so etwas wie „Untentschlossenheit“ enthalten ist. Dann muss gezeigt werden, dass man auch aus diesem Axiomensystem möglichst gehaltvolle Gesetze einer Entscheidungstheorie ableiten kann. Wir werden auf die Einzelheiten von Kaplans Konstruktion nicht eingehen, sondern nur zeigen, wie er das Zusammanhangsaxiom, das wohlgeformte Präferenzen erfüllen müssen, so abwandelt, dass es auch einen gewissen Grad von Unentschlossenheit zulässt. Kaplan baut seine Entscheidungstheorie etwas anders auf als Resnik, indem er – teils aus didaktischen Gründen und der Anschaulichkeit und Einfachheit halber – von vornherein von der Zuweisung von Geldwerten zu bestimmten Ergebnissen (die er „well mannered states of affaires“ nennt) ausgeht, aber dieses Detail ist in unserem Zusammenhang nicht wesentlich. Er definiert den „moderaten Zusammenhang“ von Präferenzen nun folgendermaßen:

Moderater Zusammenhang (vgl. [S. 13]kaplan:1996): Die Präferenzen sind charakterisiert durch eine nicht-leere Menge von Zuweisungen von Geldwerten zu allen Ergebnissen, wobei gilt:

  1. Es herrscht Indifferenz zwischen \(A\) und \(B\) (\(A \sim B\)), wenn jede der Zuweisungen \(A\) denselben Wert zuweist wie \(B\).
  2. \(A\) wird \(B\) vorgezogen (\(A \succ B\)), wenn keine der Zuweisungen \(B\) einen größeren Wert zuweist als \(A\), und wenn wenigstens eine der Zuweisungen \(A\) einen größeren Wert zuweist als \(B\).

Zu Erläuterung: Die Menge der Zuweisungen ist eine Menge von Abbildungen von Geldwerten zu Gütern. Jede dieser Abbildungen entspricht dabei einer Nutzenfunktion im Sinne der orthodoxen Entscheidungstheorie, wie wir sie in dieser Vorlesung kennen gelernt haben. Diese Konstruktion kann zunächst verblüffend erscheinen. Denn wenn wir „Unentschlossenheit“ modellieren wolllen, dann – so sollte man meinen – müssten wir doch eigentlich versuchen mit spärlicheren Präferenzrelationen anzusetzen, die nicht jedem Paar von Gütern bzw. Ereignissen \(A‚B\) zwingend eine der Relationen \(\sim , \succ , \prec \) zuweisen. Aber darin besteht gerade der Trick: Anstatt (auf welche Weise auch immer) eine spärlichere Präferenzrelation zu konstruieren, arbeit Kaplan mit einer Menge von einer Nutzenfunktion vergleichbaren Abbildungen („Zuweisungen“), die teilweise miteinander übereinstimmen, teilweise aber auch voneinander abweichen können. Diese Abweichungen zwischen den verschiedenen Quasi-Nutzenfunktionen erlauben es, so etwas wie Unentschlossenheit zu erfassen. Wollte man etwa die Präferenzen des Fussballfans erfassen, der überzeugt ist, dass Deutschland größere Gewinnchancen hat als Österreich, aber unentschlossen ist, wenn es darum geht, um wieviel die Gewinnchancen Deutschlands größer sind als die Österreichs, dann würde seine Menge der Zuweisungen alle solchen Zuweisungen enthalten, die der Fussballwette einen mindestens gleichgroßen Wert zuweisen, wie der Lotterie L(0.5, 100 €, 0 €). Damit gilt nach dem Axiom des „moderaten Zusammenhangs“, dass die Fußballwette der Lotterie L(0.5, 100 €, 0€) vorgezogen wird, was zum Ausdruck bringt, dass unser Fussballfan einen Gewinn seiner Wette für wahrscheinlicher hält als einen Verlust. Zugleich gilt aber auch, dass die Fussballwette zu keiner bestimmten Lotterie indifferent ist, was eben die Unsicherheit des Fans bezüglich der Frage zum Ausdruck bringt, um wieviel die Gewinnchancen größer als die Verlustchancen sind.

Wie Kaplan aus seinem Axiomensystem eine gehlatvolle Entscheidungstheorie ableitet, kann hier nicht mehr ausgeführt werden. Soviel sollte jedoch deutlich geworden sein, dass man dem Problem der eingeschränkten Anwendbarkeit bis zu einem gewissen Grade durch andere, möglicherweise liberalere Axiomatisierungen der Entscheidungstheorie begegnen kann. Allerdings bleibt auch bei alternativen Axiomatisierungen die Anwendbarkeit der Entscheidungstheorie immer auf diejenigen empirischen Entscheidungssituationen begrenzt, in denen wir die Gültigkeit der Axiome voraussetzen können. Es gibt keine Entscheidungstheorie, die schlechterdings alle Entscheidungssituationen erfassen könnte, so wie z.B. in den Naturwissenschaften die Kinemathik alle Bewegungen von Körpern im Raum erfassen kann. Es ist überhaupt einer der Unterschiede von Natur- und Gesellschaftswissenschaften, dass die formalen Theorien in den letzteren immer nur einer mehr oder weniger begrenzte Reichweite haben, was vermutlich in der Natur des Gegenstandes liegt.

2. „Paradoxien“ der Nutzentheorie

Wie wir eben gesehen haben, gibt es eine Reihe ernst zu nehmender Einwände gegen Entscheidungs- und Nutzentheorie, die jedoch nicht dazu führen, dass diese Theorie gänzlich verworfen werden müsste, die es aber sehr wohl erlauben ihren – manchmal uneingestandenen – Voraussetzungsreichtum herauszuarbeiten und ihren Anwendungsbereich auf diejenigen Entscheidungsprobleme einzuschränken, zu deren Behandlung sie sich tatsächlich eignet. Viel häufiger als deratige Einwände wird in der Fachliteratur im Zusammenhang mit der Nutzen- und Entscheidungstheorie eine Reihe sogenannter Paradoxien diskutiert. Eine Paradoxie im strengen Sinne ist eine Aussage, aus deren Wahrheit ihre Falschheit folgt, und aus deren Falschheit wiederum ihre Wahrheit folgt (wie z.B. das berühmte Lügnerparadox, das entsteht, wenn ein Athener sagt: „Alle Athener lügen“). (Ein Paradox ist damit zu unterscheiden von einem einfachen logischen Widerspruch, der nur zur Folge hat, dass eine Theorie oder eine Aussage falsch ist. Wenn z.B. aus der Wahrheit einer Aussage ihre Falschheit folge, aus ihrer Falschheit aber wieder nur ihre Falschheit, dann handelt es sich um eine logisch falsche Aussage, aber nicht um ein Paradox.) Ein Entscheidungsparadox ist eine Entscheidungssituation, in der man mit gleichem Recht widersprüchliche Entscheidungen fordern muss. Eine Entscheidungstheorie, die solche Paradoxien zulässt, hat, wie sich versteht, ein ernstes Problem. Fast alle der im Folgenden diskutierten (vermeintlichen) Paradoxien lassen sich jedoch auflösen. Sie beruhen zum größten Teil auf mehr oder weniger gewollten Missverständnissen der Entscheidungs- und Nutzentheorie. Als Einwände gegen die Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie wiegen sie, meiner Meinung nach, daher sehr viel weniger schwer als die zuvor erörterten Probleme. Ihre Diskussion kann aber ebenso wie die Diskussion von Beispielen dabei helfen, die Entscheidungstheorie besser zu verstehen. Zudem verdeutlichen sie Grenzen der Entscheidungstheorie und mögliche Fallstricke bei ihrer Anwendung.

2.1 Allais’ Paradox

Bei Allais’s Paradox werden – ähnlich wie in dem zuvor vorgestellten Experiment von Kahneman und Tversky8Wobei das Allais-Paradox aber nicht den „Framing“-Effekt erfassen kann!– zwei scheinbar unterschiedliche Entscheidungssituationen mit einander verglichen, in denen eine Person zwischen Alternativen mit unterschiedlichen Gewinnchancen wählen kann []myerson:1991:

Situation A:

  1. Alternative: 12 Mio € mit 10% Chance und 0 € mit 90%
  2. Alternative: 1 Mio € mit 11% Chance und 0 € mit 89%

Situation B:

  1. Alternative: 1 Mio € sicher
  2. Alternative: 12 Mio € mit 10%, 1 Mio € mit 89% und 0 € mit 1%

Viele Menschen werden sowohl in Situation A als auch in Situation B die erste Alternative bevorzugen. Dabei erhöht in Wirklichkeit die Wahl der zweiten Alternative in Situation B den Nutzen in demselben Maße gegenüber der ersten Alternative wie die Wahl der ersten Alternative in Situation A gegenüber der zweiten. Durch die Berechnung des Erwartungswertes kann man sich leicht davon überzeugen, aber diese Feststellung gilt sogar unabhängig davon wie man die Geldwerte auf Nutzenwerte abbildet, sofern man – wie es die Nutzentheorie voraussetzt – denselben Geldwerten dieselben Nutzenwerten zuordnet.

In der Tat handelt es sich hierbei aber nicht wirklich um ein Paradox, sondern nur um das empirische Phänomen, welches schon in dem eben beschrieben Experiment von Kahneman und Tversky zu Tage getreten ist, dass Menschen sich oft nicht rational verhalten. Eine Entscheidungsregel nach Art des Sprichtworts: „Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“, wie sie im Alltagsleben gebräuchlich ist, widerspricht schlicht den Regeln der rationalen Entscheidungstheorie. Die Theorie gerät dadurch insofern nicht in Probleme als sie eindeutig fordern, in Situation A die erste und in Situation B die zweite Alternative zu wählen. Der Widerspruch zu alltagspraktischen Entscheidungsverhalten, das ja oft auch seine guten Gründe hat, legt freilich die Frage nahe, warum sich im Alltag Entscheidungsregeln herausgebildet haben, die zu Entscheidungen führen, die der Theorie zufolge keineswegs optimal sind. Möglicherweise existieren dafür besondere Gründe, die von der Theorie noch nicht erfasst worden sind. Denkbar ist aber auch, dass die Alltagspraxis einfach suboptimal ist oder dass in den meisten Alltagssituationen, die – wie wir gesehen haben – recht anspruchsvollen Voraussetzungen für die Anwendung der Entscheidungstheorie nicht gegeben sind, in welchem Fall gar keine Inkompatibilität zwischen Alltagspraxis und Theorie vorliegt.

Exkurs: Eine evolutionäre Vermutung zur Erklärung vermeintlich irrationalen Entscheidungsverhaltens

Der empirische Befund, auf dem auch Allais’ Paradox beruht, dass Menschen sich häufig, wenn nicht gar typischerweise nicht risikoneutral, sondern am ehesten riskoavers (manchmal auch risikofreudig) verhalten, wirft die Frage auf, warum das so ist. Sollten die Menschen nicht langfristig durch Erfolg und Misserfolg darüber belehrt worden sein, dass Risikoneutralität am ehesten dazu angetan ist, den Erfolg zu maximieren? Hätte nicht schon die Evolution risikoneutrales Verhalten prämieren müssen?

Samir Okasha hat unlängst folgende hypothetische Erklärung für den evolutionären Vorteil von risikoaversem Verhalten vorgeschlagen []okasha:2007: Wir nehmen eine Population von zwei Typen einer Spezies an, Typ A und Typ B. Von beiden Typen soll es 5 Individuen geben. Typ A geht für den Nachwuchs große Risiken ein, so dass sich mit 50%-iger Wahrscheinlichkeit die Population von Typ A auf 10 erhöhen könnte, aber mit ebenso mit 50%-iger Wahrscheinlichkeit auch auf 0 absinken könnte. Typ B ist dagegen genetisch auf ein Verhalten programmiert, dass dazu führt, dass Typ B unter normalen Bedingungen in der nächsten Generation seine Populationsgröße erhält, also wieder 5 Individuen stellt. Man sollte meinen, dass nach dem Erwartungsnutzenprinzip beide Typen gleich erfolgreich sind (weil \(10\cdot 0.5 + 0\cdot 0.5 = 5\)). Samir Okasha macht nun darauf aufmerksam, dass, wenn wir statt der absoltuen Bevölkerungszahl, die relativen Bevölkerungsanteile betrachten, Typ B, der kein Risiko eingeht, erfolgreicher ist, denn Typ B wird im Durchschnitt einen Bevölkerungsanteil von \(0.5 \cdot \frac{1}{3} + 0.5\cdot 1 = \frac{2}{3}\) bekommen, während Typ A \(0.5 \cdot \frac{2}{3} + 0.5 \cdot 0 = \frac{1}{3}\) erhält.

Heisst das, dass risikoaverses Verhalten evolutionär von Vorteil ist? Das gilt höchstens vordergründig, denn wenn wir das Verhalten korrektverweise auf den relativen Bevölkerungsanteil beziehen, dann zeigt sich, dass nur Typ B sich risikoneutral verhält, während Typ A risikofreudig ist. Ganz im Einklang mit der Theorie wird aber das risikoneutrale Verhalten prämiert. Das Gedankenexperiment Okashas widerspricht also nicht dem Erwartungsnutzenprinzip.

Nun könnte man fragen, ob dann denn nicht auch ein beobachtetes risikofreudiges Verhalten „in Wirklichkeit“ bzw. auf einer höheren Ebene dem Erwartungsnutzenprinzip entspricht, sofern man nur die evolutionäre Größe richtig identifiziert, auf die sich das Verhalten bezieht. Dazu ist zweierlei zu sagen: 1) Solange die entsprechenden Größen nicht tatsächlich empirisch identifiziert werden (können), so dass man diese Annahme überprüfen kann, muss die Theorie durch die entsprechenden empirischen Befunde als widerlegt gelten. 2) Selbst wenn dies gelingen würde, dann wäre damit noch nicht der „Framing“-Effekt erledigt, d.h. wir könnten das Ergebnis von Kahnemann und Tverskys Experiment (siehe Seite ) zwar noch in dem Punkt mit der Theorie vereinbaren, dass der Unterschied in der Bewertung der Alternativen innerhalb jeder Vergleichsgruppe erklärt wäre, nicht aber die Diskrepanz im Verhalten zwischen den Vergleichsgruppen, die nicht mehr auf der unterschiedlichen Zusammensetzung des Erwartungswertes, sondern nur auf der unterschiedlichen Formulierung des Fallbeispiels beruht. Hierbei handelt es sich um ein genuin psychologisches Phänomen, das mit dem Erwartungsnutzenprinzip auf keinen Fall mehr in Einklang zu bringen ist.

2.2 Ellsberg Paradox

Ein anderes Paradox ist das Ellsberg Paradox. Es entsteht so: Jemand hat die Wahl zwischen zwei Arten von Glückspielen. Bei dem ersten muss sie eine Kugel aus einer Urne ziehen, die zur Hälfte rote und zur Hälfte schwarze Kugeln enthält, wobei sie gewinnt, wenn sie eine rote Kugel zieht. Bei dem zweiten Spiel muss sie wieder aus einer Urne mit roten und schwarzen Kugeln ziehen und gewinnt wieder, wenn sie eine rote Kugel zieht. Nur weiss sie bei dem zweiten Spiel nicht wieviele rote und schwarze Kugeln die Urne enthält.

Die meisten Menschen würden in einer solchen Situation angeblich das erste Spiel mit bekannter Kugel-Verteilung vorziehen [S. 24]myerson:1991.9Über den bedeutenden Entscheidungstheoretiker Savage geht das Gerücht um, “that the author of what is perhaps the most elegant derivation of expected utility theory [...] reported after careful consideration of the problem in the light of his theory, he would still want to choose I and IV” (wie bei einem echten Gerücht ausnahmsweise mal ohne Quellenangabe ;) ). Ein „Paradox“ entsteht dann, wenn man das Indifferenzprinzip (siehe Kapitel ) voraussetzt, das besagt, dass man bei unbekannten Wahrscheinlichkeiten eine Gleichverteilung voraussetzen soll. Akzeptiert man das Indifferenzprinzip, dann handelt es sich aber wiederum nicht um ein Paradox, sondern – sofern die Behauptung über das, was die meisten Menschen tun würden stimmt – lediglich um einen Widerspruch zwischen Theorie um Empirie, der zeigt, dass das Indifferenzprinzip empirisches beobachtbares Entscheidungsverhalten bei Entscheidungen unter Unwissenheit nicht richtig beschreibt. Lehnt man das Indifferenzprinzip überhaupt ab, so entsteht von vornherein kein Paradox.

2.3 St. Petersburg Paradox

Das St. Petersburg Paradox setzt unbeschränkte Nutzenskalen voraus. Bei den Beweisen der in der letzten Vorlesung vorgestellten Fassung der Neumann-Morgensternschen Nutzentheorie wurde von der Voraussetzung begrenzter Nutzenskalen Gebrauch gemacht (siehe Seite ). Man kann die Nutzentheorie jedoch auch mit unbeschränkten Nutzenskalen konstruieren, nur fallen dann die mathematischen Beweise etwas komplizierter aus.

Das St. Petersburg Paradox beruht auf dem un­be­schränkten St. Peters­burg-Spiel, welches nachfolgenden Regeln gespielt wird: Es wird eine Münze geworfen. Zeigt sie Kopf, dann erhält der Spieler 2 € und das Spiel ist beendet. Andernfalls wird sie ein weiteres Mal geworfen. Zeigt sie diesmal Kopf, so erhält der Spieler 4 €. Wenn nicht wird die Münze ein weiteres Mal geworfen und bei Kopf 8 € ausgezahlt usw. Das Paradox besteht darin, das – rein theoretisch – ein Akteur bereit sein müsste, jeden Preis dafür zu zahlen, um an dem Spiel teilzunehmen, denn der Erwartungswert des St. Petersburgspiels berechnet sich nach:

\[ EW = \frac{1}{2}\cdot 2 + \frac{1}{4}\cdot 4 + …+ \frac{1}{2^n}\cdot 2^n + …= 1+1+1+…= \infty \]

Nun ist aber nicht wirklich einzusehen, warum das ein Problem sein sollte. In der Praxis gibt es keine unendlichen Spiele, so dass das Problem in der Praxis auch nicht auftreten kann. Was die Theorie betrifft, so bleibt unverständlich, was man dagegen einwenden sollte, dass irgendeine Option unendlich viel wert ist, wenn man in der Theorie schon unbegrenzte und damit potentiell unendlich große Nutzenwerte zulässt.

2.4 Das Hellseherparadox

(auch bekannt als „Newcomb’s Paradox“)

Das Hellseherparadox taucht des öfteren in phil"-osophischen Diskussionen auf, wenn solche Fragen erörtert werden, wie die des Unterschieds zwischen Korrelation und Kausalität oder der Mög"-lichkeit zeitlich rückwärts gerichteter Kausalität. Für die Entscheidungstheorie hat das Hellseherparadox vergleichsweise geringere Bedeutung, zumal es sich ebenso leicht wie die anderen lösen lässt. Die Geschichte zu diesem Paradox ist zunächst die Folgende:

Ein Hellseher hat in einem Raum zwei Schachteln aufgestellt, eine rote und eine blaue. In die rote Schachtel legt er 1.000 €. Die blaue Schachtel ist zunächst leer. Nun wird einer der Zuschauer gebeten, den Raum zu verlassen. Wenn er wiederkehrt, wird er vor die Wahl gestellt entweder nur die blaue oder beide Schachteln zu nehmen. Er bekommt dann den Inhalt derjenigen Schachteln, die er genommen hat. Damit das Ganze interessanter wird, erklärt ihm der Hellseher, dass er inzwischen vorhersagen wird, welche Entscheidung der Zuschauer treffen wird, und dass er, wenn er vorhersagt, dass der Zuschauer nur die blaue Schachtel nimmt, 1.000.000 € in die blaue Schachtel legen wird. Dem Zuschauer ist bekannt, dass der Vorhersager bisher in 90% der Fälle richtig vorhersagt hat. Welche Schachtel sollte der Zuschauer wählen? [S. 109]resnik:1987

Das Paradox entsteht nun dadurch, dass man mit Hilfe der Entscheidungstheorie scheinbar genauso gut die eine wie die andere Lösung rechtfertigen kann.

1. Rechtfertigung der Wahl beider Schachteln: Da der Hellseher seine Vorhersage abgibt, bevor der Zuschauer eine Wahl trifft, sind die möglichen Zustände (blaue Schachtel ist leer oder blaue Schachtel ist nicht leer) unabhängig von der Wahl des Zuschauers. Als Tabelle dargestellt sieht das Entscheidungsproblem wie unten abgebildet aus, wobei die Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten der Ereignisse unbekannt sind, aber wegen der Unabhängigkeit von den Handlungen dieselben sind:

blaue Schachtel leernicht leer
Nimm blaue Schachtel 0 € 1M €
Nimm beide Schachteln 1.000 € 1M + 1.000 €

Wie man sieht, ist die Handlung beide Schachteln zu nehmen streng dominant, d.h. sie liefert, welches Ereignis auch immer eintritt, stets das bessere Ergebnis. Also sollte der Zuschauer in jedem Fall beide Schachteln nehmen.

2. Rechtfertigung der Wahl der blauen Schachtel: Der Hellseher verfügt offenbar tatsächlich über die Gabe des Hellsehens, sonst würde er nicht zu 90% richtig vorhersagen. Also variiert die Wahrscheinlichkeit, mit der die blaue Schachtel leer ist oder nicht, mit der Wahl, die der Zuschauer trifft. Die Entscheidungstabelle müsste korrekterweise so dargestellt werden:

blaue Schachtel leernicht leer
Nimm blaue Schachtel 0 € (p=0.1) 1M € (p=0.9)
Nimm beide Schachteln 1.000 € (p=0.9) 1M + 1.000 € (p=0.1)

Da es sich um eine Entscheidung unter Risiko handelt, bei der das Erwartungsnutzenprinzip gilt, ist unser Zuschauer gut beraten, wenn er nur die blaue Schachtel nimmt.

Handelt es sich hierbei tatsächlich um ein Paradox und leidet die Entscheidungstheorie an Antinomien, d.h. an inneren Widersprüchen? Wie bei sovielen philosophischen Antinomien10Die berühmten Antinomien aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“ sind dafür das paradigmatische Beispiel, leider auch hinsichtlich der Tatsache wie ein mangelndes Verständnis der logischen Situation zu philosophischen Irrtümern führen kann. entsteht der Schein eines Widerspruchs nur dadurch, dass bei beiden Argumentationen jeweils von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgegangen wird. In Wirklichkeit handelt es sich nämlich gar nicht um einen Widerspruch, sondern darum, dass in dem einen wie in dem anderen Fall aus unterschiedlichen Voraussetzungen Unterschiedliches abgeleitet wird. Bei der ersten Rechtfertigung wird vorausgesetzt, dass Hellseherei nicht möglich ist. Bei der zweiten dagegen, dass sie möglich ist. Die beiden Argumentationen kommen also deshalb zu unterschiedlichen Ergebnissen, weil sie von unterschiedlichen Problemspezifikationen ausgehen. Dass die Entscheidungstheorie bei unterschiedlichen und einander widersprechenden Problemspezifikationen unterschiedliche Lösungen liefert ist nur natürlich und verweist nicht auf einen Widerspruch innerhalb der Entscheidungstheorie.


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