Schon zuvor (Kapitel wurde gezeigt, wie man mit Hilfe des Erwartungsnutzens Entscheidungen unter Risiko treffen kann. In diesem Kapitel werden wir auf die theoretischen Grundlagen des Erwartungsnutzens und besonders des sogenannten „Neumann-Morgensternschen“ Nutzenbegriffs eingehen, der schon früher als „kardinale Nutzenfunktion“ eingeführt wurde (siehe Kapitel ).
Die Grundidee der Neumann-Morgensternschen Nutzentheorie besteht darin, neben den bestehenden Gütern (bzw. den Ergebnissen von Entscheidungsprozessen) „Lotterien“ als gedachte Güter einzuführen und durch den Vergleich (hinsichtlich der Präferenzrelation) von Lotterien und Gütern bzw. Lotterien untereinander sowie mit Hilfe von als selbst-evident angesehenen Konsistenzbedingungen eine kardinale Nutzenfunktion und das Prinzip des Erwartungsnutzen abzuleiten. Die folgende Darstellung lehnt sich vor allem an Resnik an [S. 88-98]resnik:1987. Wie sehen diese „Lotterien“ aus und wie kommen sie zu Stande?
Grundsätzlich ist eine Lotterie immer eine Wahrscheinlichkeitsverteilung über einer disjunkten, aber zugleich erschöpfenden Menge von Ereignissen. Kompliziert und, wenn es sich nicht gerade um Geldwerte handelt, zugegebenermaßen etwas unplausibel wird die Theorie dadurch, dass diese Lotterien als mögliche Güter bzw. erzielbare Ergebnisse eines Entscheidungsprozesses in die Präferenzrelation eigeordnet werden können müssen. Das stellt sich dann etwa wie folgt dar:
Angenommen jemand ordnet seine Präferenzen bezüglich der drei Güter „Eiscreme“, „Joghurt“ und „Trockenes Brot“ auf diese Weise:
Eiscreme \(\succ \) Joghurt \(\succ \) Trockenes Brot
Dann postuliert die Theorie‚
Lotterie (a=0.8, Eiscreme, Trockenes Brot) \(\sim \) Joghurt
Wozu in aller Welt soll das gut sein? Und woher soll nun einer wissen, ob er zwischen Jogurt und einer 80%-igen Gewinnchance auf Eiscreme (bei Strafe von trockenem Brot) indifferent ist und nicht etwa einer 70%-igen oder 60%-igen etc.? Die Antwort auf die erste Frage ist, dass sich damit eine raffinierte, und unter einer großen Gruppe von Ökonomen und einer kleinen Gruppe von Philosophen überaus populäre Nutzentheorie aufbauen lässt, die wir gleich kennen lernen werden. Die Antwort auf die zweite Frage stellt eine etwas schwierige Angelegenheit dar, die man lange diskutieren müsste. So recht überzeugend lässt sie sich, wenn es sich nicht gerade mal wieder um Geldwerte handelt, offen gestanden nicht beantworten, so dass wir an dieser Stelle schon eine gehörige Portion guten Willen mitbringen müssen, um die Theorie zu akzeptieren. Zugleich wird an dieser Stelle deutlich, warum es mit dem Hilfsmittel der Lotterien immer möglich ist, aus beliebigen wohlgeformten Präferenzen eine kardinale Nutzenfunktion zu erzeugen: Indem wir unserem Akteur nämlich eine definitive Wahrscheinlichkeitsangabe abnötigen, zwingen wir ihn zu genau der Zahlenangabe, die wir brauchen, um eine Intervallskala zu konstruieren, und die uns beim bloß ordinalen Nutzen fehlt.
Ist man dazu bereit, sich die Theorie trotz ihrer m.E. zweifelhaften Voraussetzungen anzuhören, so wird man Lotterien der Einfachheit halber in der Form darstellen:
\[ L(a, x, y) \]Dabei sind \(x\) und \(y\) zwei beliebige Güter (bzw. Ergebnisse). \(a\) ist die Wahrscheinlichkeit, mit der der Gewinn \(x\) herauskommt, und \(1-a\) ist dementsprechend die Wahrscheinlichkeit mit der die „Niete“ \(y\) gezogen wird. In allgemeiner Form, d.h. bei mehr als zwei Gütern, werden Lotterien so dargestellt:
\[L((p_1‚…‚p_n), (x_1‚…‚x_n)) \qquad p_1 + …+ p_n = 1\]wobei \(x_1‚…, x_n\) ein Tupel von \(n\) Gütern (oder Ergebniss) ist und \(p_1‚…, p_n\) die Wahrscheinlichkeiten mit der das jeweilige Gut „gewonnen“ wird. Im Folgenden werden wir uns aber auf zwei-stellige Lotterien beschränken, da man mehrstellige Lotterien immer als verschachtelte zweistellige Lotterien darstellen kann.
Wenn man schon zulässt, dass Güter mit dieser Art von Lotterien darauf hin verglichen werden können, ob irgendein Akteur indifferent zwischen ihnen ist, dann ist es nur ein kleiner Schritt, auch noch Lotterien mit Lotterien zu vergleichen. D.h. wenn \(L_1(a_1, x_1, y_1)\) eine Lotterie ist und \(L(a_2, x_2, y_2)\) eine weitere, dann kann man für jedes Gut oder jede Lotterie die bezüglich der Präferenzen des Akteurs zwischen \(L_1\) und \(L_2\) eingeordnet ist eine Lotterie \(L(b, L_1, L_2)\) konstruieren, so dass der Akteur zwischen dieser Lotterie und dem mittleren Gut (oder der mittleren Lotterie) indifferent ist.
Auf diese Weise kann man nach folgenden drei Regeln eine „vollständige Menge“
Weiterhin wird verlangt, dass für die Lotterien folgende Bedingungen gelten [S. 90-92]resnik:1987 :
Wenigstens die zweite und dritte dieser Bedingungen kann man als selbstevident betrachten. Die anderen Bedingungen sind zumindest plausibel, wenn man sich überhaupt auf das Gedankenexperiment mit den „Lotterien“ einlässt. Nun lässt sich beweisen, dass man, wenn diese Bedingungen gegeben sind, eine Nutzenfunktion konstruieren kann, die die Erwartungsnutzeneigenschaft hat, und die zugleich eine kardinale Nutzenfunktion ist. Insgesamt muss die so konstruierte Nutzenfunktion \(u\) also die folgenden Eigenschaften haben:
Wie kann man das beweisen? Resnik folgend kann der Beweis in zwei Schritten geführt werden, indem zuerst die Existenz einer Nutzenfunktion bewiesen wird, die die ersten drei Eigenschaften erfüllt, und dann die Eindeutigkeit dieser Nutzenfunktion bis auf positive lineare Transformation.
Bevor wir diesen Beweis führen, sollen einige unmittelbare Corrolarien der Bedingung der höheren Gewinne und der Bedingung der besseren Chancen vorgestellt werden, die uns helfen, den folgenden Beweis leichter zu führen. Für den Beweis dieser Corrolarien verwenden wir die Tatsache, dass die Lotterie \(L(a‚x‚y)\) identisch ist mit der Lotterie \(L(1-a‚y‚x)\) und daher entsprechnd ersetzt werden kann.
Um den Beweis der Existenz einer Nutzenfunktion mit der Erwartungsnutzeneigenschaft zu führen, konstruieren wir eine solche Funktion \(u\) und zeigen, dass sie eine Nutzenfunktion ist (Eigenschaften 1 und 2) und dass sie die Erwartungsnutzeneigenschaft besitzt (Eigenschaft 3). Dazu bezeichnen wir zunächst entsprechend Resniks Darstellung [S. 94]resnik:1987 das beste Gut als \(B\) („best“) und das schlechteste Gut als \(W\) („worst“). (In dem Fall, dass es mehrere beste oder schlechteste Güter gibt, bezeichnet \(B\) ein beliebiges bestes Gut und \(S\) ein beliebiges schlechtestes Gut.) Dann setzen wir fest:
\[ u(B) := 1 \qquad \mbox{und}\qquad u(x) := 1 \qquad \mbox{für jede Lotterie {x} mit}\qquad x \sim B \]\[ u(W) := 0 \qquad \mbox{und}\qquad u(x) := 0 \qquad \mbox{für jede Lotterie {x} mit}\qquad x \sim W \]Nun betrachten wir eine beliebige Lotterie \(x\), die hinsichtlich der Präferenzrelation zwischen \(B\) und \(W\) eingeordnet ist (also: \(B \succ x \succ W\)). Nach der Kontinuitätsbedingung gibt es dann auch eine Lotterie \(L(a, B, W) \sim x\) mit einer Wahrscheinlichkeit \(a\), \(0 \leq a \leq 1\). Wir können nun
\[u(x) := a\]setzen, falls die Wahrscheinlichkeit \(a\) eindeutig bestimmt ist. Das ist aber der Fall, weil für jedes \(a’ \neq a\) auf Grund der Bedingung der besseren Chancen gilt: \(L(a’, B, W) \not \sim L(a, B, W)\) Da die Indifferenzrelation \(\sim \) transitiv ist („wohlgeformte Präferenzen“), muss dann auch gelten: \(L(a’, B, W) \not \sim x\).
Man beachte, dass aus der Definition \(u(x) := a\) für alle Lotterien \(x\) unmittelbar folgt:
\[x \sim L(u(x), B, W) \]Genau dasselbe ist es zu sagen, dass für jede bliebige Lotterie \(L(a, x, y)\) gilt:
\[L(a, x, y) \sim L(u(L(a‚x‚y)), B, W) \]Von diesem Zusammenhang werden wir weiter unten noch Gebrauch machen.
Mit \(u(x) = a\) haben wir dann aber bereits eine Funktion definiert, die jeder Lotterie \(x\) einen eindeutigen Wahrscheinlichkeitswert \(a\) zuordnet. Zu zeigen ist noch, dass es sich dabei um eine Nutzenfunktion mit der Erwartungsnutzeneigenschaft handelt. Dazu müssen wir zunächst nachweisen, dass die ersten drei der oben aufegführten Eigenschaften für die so definierte Funktion \(u\) gegeben sind.
Teilbeweis der Eigenschaft \(u(x) > u(y)\) genau dann wenn \(x \succ y\): Wenn \(u(x) = a\) für dasjenige \(a\), für welches gilt \(L(a, B, W) \sim x\), dann ergibt sich durch Einsetzen unmittelbar \(x \sim L(u(x), B, W)\). Aufgrund der Bedingung der besseren Chancen wissen wir, dass
\[ L(u(x), B, W) \succ L(u(y), B, W) \qquad \Leftrightarrow \qquad u(x) > u(y) \]Da jeweils gilt \(x \sim L(u(x), B, W)\) und \(y \sim L(u(y), B, W)\) können wir die Lotterien in der vorkommenden Äquivalenzaussage durch \(x\) und \(y\) ersetzen und erhalten das Gesuchte.
Teilbeweis der Eigenschaft \(u(x) = u(y)\) genau dann wenn \(x \sim y\): Aus der Bedingung der besseren Chancen ergibt sich, dass
\[ L(u(x), B, W) \sim L(u(y), B, W) \qquad \Leftrightarrow \qquad u(x) = u(y) \]denn wäre \(u(x) \neq u(y)\), dann wäre entweder \(u(x) > u(y)\) oder \(u(x) < u(y)\), und in beiden Fällen besagt die Bedingung der besseren Chancen, dass dann auch für die entsprechenden Lotterien \(\succ \) oder \(\prec \) gelten muss, so dass \(\sim \) nur noch gelten kann, wenn \(u(x) = u(y)\). Durch Ersetzen analog zum Vorigen erhalten wir wiederum das Gesuchte.
Teilbeweis der Eigenschaft \(u(L(a‚x‚y)) = au(x) + (1-a)u(y)\). Um den Beweis zu führen bedienen wir uns des zuvor als Corollar bewiesenen Substitutionsgesetzes (siehe Seite ). Der Einfachheit halber soll dabei \(L^*\) für die Lotterie \(L(a, x, y)\) stehen. Nach der Definition der Nutzenfunktion (\(u(x) := b\) für dasjenige \(b\), für welches \(x \sim L(b, B, W)\)), gilt:
\[ x \sim L(u(x), B, W) \]\[ y \sim L(u(y), B, W) \]Durch Substitution von \(x\) und \(y\) in der Lotterie \(L^*\) erhalten wir:
\[ L^* \sim L(a, L(u(x)‚B‚W), L(u(y)‚B‚W)) \]Nach der Reduzierbarkeitsbedingung ergibt sich daraus:
\[ L^* \sim L(a, L(u(x)‚B‚W), L(u(y)‚B‚W)) \sim L(d, B, W) \]mit \(d = au(x) + (1-a)u(y)\). Da aber (nach unserer Definition von \(u\)) gilt: \(L^* \sim L(u(L^*), B, W)\), so erhalten wir daraus:
\[ L(u(L^*)‚B‚W) \sim L(d‚B‚W) \]Da auf Grund der Bedingung der besseren Chancen, wie zuvor bewiesen, in diesem Falle \(u(L^*) = d\) sein muss, folgt das Gesuchte. Damit ist der Beweis der Existenz einer Nutzenfunktion, der die Erwartungsnutzeneigenschaft zukommt, abgeschlossen.
Die Eindeutigkeit der eben definierten Nutzenfunktion ist so zu verstehen, dass wir keine Nutzenfunktion mit der Erwartungsnutzeneigenschaft aus den Bedingungen für Lotterien herleiten können, die sich nicht positiv linear in alle anderen daraus ableitbaren Nutzenfunktionen mit Erwartungsnutzeneigenschaft transformieren lässt.
Wir müssen also zeigen, dass jede beliebige Nutzenfunktion mit Erwatungsnutzeneigenschft \(u’\), die die auf der vollständigen Menge der Lotterien definierte Präferenzrelation wiedergibt, eine positiv linear transformierte der eben konstruierten Nutzenfunktion \(u\) ist, dass also gilt:
\[ u’(x) = au(x) + b \qquad \mbox{mit}\qquad a > 0\]Der Beweis nach Resnik geht wie folgt [S.97/98]resnik:1987:
Angenommen, wir verfügen neben der oben konstruierten Nutzenfunktionen \(u\) noch über eine weitere Nutzenfunktion mit Erwartungsnutzeneigenschaft \(u’\), die die vollständige Menge der Lotterien auf eine andere Nutzenskala abbildet. Aus dem Erwartungsnutzenprinzip ergibt sich, dass beide Abbildungen surjektiv sind (d.h. dass jeder Wert der Nutzenskala innerhalb des Intervalls zwischen dem größten und dem kleinsten Nutzenwert ein Nutzenwert irgendeiner Lotterie ist), denn (Beweisskizze) sei \(x\) eine Lotterie, die den höchsten möglichen Nutzenwert hat, und \(y\) eine Lotterie, die den kleinsten möglichen Nutzenwert hat, und sei \(j\) irgendein Nutzenwert dazwischen, dann hat mit \(a := (j-u(y))/(u(x)-u(y))\) die Lotterie \(L(a, x, y)\) genau den Nutzenwert \(j\). Da dies für jedes beliebige \(j\) gilt, gehören alle reellen Zahlen auf der Skala innerhalb des Bereiches vom kleinsten bis zum größten Nutzenwert zum Wertebereich der Nutzenfunktion.
Wenn jede Zahl auf der Nutzenskala vom kleinsten bis zum größten Nutzenwert der Nutzenwert einer Lotterie ist, dann können wir eine Abbildung \(I\) definieren, die die Nutzenwerte der einen Skala auf die der anderen abbildet. Dazu definieren wir zunächst \(u^{-1}(e)\) als eine Funktion,
Im folgenden zeigen wir zunächst, dass für die Funktion \(I\) eine der Erwartungsnutzeneigenschaft von \(u\) und \(u’\) analoge Eigenschaft gilt, nämlich: \(I(ak+(1-a)m) = aI(k) + (1-a)I(m)\) für jedes \(k\) und \(m\) auf der \(u\)-Skala. Daraus leiten wir dann das Gewünschte ab.
Nachweis der erwartungsnutzenanalogen Eigenschaft von \(I\): Zunächst einmal gilt nach der Definition von \(I\) und der Erwartungsnutzeneigenschaft von \(u\), dass:
\[u’(L(a‚x‚y)) = I(u(L(a‚x‚y))) = I(au(x) + (1-a)u(y)) \]Nun gilt aber ebenso nach der Erwartungsnutzeneigenschaft von \(u’\) und wiederum nach der Definition von \(I\), dass:
\[u’(L(a‚x‚y)) = au’(x) + (1-a)u’(y) = aI(u(x)) + (1-a)I(u(y))) \]In beiden Gleichungen steht der Term \(u’(L(a‚x‚y))\). Also kann man die Gleichungen zusammensetzen, und erhält:
\[I(au(x) + (1-a)u(y)) = u’(L(a‚x‚y)) = aI(u(x)) + (1-a)I(u(y))) \] Nun muss man sich nur noch folgendes klar machen: Aufgrund der zurvor bewiesenen Surjetivität von \(u\) gibt es zu jedem \(k\) und \(m\) auf der \(u\)-Skala mindestens je eine Lotterie \(x\) und eine Lotterie \(y\), so dass \(u(x) = k\) und \(u(y) = m\). Dann gilt aber ohne Beschränkung der Allgemeinheit für jedes \(k\) und \(m\) auf der \(u\)-Skala, dass I(ak + (1-a)m) & = & I(au(x) + (1-a)u(y))
& = & aI(u(x)) + (1-a)I(u(y)))
& = & aI(k) + (1-a)I(m) was die erwartungsnutzenanaloge Eigenschaft von \(I\) ist, die nachgewiesen werden sollte.
Mit diesem Wissen können wir folgende Rechnung aufstellen: u’(x) & = & I(u(x)) 										nach Definition von \(I\)
& = & I(u(x)1 + (1-u(x)) 0) 		etwas Algebra ;)
& = & u(x)I(1) + (1-u(x))I(0) 		erwartungsnutzenanaloge Eigenschaft von \(I\)
& = & u(x)(I(1)-I(0)) + I(0) Wenn wir nun \(a := I(1)-I(0)\) und \(b := I(0)\) setzen, dann haben wir gezeigt, dass \(u’\) eine linear transformierte von \(u\) ist:
Da \(I(1) > I(0)\) sein muss (wg. der Monotonieeigenschaft von \(u\) (und damit auch von \(u^{-1}\)) und \(u’\)), ist \(a > 0\), so dass es sich tatsächlich um eine positive lineare Transformation handelt. q.e.d.
Was ist damit gezeigt? Wir haben gezeigt, dass sich das Erwartungsnutzenprinzip (Seite ) und die entsprechende Entscheidungsregel für Entscheidungen unter Risiko (siehe Seite ) aus plausiblen Voraussetzungen von der Sorte „Bevorzuge eine Lotterie mit höheren Gewinnchancen gegenüber einer mit geringeren Gewinnchancen“ logisch ableiten lässt. Oft werden diese Voraussetzungen als selbstevident angesehen, so dass eine Person, die Entscheidungen rational trifft, immer von dem Erwartungsnutzen ausgehen müsste. Ein anderes Entscheidungsverhalten müsste dementsprechend als irrational eingestuft werden.
Interessanterweise verhalten sich die meisten Menschen in diesem Sinne aber irrational, indem sie je nach Situation, ihren Nutzen bei unsicheren Ereignissen entweder oberhalb des rechnerischen Erwartungsnutzens ansetzen („Riskofreude“) oder unterhalb („Risikoscheu“ bzw. „Risikoaversion“). Dieser Punkt kann leicht missverstanden werden, da in der ökonomischen Literatur oft behauptet wird, dass risikoscheues oder -freudiges Verhalten sehr wohl mit dem Erwartungsnutzenprinzip vereinbar ist [S. 103]osborne:2004, indem es sich darin niederschlägt, dass riskante Ereignisse einfach entsprechend höhere oder niedrigere Nutzenwerte zugewiesen bekommen. So würde eine risikoaverse Person den Nutzen von 1000 Euro gleich hoch veranschlagen wie den Nutzen von einer 50% Chance auf 3000 Euro. Und umgekehrt würde eine risikofreudige Person vielleicht den Nutzen von 1000 Euro so hoch veranschlagen wie den von einer 25% Chance auf 3000 Euro.
Nun sind aber die Präferenzen hinsichtlich eines Risikos (Risikoaversion oder Risikofreude oder Risikoneutralität) und die Präferenzen hinsichtlich einer mehr oder weniger großen Menge von irgendetwas (abnehmender, zunehmender oder gleichbleibender Grenznutzen) empirisch betrachtet zunächst einmal unterschiedliche Dinge, und es wäre sehr riskant von vornherein eine Harmonie zwischen beiden anzunehmen.
Es ist daher Vorsicht geboten, wenn man die Theorie rationaler Entscheidungen zur Erklärung von empirisch beobachtbarem Entscheidungsverhalten heranziehen will. Das allein widerspäche aber noch nicht ihrer normativen Anwendung z.B., wenn es darum geht, betriebswirtschaftliche Entscheidungen an ihr zu orientieren. Doch auch in dieser Hinsicht gibt es eine Reihe von Einwänden, die gegen die Theorie erhoben worden sind. Oft werden diese Einwände in die Form (vermeintlicher) Paradoxien gekleidet, die sich aus der Neumann-Morgensternschen Nutzentheorie ableiten lassen. Mit diesen Einwänden werden wir uns im folgenden Kapitel beschäftigen.