Bisher haben wir nur über Entscheidungen unter Unwissenheit gesprochen. Damit sind solche Entscheidungen gemeint, bei denen wir die Menge der möglichen Ereignisse, die – unabhängig von unserer Wahl – auf das Ergebnis Einfluss nehmen können, genau kennen, bei denen wir aber nicht wissen, mit welcher Wahrscheinlichkeit jedes der Ereignisse eintreten wird. In diesem Kapitel werden wir die Techniken des Umgangs mit „Entscheidungen unter Risiko“ kennen lernen, wobei mit Entscheidungen unter Risiko genau solche Entscheidungen gemeint sind, bei denen wir die Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten der Ereignisse (oder der Gegebenheit bestimmter Zustände kennen). Bei Entscheidungen unter Risiko verfügen wir also über mehr Informationen als bei Entscheidungen unter Unwissenheit. In diesem Sinne ist Risiko (so wir der Begriff innerhalb der Entscheidungstheorie verstanden wird) günstiger als Unwissenheit.
Da wir bei Entscheidungen unter Risiko Wahrscheinlichkeiten voraussetzen, müsste, wollte man nach der logischen Reihenfolge vorgehen, eigentlich zuvor der mathematische Wahrscheinlichkeitsbegriff eingeführt werden. Weil die Wahrscheinlichkeitstheorie aber eine komplizierte Sache ist, wird die Wahrscheinlichkeitstheorie aus didaktischen Gründen erst später besprochen. Bis dahin genügt es, über Wahrscheinlichkeiten lediglich das folgende zu wissen:
Um unter Risiko eine begründete Entscheidung treffen zu können, müssen wir den Nutzen unsicherer Ereignisse in irgendeiner Weise bewerten, so dass die Unsicherheit bzw. das Risiko bei der Bewertung mit einbezogen wird. Dieser Nutzenwert, in den die Unsicherheit schon mit eingerechnet ist, wird der Erwartungsnutzen genannt. Da im Erwartungsnutzen der Nutzen eines Ereignisses mit dem Wert des Ereignisses, wenn es eintritt, verrechnet wird, setzt die Bestimmung des Erwartungsnutzen immer ein kardinales Nutzenkonzept voraus.
Das zentrale Gesetz des Erwartungsnutzens ist die sogenannte Erwartungsnutzenhypothese. Sie besagt, dass der Erwartungsnutzen eines unsicheren Ereignisses gleich dem erwarteten Nutzen multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit des Eintretens des Ereignisses ist. Unter dem „Erwartungsnutzen“ ist dabei der Nutzen des noch unsicheren Ereignisses zu verstehen. Während mit dem „erwarteten Nutzen“ der Nutzen des Ereignisses (für einen bestimmten Akteur) gemeint ist, wenn dass Ereignis eingetreten ist. „Erwartungsnutzen“ und „erwarteter Nutzen“ dürfen also nicht verwechselt werden! Der Zusammenhang kann also mathematisch folgendermaßen formuliert werden:
EU | Erwartungsnutzen eines bestimmten Ereignisses |
p | Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieses Ereignisses |
U | Nutzen des eingetretenen Ereignisses („erwarteter Nutzen“) |
Wird der Zusammenhang so wie in der Gleichung oben ausgedrückt, dann wird dabei stillschweigend vorausgesetzt, dass der erwartete Nutzen, wenn das Ereignis nicht eintritt, Null beträgt. In etwas präziserer und allgemeinerer Form müsste man den Zusammenhang so darstellen:
Sei \(e_1‚…‚e_n\) eine Partition von Ereignissen, d.h. eine Menge von Ereignissen, die sich wechselseitig ausschließen, von denen eins aber eintreten muss. Seien weiterhin die Wahrscheinlichkeiten, mit denen diese Ereignisse eintreten können: \(p_1‚…‚p_n\) und ihre erwarteten Nutzenwerte \(U_1‚…‚U_n\). Dann berechnet sich der Erwartungsnutzen nach:EU = p_1 U_1 + p_2 U_2 + …+ p_n U_n
Die Berechnung des Erwartungsnutzens hat aber offensichtlich nur dann Sinn, wenn wir eine kardinale Nutzenfunktion (siehe Kapitel ) voraussetzen dürfen, da der so berechnete Erwartungsnutzuen nicht bei jeder positiven Transformation der gewählten Nutzenfunktion derselbe bleibt. Sie ist aber insbesondere dann unproblematisch, wenn es sich bei dem Nutzen um Geldwerte handelt. Dass unter der Voraussetzung kardinaler Nutzenwerte die Verwendung des Erwartungsnutzens zur Bewertung unterschiedlicher Handlungsalternativen unbedenklich ist, ergibt sich daraus, dass der Erwartungsnutzen von positiv linear transformierten Nutzenwerten gleich dem positiv linear transformierten Erwartungsnutzen der Nutzenwerte ist. Mathematisch gesprochen: Seien \(u\) und \(v\) zwei äquivalente kardinale Nutzenskalen, d.h. es gelte: \(v = au + b\) mit \(a > 0\). Dann gilt: EV & = & p_1 V_1 + …+ p_n V_n
& = & p_1 (aU_1 + b) + …+ p_n (aU_n + b)
& = & ap_1 U_1 + …+ ap_n U_n + _i=1^n p_ib
& = & a(p_1 U_1 + …+ p_n U_n) + b
& = & aEU + b
Hinweis: Da \(p_1+…+p_n=1\) (es handelt sich um eine Partition von Ereignissen, d.h. die Ereignisse schließen sich wechselseitig aus und ein Ereignis tritt auf jeden Fall ein), durften wir im vorletzten Schritt \(\sum _{i=1}^n p_ib = b\cdot \sum _{i=1}^n p_i = b \cdot 1 = b\) verwenden.
Bewertet man den Wert unterschiedlicher Handlungsalternativen einer Entscheidung unter Risiko (d.i. einer Entscheidung, bei der die Eintrittswahrscheinlichkeiten der möglichen Zufallsereignisse bekannt sind) mit Hilfe des Erwartungsnutzens, so ist damit sichergestellt, dass die Rangfolge der Alternativen dieselbe bleibt, wenn wir unsere Nutzenfunktion durch eine äquivalente kardinale Nutzenfunktion ersetzen.
Aus dem Erwartungsnutzen ergibt sich eine sehr einfache Entscheidungsregel für Entscheidungen unter Risiko, sofern die erwarteten Werte mindestens auf einer kardinalen Nutzenskala eingetragen werden können, nämlich die Regel:
Entscheidungsregel für Entscheidungen unter Risiko: Wähle diejenige Entscheidung, bei der der Erwartungsnutzen am größten ist.
Dass diese Regel bei Entscheidungen unter Risiko tatsächlich die beste ist, werden wir gleich noch ausführlicher begründen. Wenn sie aber die beste ist, dann ergibt sich für Unterscheidungen unter Risiko, dass wir nicht – wie bei Entscheidungen unter Unwissenheit – mit dem Problem zu kämpfen haben, dass es eine Reihe unterschiedlicher Entscheidungsregeln gibt, die alle sinnvoll begründet werden können, die aber unter Umständen unterschiedliche Ergebnisse liefern. (Inwiefern dies ein ernstzunehmendes Problem ist, sei dahin gestellt. Man könnte es auch so interpretieren, dass es bei Entscheidungen unter Unwissenheit eben keine generell beste Entscheidungsregel gibt, sondern nur situationsspezifisch mehr oder weniger angemessene Entscheidungsregeln – wobei einmal angenommen sei, dass die Auswahl der richtigen Entscheidungsregel unter Berücksichtigung der näheren situtationsspezifischen Bedingungen und Umstände leichter fällt.)
Wie kann man mit Hilfe dieser Entscheidungsregel Entscheidungen unter Risiko treffen? Dazu ein Beispiel. Eine Computerfirma hat erfahren, dass die Konkurrenz dabei ist, eine neue Art von sehr preiswerten Kleinstlaptops zu entwickeln. Sie steht nun vor der Wahl, ob sie ebenfalls in die Entwicklung derartiger Laptops investieren soll. Es steht nicht fest, ob diese Art Laptops vom Markt akzeptiert wird. Auch hängt der zu erwartende Gewinn davon ab, ob es der Konkurrenz gelingt, noch in diesem Jahr ihr Produkt auf den Markt zu werfen, in welchem Fall man die Eigenentwicklung zu einem deutlich niedrigeren Preis mit entsprechend reduzierten Gewinnerwartungen anbieten müsste. Andererseits ist zu erwarten, dass eine erfolgreiche Konkurrenz durch Kleinstlaptops die Firma auch Marktanteile in ihren Kernbereichen kosten könnte. Daraus ergibt sich folgendes Entscheidungsproblem:
\(S_1\) (\(p=0.3\)) | \(S_2\) (\(p=0.2\)) | \(S_3\) (\(p=0.5\)) | ||
\(A_1\) | -100.000 € | -50.000 | € 60.000 | \(EU = -10.000\) € |
\(A_2\) | 0 € | -80.000 | € 0 | \(EU = -16.000\) € |
\(A_1\): | Investiere in die rasche Entwicklung eines Kleinstlaptops. | |
\(A_2\): | Investiere nicht in die Entwicklung eines Kleinstlaptops. | |
\(S_1\): | Kleinstlaptops bleiben auf dem Markt erfolglos. | |
\(S_2\): | Kleinstlaptops sind erfolgreich, aber die Konkurrenz ist ebenfalls frühzeitig auf dem Markt präsent. | |
\(S_3\): | Kleinstlaptops sind erfolgreich, aber die Entwicklung der Konkurrenz verzögert sich. |
Der Erwartungsnutzen der jeweiligen Handlungen wurde dabei folgendermaßen errechnet: EU_A1 & = & -100.000 0.3 - 50.000 0.2 + 60.000 0.5 = -10.000
EU_A2 & = & 0 0.3 - 80.000 0.2 + 0 0.5 = -16.000
Wie man an dem berechneten Erwartungsnutzen sieht, lohnt sich die Investition in die Entwicklung eines Kleinstlaptops, obwohl auch in diesem Fall ein Verlust zu erwarten ist. Es kann Entscheidungsprobleme geben, bei denen nicht nur die Nutzenwerte, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ereignis eintritt, davon abhängt, welche Handlungsalternative man wählt. In diesem Fall müssen die Wahrscheinlichkeiten für die möglichen Ereignisse in jeder Zeile separat mit angegeben werden. Für die Berechnung des Erwartungsnutzens müssen dann natürlich die Wahrscheinlichkeiten der entsprechenden Zeile herangezogen werden. Ein Beispiel: Ein großes Softwareunternehmen möchte im Laufe der nächsten Monate ein kleines Softwareunternehmen aufkaufen. Es besteht die Möglichkeit, dass der Aktienkurs des Kleinunternehmens in den folgenden Monaten sinkt, steigt oder gleich bleibt, worüber die Experten des Großunternehmens relativ zuverlässige Schätzungen abgeben können. Das Großunternehmen kann seine Kaufabsicht vorher ankündigen oder auch nicht. Kündigt es die Kaufabsicht vorher an, so erhöht das die Wahrscheinlichkeit, dass der Aktienkurs und damit der Preis des Kleinunternehmens steigt. Zugleich führt dies aber dazu, dass das Kleinunternehmen, das bisher ein direkter Konkurrent des Großunternehmens ist, bis zum Verkauf kaum noch Lizenzen absetzen kann, woraus sich in diesem Fall ein fixer Gewinn für das Großunternehmen ergibt. Das Entscheidungsproblem sieht als Tabelle folgendermaßen aus (Die eingetragenen Werte repräsentieren dabei die Gesamtkosten, die sich aus dem zu erwartenden Kaufpreis minus dem fixen Gewinn aus zusätzlichen Lizenzverkäufen nach Wegfall einer effektiven Konkurrenz infolge der Ankündigung ergeben):
Kurs steigt | Kurs fällt | bleibt gleich | EU | |
\(A_1\): | 5 Mio € (p=0.1) | 2 Mio € (p=0.6) | 4 Mio € (p=0.3) | 2.9 Mio € |
\(A_2\): | 4.5 Mio € (p=0.7) | 1.5 Mio € (p=0.1) | 3.5 Mio € (p=0.2) | 4 Mio € |
Dies mal sieht die Berechnung des Erwartungsnutzens folgendermaßen aus: EU_A1 & = & 5.000.000 0.1 + 2.000.000 0.6 + 4.000.000 0.3 = 2.900.000
EU_A2 & = & 4.500.000 0.7 + 1.500.000 0.1 + 3.500.000 0.2 = 4.000.000
Da es sich bei den eingetragenen Werten um Kosten handelt, sollte das Unternehmen tunlichst vermeiden, die Akquiseabsichten vorher anzukündigen.
Schließlich wollen wir noch an einem Beispiel betrachten, wie man den Erwartungsnutzen einsetzt, um Entscheidungsbäume aufzulösen. Eine Ölfirma erwägt an einer bestimmten Stelle in der Nordsee nach Öl zu bohren. Es ist nicht absolut sicher, ob sich an dem entsprechenden Ort tatsächlich Öl befindet. Um dies mit Sicherheit festzustellen, kann die Firma eine Probebohrung durchführen lassen. Der Bau einer Bohrinsel kostet € 1.000.000. Liefert die Bohrinsel tatsächlich Öl, so erwirtschaftet die Ölfirma mit dem geförderten Öl € 10.000.000. Die Durchführung einer Expertise mit Hilfe einer Probebohrung kostet € 250.000. Wir gehen der Einfachheit halber davon aus, dass die Probebohrung absolut zuverlässig darüber Auskunft gibt, ob Öl vorhanden ist. Weiterhin sei angenommen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Öl vorhanden ist 40% beträgt. Um einen entsprechenden Entscheidungsbaum für Entscheidungen unter Risiko zu zeichnen, werden die Wahrscheinlichkeiten für Zufallsereignisse jeweils auf den entsprechenden Zweigen nach dem Ereignisknoten eingetragen. Der Entscheidungsbaum sieht dann folgendermaßen aus:
Wie kann man nun die Frage klären, ob es sich lohnt eine Expertise durchführen zu lassen oder nicht? Dazu muss man den Entscheidungsbaum von rechts nach links schrittweise nach folgenden Regeln auflösen:
In unserem Fall ist die gesuchte Entscheidung die Anfangsentscheidung, ob eine Expertise durchgeführt werden soll. Wenn man den Baum nach dem entsprechenden Verfahren reduziert, dann sieht der Entscheidungsbaum nach dem ersten Schritt so aus:
Der Erwartungswert, den man erhält, wenn man die Bohrinsel baut, ohne eine Expertise durchzuführen beträgt € 3.000.000 (= € \(0.4 \cdot 9.000.000 - 0.6 \cdot 1.000.000\)). Dieser Erwartungswert wurde an die Stelle des entsprechenden Ereignisknotens gesetzt. Da im anderen Fall die Entscheidung zum Bau mit dem Ausgang der Expertise schon feststeht, wurden hier einfach die entsprechenden Werte übertragen. Da der Bau der Ölplattform auch ohne vorherige Probebohrung einen höheren Erwartungswert als 0 € liefert, muss für den letzten Schritt nur noch der Erwartungsnutzen berechnet werden, der sich ergibt, wenn man sich dazu entscheidet, die Expertise durchzuführen. Der nochmals reduzierte Entscheidungsbaum sieht dann so aus:
Es ist nun unmittelbar ersichtlich, dass es besser ist, vorher eine Expertise in Auftrag zu geben, da der daraus resultierende Erwartungswert der größere ist.
Bei all diesen Beispielen haben wir übrigens eine Frage offen gelassen, die in der praktischen Anwednung des Erwartungsnutzens von entscheidender Bedeutung sein kann, nämlich die Frage, woher wir die Wahrscheinlichkeiten kennen, und ob wir sicher sein können, dass die Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten der Ereignisse stimmen, wenn wir schon nicht sicher sein können, welches Ereignis eintritt. Im Einzelfall dürfte dies von der Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Theorien abhängen, die diese Wahrscheinlichkeiten für den entsprechenden Anwendungsbereich bestimmen.
Soeben wurde gezeigt, wie man mit Hilfe des Erwartungsnutzens auf einfache Weise Entscheidungsprobleme lösen kann. Zugleich wurde behauptet, dass der Ewartungsnutzen bei Entscheidungen unter Risiko im Grunde die einzig sinnvolle Entscheidungsregel darstellt. Aber warum ist das so?
Eine Antwort auf diese Frage ist die, dass man, wenn man bei Entscheidungen unter Risiko den Erwartungsnutzen zu Grunde legt, auf lange Sicht den größten Gewinn erzielen kann.
Dieselbe Argumentation lässt sich auch auf beliebige kardinale Nutzenwerte übertragen, sofern man die Geldwerte durch Nutzenwerte ersetzt und statt des Erwartungswertes mit dem Erwartungsnutzen rechnet.
Die Argumentation weist zwei Schwierigkeiten auf: Erstens gilt sie nur auf lange Sicht, und es stellt sich zumindest die Frage, ob man das, was auf lange Sicht gilt, auch auf einzelne Zufallsereignisse, die sich in derselben Form nicht wiederholen, übertragen darf. Zweitens lässt sie sich – wie schon erwähnt – nur bei kardinalen Nutzenwerten anwenden, da wir sonst den Erwartungsnutzen nicht einmal bestimmen können. Für beide Probleme versucht die Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie eine Lösung anzubieten. Für das erste Problem, indem sie zeigt, dass der Erwartungsnutzen aus bestimmten Konsistenzbedingungen hervorgeht, die verletzt werden, wenn man ihn nicht richtig als das Produkt aus erwartetem Nutzen und Wahrscheinlichkeit berechnet – ähnlich wie subjektive Wahrscheinlichkeiten inkonsistent werden, sobald man die Axiome der Wahrscheinlichkeitsrechnung verletzt (siehe ). Für das zweite Problem, indem sie aus einer beliebigen Präferenzrelation – die aber reich genug sein muss, um auch gedachte Güter von der Form sogenannter „Lotterien“ zu enthalten! – durch trickreiche Vergleiche eine kardinale Nutzenfunktion konstruiert. Diese Theorie werden wir später im Semester noch ausführlich besprechen (Kapitel ).
Bei einem der eben besprochenen Beispiele (Seite ) hingen die Wahrscheinlichkeiten, mit denen Ereignisse eintreten, von den gewählten Handlungen ab.
Wir können nun noch einen Schritt weitergehen und uns fragen, wie vorzugehen ist, wenn die Wahrscheinlichkeiten des Eintretens von Ereignissen nicht nur von den Handlungen sondern wiederum von anderen Ereignissen und Zuständen abhängig sind. Dazu ein Beispiel (frei nach Resnik [S. 114]resnik:1987): Eine Ärztin steht vor der Frage, ob sie die Infektion eines Patienten mit einem Desinfektionsmittel oder mit einem Antibiotikum behandeln soll. Das Antibiotikum schlägt bei 80% der Patienten gut an, in welchem Fall die Heilungschance bei 70% liegt. Bei den restlichen Patienten liegt die Heilungschance mit demselben Mittel jedoch nur bei 40%. Das Desinfektionsmittel hat dagegen bei allen Patienten eine Heilungschance von 50% Da beide Mittel, wie wir einmal annehmen wollen miteinander unverträglich sind, besteht nur die Wahl entweder das Antibiotikum zu versuchen oder das Desinfektionsmittel.
Um das Problem in einer Entscheidungstabelle darzustellen, kann man die Ereignisse in zwei Gruppen unterteilen: Unabhängige und Abhängige Ereignisse. In diesem Fall ist das unabhängige Ereignis, dasjenige, ob das Antibiotikum bei dem Patienten anschlägt oder nicht. Das kausal davon abhängige Ereignis ist die Heilung (oder Nicht-Heilung) des Patienten. Dabei müssen für jedes unabhängige Ereignis alle abhängigen Ereignisse gesondert eingetragen werden. Wichtig ist, dass man innerhalb der Tabelle die entsprechenden bedingten Wahrscheinlichkeiten einträgt. Daraus ergibt sich folgende Entscheidungstabelle:
Wie man sieht, wäre bei diesem Beispiel die Heilungschance mit dem Antibiotikum (56% + 8% = 64%) größer als mit dem Desinfektionsmittel (40% + 10% = 50%). Sind bei einem Entscheidungsproblem wie diesem die Kausalzusammenhänge zwischen Ereignissen und Handlungen zu berücksichtigen, bietet sich oft die anschaulichere Baumdarstellung an.
Zum Abschluss des Teils über „Techniken des Entscheidens“ soll ein Beispiel aus der Philosophie erörtert werden, das vor Augen führt, wie technische Fragen der Entscheidungstheorie auch in die philosophische Diskussion hineinspielen können. Bei diesem Beispiel kommen besonders die Maximin-Regel und das Prinzip der Indifferenz zum Tragen.
Die Maximin-Regel hat in der Philosophie einige Bekanntheit erlangt, weil sie an prominenter Stelle in John Rawls sehr einflussreichem Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ auftaucht. John Rawls vertritt in diesem Werk den Grundsatz, dass dasjenige Gesellschaftsmodell das gerechteste ist, in dem es den am schlechtesten gestellten Menschen im Vergleich mit anderen Modellen am besten geht. Etwas anders formuliert könnte man auch sagen, dass Ungleichheit nur insoweit gerechtfertigt ist, wie sie jedermann zum Vorteil gereicht [S. 96ff.]rawls:1971. Dieses Prinzip wird auch das „Differenzprinzip“ genannt. Rawls stellt diesem Prinzip noch das von Kant übernommene „Freiheitsprinzip“ voran, wonach in der Gesellschaft jeder Mensch soviel Freiheit genießen soll wie möglich ist, sofern seine Freiheit mit demselben Maß an Freiheit für andere Menschen noch verträglich sein soll. Unfreie Gesellschaften kommen also von vornherein nicht als gerechte Gesellschaften in Betracht. Uns soll hier aber nur das Differenzprinzip interessieren.
Rawls liefert in seinem Werk für das Differenzprinzip eine Quasi-Ableitung, für die er sich der in der vertragstheoretischen Tradition seit Hobbes beliebten Vorstellung eines Urzustandes bedient. Rawls stellt sich einen hypothetischen Urzustand vor, in dem die Menschen ein Gesellschaftsmodell wählen dürfen. In diesem Urzustand wissen sie aber noch nicht, welche (soziale) Rolle sie in der gewählten Gesellschaft einnehmen werden. Sie befinden sich hinter einem Schleier des Nichtwissens. Welche Gesellschaft werden sie in einer solchen Situation wohl wählen? An dieser Stelle kommt die Maximin-Regel ins Spiel. Denn Rawls ist überzeugt davon, dass in einer solchen Situation die einzige Entscheidungsregel, deren sich ein vernünftiger Mensch bedienen würde, die Maximin-Regel ist. (Wenn es um das eigene Lebensschicksal geht, dann sollte man besser auf Nummer sicher gehen.) Nach der Maximin-Regel würden die Menschen aber die Gesellschaft wählen, die nach dem Differenzprinzip die Gerechteste ist, denn das ist genau die Gesellschaft, in er es einem im schlimmsten Fall noch am besten geht.
Harsanyi vertritt dazu den utilitaristischen Gegenstandpunkt: Seiner Ansicht nach muss eine rationale Entscheidungsregel auf dem Prinzip der Indifferenz beruhen und statt der Maximin-Regel den Durchschnittsnutzen heranziehen unter der Annahme der Gleichverteilung aller möglichen Ergebnisse. Er rechtfertigt dies einmal mit offensichtlichen Konsistenzbedingungen wie z.B. der Transitivität der Präferenzen oder dem Prinzip „Du wirst besser gestellt sein, wenn Du [in einer Lotterie] einen höheren Gewinn mit einer gegebenen Wahrscheinlichkeit angeboten bekommst, als wenn Du einen niedrigeren Gewinn mit der gleichen Wahrscheinlichkeit angeboten bekommst“ [S. 47]harsanyi:1975, von denen man in der Tat mathematisch zeigen kann, dass wenigstens einige davon verletzt werden, wenn man vom Durchschnittsnutzen abweicht. Eine nicht unwichtige Voraussetzung ist dabei aber, dass Harsanyi hinter dem Schleier des Nichtwissens entsprechend dem Indifferenzprinzip eine Gleichverteilung der möglichen individuellen Rollen annimmt.
Um den Unterschied der beiden Positionen in Bezug auf die Frage der Gerechtigkeit zu verdeutlichen, können wir uns als Beispiel [S. 41]resnik:1987 zwei mögliche Gesellschaftsmodelle denken. In dem ersten Gesellschaftsmodell arbeiten 10% der Menschen hart, damit die restlichen 90% wohlleben können. Die 10% Arbeiter erhalten jeweils einen (kardinalen) Nutzen von 1, die anderen von 90, macht im Schnitt 81‚1. In einem anderen Gesellschaftsmodell muss sich jeder an der Arbeit beteiligen, und jeder erzielt einen Nutzen von 35. Für welche Gesellschaft würden sich die Menschen hinter einem Schleier des Nichtwissens entscheiden? Mit Rawls und dem Maximin-Prinzip für die zweite. Mit Harsanyi und dem Utilitarismus für die erste.
Wie sind die unterschiedlichen Positionen zu beurteilen? Kann Harsanyi Rawls Gerechtigkeitstheorie mit Hilfe der Entscheidungstheorie wiederlegen? Die Beantwortung dieser Frage hängt sehr stark davon ab, wie man die Gerechtigkeitstheorie von Rawls und insbesondere ihre Begründungslogik rekonstruiert. Es gibt – stark vereinfacht – zwei Möglichkeiten das zu tun:
Sollte sich nun durch eine entscheidungstheoretische Kritik wie der von Harsanyi zeigen, dass das gewählte Gerechtigkeitsprinzip nicht aus dem Urzustand ableitbar ist, dann beweist das bestenfalls, dass man auf einen ungeeigneten Mythos zurückgegriffen hat, um es zu motivieren. Andererseits beruht aber gerade die Kritik von Harsanyi auf dem Nachweis der Verletzung von Konsistenzbedingungen durch die von Rawls für die Entscheidung im Urzustand reklamierte Maximin-Regel. Nun kann man aber ernsthaft fragen, ob es für das Urzustandsszenario, zumal wenn es ohnehin keine begründende Bedeutung hat, auf die Konsistenz und Rationalität (im dem engen Sinne, in dem Harsanyi den Ausdruck Rationalität gebraucht) der Entscheidung überhaupt ankommt. Rawls beansprucht freilich, dass eine Entscheidung nach der Maximin-Regel im Urzustand eine vernünftige Entscheidung ist. Aber schlimmstenfalls wäre er nur gezwungen seinen Urzustandsmythos fallen zu lassen oder durch einen anderen zu ersetzen, nicht jedoch dazu, das Differenzprinzip aufzugeben.
Nur in diesem zweiten Fall kommt der entscheidungstheoretischen Argumentation tatsächlich eine Schlüsselfunktion zu. Denn einmal den Urzustand als ethische Basisentscheidung gegeben, hängt es von der korrekten Anwendung der entscheidungstheoretischen Regeln ab, welches Gesellschaftsmodell als das gerechteste betrachtet werden muss. Harsanyis Kritik ist an Rawls Gerechtigkeitsideal ist dann in dem Maße berechtigt wie seine Kritik der Maximin-Regel zutrifft.
Was ist zu dieser Kritik zu sagen? Zunächst, was die Einzelbeispiele betrifft, mit denen Harsanyi gegen die Maximin-Regel polemisiert: Gegen den Utilitarismus kann man ebensogute Einzelbeispiele anführen, z.B.: Ein Mensch ist todkrank und kann nur durch eine Spenderniere gerettet werden. Da sich kein Spender findet, ordnet die Regierung an, einem, der als Spender in Frage käme, zwangsweise eine Niere zu entnehmen. Aus utilitaristischer Sicht ist das Handeln der Regierung sehr zu loben, da die Gesamtnutzenbilanz: Gerettetes Leben des einen abzüglich des körperlichen Schaden des anderen positiv ausfällt. (Das Beispiel verweist auf ein Grundproblem des Utilitarismus, nämlich dessen Unfähigkeit unveräußerliche Rechte wie z.B. ein Recht auf körperliche Unversehrtheit) zu begründen. Oder: Auf einer Insel ist eine Gruppe von Leuten gestradet. Die Rettung ist unterwegs, verzögert sich aber und wird erst eintreffen, wenn schon alle verhungert sind. Wenn nun aber die eine Hälfte der Gruppe die andere schlachtet und verspeist, kann wenigstens die Hälfte bis zum eintrffen der Rettung überleben. Utilitaristisch und unter dem Gesichtspunkt des Durchschnittsnutzens betrachtet, ist es besser, wenn die Hälfte überlebt als wenn alle sterben und der Kannibalismus damit zur moralischen Pflicht erhoben…Kurz, mit Einzelbeispielen kann man jedes Moralprinzip kleinkriegen. (Das zeigt weder, dass Einzelbeispiele noch dass allgemeine Moralprinzipien falsch sind, aber vielleicht, dass man nicht mit einem einzigen einfachen Moralprinzip auskommt, und dass in der Moral wie im Leben ein gewisses Maß an Inkonsequenz empfehlenswert ist.)
Ernstzunehmender ist die Kritik, soweit sie sich auf die Verletzung von elementaren Konsistenzbedingungen durch die Maximin-Regel bezieht. Allerdings setzt Harsanyi bei seiner Kritik kardinale Nutzenbewertungen für die sozialen Rollen voraus, die die Individuen in unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen einnehmen [S. 48f.]harsanyi:1975. Zudem geht er von der Gültigkeit der Erwartungsnutzenhypothese (siehe Kapitel , Seite ) aus. Ohne auf die Problematik des kardinalen Nutzens an dieser Stelle schon einzugehen (siehe dazu Kapitel , Seite ), ist anzumerken, dass die Voraussetzungen für die Anwendung eines derart starken Nutzenkonzepts in dem vorliegenden Gedankenexperiment kaum gegeben sein dürften. Auch der Rückgriff auf den Erwartungsnutzen ist, da es sich um ein einmaliges Ereignis handelt, mit Einschränkungen fragwürdig. Die Anwendung des Indifferenzprinzips führt hier zwar nicht zu Paradoxien, da man einigermaßen schlüssig davon ausgehen kann, dass wir es auf die Wahrscheinlichkeit beziehen, jeweils eine bestimmte individuelle Rolle zu übernehmen. Aber da die Annahme jeder anderen Wahrscheinlichkeitsverteilung genauso legitim wäre, kann Harsanyi an Rawls’ Ansatz nicht legitimerweise kritisieren, dass dabei implizit eine sehr unausgewogene Wahrscheinlichkeitsverteilung angenommen wird. (Ohne das Indifferenzprinzip lassen sich die dem Rawls’schen Ansatz vorgeworfenen Inkonsistenzen aber immer durch eine entsprechende Wahrscheinlichkeitsverteilung auffangen.)
Schließlich sei noch angemerkt – aber dies ist zugegebenermaßen mehr ein Vorbehalt – dass es bei Harsanyi manchmal so erscheint, als ob er den Utilitarismus nur auf Grund einer idiosynkratischen Vorliebe für ein Moralsystem bevorzugt, das sich am ehesten mit der von ihm offenbar geschätzten Stilform eines (wahrscheinlichkeitstheoretischen) Kalküls verbinden lässt, ohne dass er die dabei zu treffenden sittlichen Entscheidungen überhaupt bewusst als solche reflektiert. In der Einleitung seiner Rawls-Kritik lässt er die Bemerkung fallen, dass der Utilitarismus „up to now in its various forms was virtually the only ethical theory proposing a reasonably clear, systematic and purportedly rational concept of morality“ []harsanyi:1975 sei, als ob das die einzigen oder gar wichtigsten Maßstäbe wären, nach denen man die Entscheidung für oder gegen ein Moralsystem treffen müsste, und nicht vielmehr in erster Linie dessen sittlicher Gehalt! Sofern man die Kriterien „reasonably clear, systematic and purportedly rational“ nicht von vornherein in einem so engen Sinne versteht, dass seine Behauptung, dass nur der Utilitarismus sie erfülle, tautologisch wird, dürfte diese Behauptung philosophiehistorisch gesehen ohnehin schlichtweg falsch sein.