\section{Entscheidungen unter Unwissenheit I} In dieser und der folgenden Woche werden wir uns mit Entscheidungen unter Unwissen beschäftigen. Entscheidungen unter Unwissen sind Entscheidungen, bei denen wir nicht wissen mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Ereignisse (bzw. "`Welt-Zustände"') eintreten können, bei denen wir aber immer noch eine klare Vorstellung davon haben, mit welchen Ereignissen als Bedingungen unserer Entscheidungen und mit welchen Ergebnissen als Resultaten der Entscheidungen überhaupt zu rechnen ist. Entscheidungen unter Unwissen sind zu unterscheiden von Entscheidungen unter "`vollständiger Unwissenheit"' einerseits, bei denen wir nicht einmal mehr mit Sicherheit angeben können, zu welchen möglichen Resultaten unsere Handlungen führen können, und von "`Entscheidungen unter Risiko"' andererseits, bei denen wir zusätzlich Aussagen über Wahrscheinlichkeit der in Betracht zu ziehenden Ereignisse machen können. Naturgemäß bieten Entscheidungen unter Risiko, bei denen wir Wahr\-schein\-lich\-keiten angeben können, die besten Angriffspunkte für eine formale Theorie des Entscheidens. Aber auch Entscheidungen unter Unwissenheit sind bis zu einem gewissen Grade einer formalen Behandlung zugänglich, und weil dabei die Wahrscheinlichkeitstheorie nicht erforderlich ist, handelt es sich technisch gesehen sogar um den einfacheren Teil der Entscheidungstheorie, weshalb wir diesen Teil auch zuerst besprechen. \subsection{Die einfachste Entscheidungsregel: Das Prinzip der Dominanz} \label{DominanzPrinzip} Bisher haben wir nur über die Darstellung von Entscheidungsproblemen in Form von Entscheidungsbäumen und -tabellen gesprochen. Wie kann man aber nun (mit Hilfe von Bäumen oder Tabellen) Entscheidungsprobleme lösen? Ein besonders offensichtliches Prinzip, das bei der Lösung von Entscheidungsproblemen eine Rolle spielt, ist das {\em Prinzip der Dominanz}. Betrachten wir dazu noch einmal die eingangs vorgestellte Entscheidungstabelle: \begin{center} \begin{tabular}{cc|c|c|} & \multicolumn{1}{c}{} & \multicolumn{2}{c}{{\bf Zustand}} \\ & & schwere Klausur & leichte Klausur \\ \cline{2-4} & lernen & {\em bestehen} & {\em bestehen} \\ \cline{2-4} \raisebox{1.5ex}[-1.5ex]{{\bf Handlung}} & faulenzen & {\em durchfallen} & {\em bestehen} \\ \cline{2-4} \end{tabular} \end{center} Man sieht anhand der Tabelle sofort, dass es auf jeden Fall besser wäre zu lernen als zu faulenzen, denn in dem Fall, dass die Klausur schwer ist, erzielt man durch Lernen ein besseres Ergebnis und in dem Fall, dass sie leicht wird, ist das Ergebnis wenigstens nicht schlechter als wenn man nicht lernt. Das bei dieser Überlegung implizit zu Grunde gelegte Entscheidungsprinzip kann man folgendermaßen formulieren. \begin{quotation} \marginline{schwache Dominanz} {\em Prinzip der schwachen Dominanz}: Wenn eine Handlung unter allen Umständen zu einem mindestens gleichguten Ergebnis führt wie alle anderen Alternativen und in mindestens einem möglichen Fall zu einem besseren Ergebnis, dann wähle diese Handlung. \end{quotation} \marginline{starke Dominanz} Analog zu dem Prinzip der schwachen Dominanz kann man auch ein Prinzip der starken Dominanz aufstellen, bei dem gefordert wird, dass die zu wählende Handlung unter allen Umständen zu einem eindeutig besseren Ergebnis führt als sämtliche verfügbaren Alternativen. An dieser Stelle ist die Unterscheidung zwischen schwacher Dominanz und starker Dominanz noch nicht besonders wichtig. Der Begriff der starken Dominanz könnte sogar verzichtbar erscheinen. Allerdings spielt diese Unterscheidung spätestens bei der Suche nach geeigneten Lösungsstrategien in der Spieltheorie wieder eine wichtige Rolle und wird uns dort noch beschäftigen. \marginline{Mögliche Fehlschlüsse} Das Prinzip der schwachen Dominanz erscheint so einfach und eindeutig, dass man nicht vermuten sollte, dass es bei seiner Anwendung irgendwelche Schwierigkeiten auftreten könnten. Dass das nicht unbedingt stimmen muss, kann das folgende Beispiel verdeutlichen: Angenommen, Sie betreten ein Wettbüro, in dem Sportwetten für die Sportarten Fussball und Tennis angeboten werden. Der Einsatz beträgt in jedem Fall 2 Euro, aber da sehr viel weniger Leute an Tennis interessiert sind als an Fussball, können Sie bei einer Tenniswette höchstens € 10.000 gewinnen, während bei einer Fußballwette satte € 50.000 drin sind. Ihre Entscheidungstabelle würde als folgendermaßen aussehen: \begin{center} \begin{tabular}{c|c|c|} \multicolumn{1}{c}{ } & \multicolumn{1}{c}{Wette gewinnt} & \multicolumn{1}{c}{Wette verliert} \\ \cline{2-3} Tenniswette & € 9.998 & € -2 \\ \cline{2-3} Fussballwette & € 49.998 & € -2 \\ \cline{2-3} \end{tabular} \end{center} Wollte man in dieser Situation auf das Prinzip der Dominanz zurückgreifen, dann müsste man sich eigentlich ganz klar für die Fussballwette entscheiden. Warum könnte das aber ein Trugschluss sein? Der Grund ist folgender: Es ist höchst wahrscheinlich, dass die Gewinnchancen bei beiden Wetten sehr unterschiedlich verteilt sind. Werden einem zwei solche Wetten angeboten, dann ist davon auszugehen, dass die Gewinnchancen bei der Fussballwette sehr viel geringer sind als bei der Tenniswette. Je nachdem, um wieviel sie geringer sind, könnte es sein, dass die Tenniswette sogar aussichtsreicher ist als die Fussballwette. (Was "`aussichtsreicher"' dabei exakt heisst, werden wir noch genau definieren, wenn wir Entscheidungen unter Risiko besprechen.) Wenn man so will, besteht der "`Denkfehler"' bei diesem Beispiel also darin, dass die Problemspezifikation unvollkommen war, indem wichtige Hintergrundinformationen über die Natur dieses speziellen Entscheidungsproblem, \marginline{Handlungs\-ab\-hängige Wahr\-schein\-lich\-keiten} nämlich die Handlungs\-abhängigkeit der Eintrittswahrscheinlichkeiten der Ereignisse, bei der Formalisierung in Tabellenform "`vergessen"' wurden. % An diesem Beispiel wird zugleich deutlich, dass das Prinzip der Dominanz nur % dann sinnvoll angewandt werden kann, wenn die Chancen für das Eintreten der % Zufallsereignisse entweder gleichverteilt sind, oder wenn wir zumindest % keinerlei Wissen darüber haben, wie sie verteilt sein könnten.\footnote{Die % Anwendung des Dominanzprinzips im letzteren Fall ist aber umstritten. Siehe dazu auch, % was weiter unten zum "`Prinzip der Indifferenz"' (Abschnitt % \ref{Indifferenzprinzip}) gesagt wird.} Daneben gibt es aber noch ein weiteres denkbares Problem, wie das folgende, mit leichten Abwandlungen aus Resniks Buch \cite[S.9 ]{resnik:1987} übernommene Beispiel verdeutlicht. Das Beispiel gibt stark vereinfacht die strategische Problematik der Aufrüstung im kalten Krieg wieder: \begin{center} \begin{tabular}{c|c|c|} \multicolumn{1}{c}{ } & \multicolumn{1}{c}{Krieg} & \multicolumn{1}{c}{Frieden} \\ \cline{2-3} Aufrüsten & "`Tot"' & hohe Militärausgaben \\ \cline{2-3} Abrüsten & "`Rot"' & "`Friedensdividende"' \\ \cline{2-3} \end{tabular} \end{center} Nimmt man einmal an, dass es besser ist, sich zum Kommunismus bekehren zu lassen als zu sterben, dann müsste man nach dem Prinzip der Dominanz eigentlich Handlungsalternative "`Abrüsten"' eindeutig vorziehen, denn unabhängig davon, ob es Krieg oder Frieden gibt, erzielt man mit der Entscheidung zugunsten der Abrüstung in beiden Fällen das jeweils bessere Ergebnis. Wo ist der Haken an dieser Argumentation? Der "`Haken"' besteht darin, dass das Eintreten der Zustände "`Krieg"' oder "`Frieden"' nicht unabhängig davon ist, welche Handlung gewählt wird.\marginline{Strategische Interaktion} Zumindest nach Ansicht von Aufrüstungsbefürwortern hätte damals eine zu weit gehende Abrüstung die Gefahr eines Überfalls durch die Ostblockstaaten drastisch erhöht. Stimmt man dem zu, dann ist es keineswegs mehr so eindeutig, dass Abrüsten die bessere Wahl ist. Dieses Beispiel zeigt, dass es noch eine weitere stillschweigende Voraussetzungen für die Anwendung des Prinzips der Dominanz (wie sowie übrigens auch anderer Entscheidungsregeln) gibt, nämlich die Unabhängigkeit der "`Zufallsereignisse"' bzw. der Weltzustände von den getroffenen Entscheidungen. In dem angeführten Beispiel ist eine solche Unabhängigkeit nicht gegeben, da wir es mit einem Gegenspieler zu tun haben, der auf unsere Entscheidungen reagiert. Strengenommen haben wir es daher gar nicht mehr mit einem reinen Entscheidungsproblem zu tun, sondern mit einem Problem strategischer Interaktion, das bereits in das Gebiet der Spieltheorie fällt. \subsection{Präferenzen} \label{Praeferenzen} In der letzten Vorlesungsstunde wurde als Beispiel für ein mögliches Entscheidungsproblem, bei dem uns die Entscheidungstheorie {\em nicht} weiterhelfen kann, die Frage angeführt, ob der nächste Urlaub lieber in den Bergen oder an der See gebucht werden sollte. Der Grund, weshalb uns die Entscheidungstheorie hier nicht weiterhelfen kann, besteht darin, dass es bei diesem Entscheidungsproblem noch darum geht, wie die verschiedenen Ergebnisse der Entscheidung zu bewerten sind. Grundsätzlich setzt die Entscheidungstheorie voraus, dass wir uns über die Bewertung der möglichen Ergebnisse, sprich über unsere {\em Präferenzen} schon im Klaren sind. Im Folgenden ist daher zunächst einiges über Präferenzen zu sagen, insbesondere welche Anforderungen an die Präferenzen gestellt werden müssen, damit sie im Sinne der Entscheidungstheorie wohlgeformt sind. Unter {\em Präferenz} ist im Zusammenhang der Entscheidungstheorie eine Relation zu verstehen, die festlegt, wann ein mögliches Resultat\footnote{Die {\em Resultate} eines Entscheidungsprzesses sind nicht zu verwechseln mit der Entscheidung selbst. Das Resultat ist vielmehr das, was bei einer Entscheidung heraus kommt, die Entscheidung selbst ist die Wahl, die man trifft, um dann ggf. ein bestimmtes Resultat zu erzielen. Die Präferenzen, von denen hier die Rede ist beziehen sich zunächst auf die Resultate, auch wenn man im übertragenen Sinne ebenfalls davon sprechen könnten, dass eine Entscheidung einer anderen {\em vorgezogen} wird, weil man sich von ihr ein besseres Resultat erhofft.} eines Entscheidungsprozesses einem anderen vorgezogen wird. (Da wir es mit Entscheidungsproblemen zu tun haben, bezieht sich unsere Präferenzrelation auf die möglichen Resultate von Entscheidungsprozessen. In der Ökonomie würde man die Präferenzrelation dagegen eher auf der Menge möglicher "`Güterbündel"' oder dergleichen definieren. Der Einfachtheit halber wird daher im Folgenden auch oft von "`Gütern"' anstelle von "`Resultaten"' oder "`Ergebnissen"' die Rede sein.) Wenn $x$ und $y$ zwei mögliche Resultate eines Entscheidungsprozesses sind, dann schreiben wir $x \succ y$, um auszudrücken, dass $x$ gegenüber $y$ vorgezogen wird. Und wir schreiben $x \sim y$, wenn $x$ und $y$ gleich gut bewertet werden bzw. wenn diejenige Person, die die Entscheidung trifft, zwischen $x$ und $y$ {\em indifferent} ist. Eine wohlgeformte Präferenzrelation muss folgende fundamentale Eigenschaften erfüllen: \marginline{Eigenschaften der Präferenzrelation} \begin{enumerate} \label{Ordnungsaxiome} \item {\em Antisymmetrie:} Wenn $x \succ y$, dann nicht $y \succ x$ und auch nicht $x \sim y$ \item {\em Zusammenhang:} Für jedes Paar $x, y$ aus der Menge der möglichen Resultate gilt entweder $x \succ y$ oder $y \succ x$ oder $x \sim y$ \item {\em Transitivität:} Wenn $x \succ y$ und $y \succ z$, dann auch $x \succ z$. (In analoger Weise gilt: $x \sim y \wedge y \sim z \Rightarrow x \sim z$, sowie weiterhin: $x \sim y \wedge y \succ z \Rightarrow x \succ z$ und: $x \succ y \wedge y \sim z \Rightarrow x \succ z$) \end{enumerate} \marginline{Recht\-fertigungs\-problem des Präferenz\-konzepts} Mit welchem Recht können wir fordern, dass eine Präferenzrelation diese Eigenschaften erfüllen muss? Man kann diese Frage von zwei Seiten aus betrachten: 1) von der Seite des entscheidungstheoretischen Formalismus aus und 2) von der empirischen und normativen Seite aus. Von der Seite des entscheidungstheoretischen Formalismus stellt sich die Situation so dar, dass z.B. bestimmte Lösungsverfahren nur dann tatsächlich richtige (d.h. die Präferenzen optimal erfüllende) Entscheidungen liefern, wenn die Präferenzrelation in dem oben beschriebenen Sinne wohlgeformt ist; und zwar schon deshalb, weil die entsprechenden Lösungsverfahren unter genau dieser Voraussetzung entwickelt worden sind. Anderseits gilt aber auch, dass die Entscheidungstheorie beansprucht unser Handeln beschreiben (empirische Anwendung der Entscheidungstheorie) und richtig anleiten (normative Anwendung der Entscheidungstheorie) zu können. Dann sollten diese Eigenschaften auch den Eigenschaften von Präferenzen von Menschen in empirischen Entscheidungssituationen mehr oder weniger entsprechen.\footnote{Insgesamt haben wir es hier mit drei Perspektiven auf die Entscheidungstheorie zu tun: 1. der logischen; 2. der empirischen; 3. der normativen. Häufig wird nur zwischen den letzteren beiden unterschieden. Dabei wird dann in der Regel eingeräumt, dass die Entscheidungstheorie zwar das empirisch beobachtbare Verhalten von Menschen nicht richtig beschreibt. Aber meistens wird dennoch darauf bestanden, dass sie in normativer Hinsicht dennoch zu richtigen Entscheidungen anleitet. Das stimmt insofern, als die normative Anwendung vergelichsweise schwächere erkenntnistheoretische Rechtfertigungsprobleme aufwirft als die empirische, aber auch die normative Anwendung beruht immer noch auf bestimmten empirischen Voraussetzungen, wie z.B. der, dass wohlgeformte Präferenzrelationen die empirischen Phänomene der Präferenz (d.i. des Vorziehens, des Beabsichtigens, des Wertschätzens etc.) halbwegs richtig erfassen. Vgl. dazu die klassische Darstellung von Savage \cite[S. 7ff.]{savage:1954}, der hinsichtlich solcher subtiler Unterscheidungen im Übrigen sehr umsichtig und genau verfährt.} Kann man das ungeprüft voraussetzen? Wenigstens bei den Eigenschaften der {\em Transitivität} und des {\em Zusammenhangs} sind in dieser Hinsicht erhebliche Abstriche zu machen. Zur {\em Tansitivität}: Wie könnte man zunächst einmal die Eigenschaft der Transitivität rechtfertigen? \marginline{Geldpumpen\-argument}\label{Geldpumpenargument} Ein beliebtes Argument zur Rechtfertigung dieser Eigenschaft ist das sogenannte {\em Geldpumpenargument}. Angenommen, es gibt jemanden, dessen Präferenzen nicht transitiv sind. Dann gibt es drei Weltzustände (bzw. "`Resultate"' oder "`Güterbündel"') $a, b, c$, für die für diese Person gilt: $a \prec b \prec c \prec a$. Wenn diese Person aber b gegen über a vorzieht, so bedeutet dass (wie die Ökonomen glauben), dass sie gegebenenfalls bereit wäre, für den Übergang von a zu b einen bestimmten Geldbetrag zu zahlen. Dann wäre sie aber wiederum bereit einen Geldbetrag für den Übergang von b zu c bezahlen. Ist sie aber erst einmal bei c angekommen, dann würde sie wegen $c \prec a$ nochmals bereit sein für den Übergang zu a in die Tasche zu greifen, und das ganze Spiel fängt von vorne an und könnte beliebig oft wiederholt werden. Die Überlegung zeigt, dass intransitive Präferenzen in gewisser Weise unplausibel bzw. inkonsequent sind. \marginline{Beispiel für sinnvolle intransitive Präferenzen} \label{intransitivePraeferenzen} Allerdings gibt es ebenso Beispiele dafür, dass Präferenzen auf ganz natürliche Wese transitiv sein können, z.B. das folgende \cite[S. 20]{delong:1991}: Frau Schmidt möchte einen Schachcomputer kaufen. Es gibt drei Modelle, A, B und C. Einem Testbericht kann sie entnehmen, dass Modell A in einem Probespiel Modell B geschlagen hat. Modell B hat wiederum Modell C geschlagen, aber Modell C hat Modell A geschlagen. (Man kann sich überlegen, dass diese Situation sehr wohl möglich ist, denn es ist denkbar, dass der Algorithmus von Modell A mit dem von Modell B sehr gut "`klarkommt"', aber nicht mit dem von Modell C, auch wenn Modell C schlechter als Modell B ist.) Die einzig sinnvollen Präferenzen, die Frau Schmidt in Bezug auf die Schachcomputer haben kann, sind in diesem Fall intransitiv, nämlich $A \succ B \succ C \succ A$. Man kann leicht andere Beispiele dieser Art konstruieren. Der Grund für die, in diesem Fall, sinnvolle Intransitivität von Präferenzen liegt darin, dass sich unsere Präferenzen häufig an objektive Beziehungen wie "`stärker als"', "`besser als"', "`Sieger über"' etc. knüpfen, die ihrerseits oftmals nicht transitiv sind. (So ist ja auch z.B. von der Fussballmanschaft an der Spitze der Liga keineswegs gesagt, dass sie alle anderen Mannschaften besiegt oder mindestens unentschieden gespielt hat.) Wenn es aber sinnvolle transitive Präferen gibt, was wird dann aus dem Geldpumpenargument, könnte man nun fragen. Die Antwort darauf ist, dass man dann, wenn intransitive Präferenzen auftreten, verschiedene Mechanismus anwenden kann, um mit den möglicherweise daraus resultierenden Problemen fertig zu werden. In dem Beispiel von eben könnte Frau Schmidt sich einfach beliebig für irgendeinen der Schachcomputer entscheiden oder ein Los werfen. (Dass es einem raffinierten Verkäufer tatsächlich gelingen könnte, eine Geldpumpe aus ihr zu machen, ist wohl eher unrealistisch\ldots\footnote{Rabin und Thaler formulieren es sehr treffend: "`It does not seem to us obvious that if you can take some of a fool’s money from him some of the time then you can take all of his money all of the time"'.\cite[S. 227]{rabin-thaler:2001} Den Hinweis auf den Artikel von Rabin und Thaler verdanke ich Matthias Brinkmann.}) \marginline{Inkonsistenz bei kollektiven Präferenzen} Ganz besonders stellt sich das Problem intransitiver oder, ganz allgemein gesprochen, inkonsistenter Präferenzn im Zusammenhang von Kollektivpräferenzen (d.h. den gemeinsamen Präferenzen eines Kollektivs von Menschen). Wie wir gesehen haben, sind schon die Präferenzen einzelner Menschen nicht immer transitiv geordnet (und zwar nicht bloß auf Grund von Inkonsequenz oder menschlicher Unvollkommenheit, sondern weil es manchmal durchaus Sinn hat, wenn Präferenzen nicht transitiv sind!). Diese Situation tritt nocht viel leichter auf, wenn wir vor dem Problem stehen, aus den Einzelpräferenzen einer Vielzahl von Individuuen eine sinnvolle kollektive Präferenz abzuleiten. Denn dazu müsste irgendein geeigneter Abstimmungsmechanismus vorhanden sein, der es erlaubt aus den vielfältigen und möglicherweise höchst disparaten Interessen der Einzelnen eine gemeinsame Zielvorstellung zu bilden. Es gehört nun aber zu den interessantesten Theoremen der Social-Choice Theory, die unter Stichworten wie "`Paradox des Liberalismus"' und "`Satz von Arrow"' bekannt geworden sind, dass einen solchen Abstimmungsmechanismus zu finden nicht immer leicht und manchmal sogar unmöglich ist, sofern bestimmte Anforderungen an die Fairness und die Vernunft eines solchen Abstimmungsmechanismus gestellt werden. (Inwiefern diese Anforderungen notwendig sind oder variiert werden können, so dass die "`Probleme"' nicht mehr auftreten, ist dann Gegenstand der Diskussion.) Wir werden auf diese Theoreme im Laufe dieses Semesters noch ausführlich eingehen (Kapitel \ref{LiberalismusParadox} und \ref{SatzVonArrow} dieses Skripts). Eine weitere Einschränkung der Gültigkeit der Annahme transitiver Präferenzen ergibt sich aus folgender Überlegung \cite[p. 23/24]{resnik:1987}: \marginline{Grenzen der Transitivität bei marginalen Präferenzunterschieden} Man stelle sich zwei Tassen Kaffe vor, eine ohne Zucker und eine, die eine sehr kleine Menge Zucker enthält, gerade so viel, dass man den Zucker beim Trinken noch nicht bemerkt. Jemand, der entscheiden sollte, welche Tasse Kaffee er vorzieht, würde also indifferent zwischen diesen beiden Kaffeetassen sein, auch wenn er vielleicht gezuckerten Kaffee bevorzugt. Nun denken wir uns eine dritte Kaffeetasse, die wiederum ein klein wenig mehr Zucker enthält als die zweite, aber nicht so viel mehr, als dass man den Unterschied bemerken könnte. Dann, eine vierte Kaffeetasse, die sich wiederum von der dritten durch einen nur marginal größeren Zuckergehalt unterscheidet usw. Irgendwann haben wir dann eine Kaffeetasse, die soviel Zucker enthält, dass sich der Geschmack von dem der allerersten Kaffeetasse deutlich unterscheidet. Dann würde jemand, der gezuckerten Kaffee bevorzugt, diese letzte Tasse unseres Gedankenexperiments der ersten Tasse sicherlich vorziehen, was aber im Widerspruch zur Transitivität der Indifferenzbeziehung steht. Das Gedankenexperiment ist zudem so konstruiert, dass es sich in diesem Fall nicht um ein Beispiel von Inkonsequenz oder Irrationalität handelt, sondern dass sich die Transitivität der Präferenzrelation "`beim besten Willen"' nicht aufrecht erhalten lässt. Wenn wir das Gedankenexperiment als glaubhaft ansehen, dann bleibt uns nichts weiter übrig als zuzugestehen, dass wir in der Wirklichkeit nicht immer von transitiven Präferenzen ausgehen können, und dass die Präferenzrelation, so wie sie hier definiert ist, lediglich eine bessere oder manchmal auch schlechtere Annhährung an die Wirklichkeit darstellt. Man kann bereits an dieser Stelle antizipieren, dass unsere Modelle und Theorien spätestens dann in Schwierigkeiten geraten, wenn sie irgendwann einmal, und möglicherweise völlig unbemerkt (!), innerhalb einer komplizierten mathematischen Beweisführung allzu starke Anforderungen an die Gültigkeit von Indifferenzbeziehungen stellen.\footnote{An diesem Problem leidet ganz wesentlich die mathematische Rückführung kardinaler auf ordinale Präferenzen, die in Kapitel \ref{NeumannMorgenstern} und \ref{DiskussionNeumannMorgenstern} vorgestellt und diskutiert wird.} Der tiefere Grund für das eben beschriebene Problem besteht darin, dass Relationen vom Typ "`{\em ungefähr} gleich wie"' im Gegensatz zu Relationen vom Typ "`gleich wie"' nicht (vollkommen) transitiv sind. Da wir es in der Empirie aber schon auf Grund von Messungenauigkeiten fast immer mit dem ersteren Typ zu tun haben, kann das zu Problemen führen, wenn man vollständige (d.h. über eine beliebig große Anzahl von Zwischengliedern erhalten bleibende) Transitivität voraussetzt. \marginline{Grenzen des Zusammenhangs von Präferenzen} Neben der Transitivität, lässt sich aber auch in Zweifel ziehen, ob man stets davon ausgehen kann, dass unsere Präferenzen {\em zusammenhängend} sind. Zumindest wenn wir eine größere und nicht mehr ohne Weiteres überschaubare Menge von Gütern (oder möglichen Entscheidungsresultaten) betrachten, kann man sich leicht vorstellen, dass es nicht mehr so ohne Weiteres möglich ist, von jedem Paar aus dieser Menge eindeutig zu sagen, welche der Relationen $\succ$, $\prec$ oder $\sim$ zwischen den beiden Gliedern des Paars besteht. Einige Autoren wie z.B. \cite{kaplan:1996}, die die Voraussetzung durchgehend zusammenhängender Präferenzen für allzu artifiziell halten, führen deshalb neben der Beziehung der {\em Indifferenz}, die besteht, wenn wir zwei Güter gleich hoch schätzen, eine davon deutlich zu unterscheidende Beziehung der {\em Unentschiedenheit} oder auch "`Unentschlossenheit"' ein, die dann besteht, wenn wir nicht sicher sind, ob wir eine Sache einer anderen vorziehen oder nicht, was ja etwas anderes ist, als wenn wir eine Sache als genauso gut bewerten wie eine andere. \marginline{Unterschied von Indifferenz und Unentschiedenheit} Dieser Unterschied ist recht subtil, denn man kann sowohl hinsichtlich der Indifferenz als auch hinsichtlich der Unentschiedenheit mit Recht sagen, dass wir {\em weder} den einen {\em noch} den anderen der beiden Gegenstände, zwischen denen wir indifferent bzw. unentschieden sind, dem anderen vorziehen. Trotzdem ist es noch etwas anderes, wenn wir es deshalb nicht tun, weil sie uns beide gleich lieb sind, oder deshalb, weil wir unentschieden zwischen beiden sind. Die Annahme, dass es so etwas wie Unentscheidenheit gibt, erscheint besonders bei unüberschaubar großen Gegenstandsmengen oder bei solchen Gegenstandsmengen, die Güter von sehr unterschiedlicher Art enthalten, sehr viel realistischer, denn anderenfalls würde man voraussetzen, dass die Frage, welches von zwei Gütern man vorzieht, oder ob man sie beide als gleichwertig beurteilt, immer schon entschieden ist, selbst wenn wir sie uns im konkreten Fall noch gar nicht vorgelegt haben. Aber es ist immerhin möglich, eine Entscheidungstheorie auch auf der Grundlage zu konstruieren, dass es neben Bevorzugung und Indifferenz auch so etwas wie Untschlossenheit gibt. In diesem Fall muss man die Forderung, dass die Präferenzen "`zusammenhängend"' sind, zu der Eigenschaft des {\em beschränkten Zusammenhangs} abschwächen \cite[S. 13, 24]{kaplan:1996}. Noch weiter geht der Ansatz, die Entscheidungstheorie nicht "`präferenzbasiert"', sondern "`wahlbasiert"' aufzubauen \cite[SEITE???]{mascolell-whinston-green:1995}. \marginline{Präferenz\-basierter und wahlbasierter Ansatz} Dabei wird statt einer Präferenzrelation über einer Menge von Alternativen ({\em präferenzbasierter Ansatz}) eine Wahlfunktion definiert, die aus Teilmengen einer Menge von Alternative die bevorzugte Alternative innerhalb dieser Teilmenge auswählt ({\em wahlbasierter Ansatz}). Die Formulierung der Entscheidungstheorie gestaltet sich dadurch technisch etwas komplizierter. Wir werden im Folgenden daher nur den präferenzzentrierten Ansatz zu Grunde legen und der Einfachheit halber davon ausgehen, dass es keine Unentschiedenheit gibt bzw. dass alle denkbaren Unentscheidenheiten im Vorfeld der Entscheidungsfindung geklärt worden sind. Rechtfertigen lässt sich das auf jeden Fall solange, wie wir uns auf Anwendungsfälle nur mit sehr begrenzten und überschaubaren Zielmengen beschränken. Zudem setzen wir eine gültige Präferenzrelation nur jeweils {\em lokal} für das in Frage stehende Entscheidungsproblem voraus. Wir unterstellen nicht, dass irgendjemand "`global"' (d.h. bezüglich aller Ziele und Wünsche, die man im Leben haben kann) über wohlgeordnete (d.h. transitive und durchgängig zusammenhängende) Präferenzen verfügt. \subsection{Ordinale Nutzenfunktionen} Mit Hilfe einer Präferenzrelation kann man die Gütermenge, auf die sich die Relation bezieht, in eine Menge von Indifferenzklassen {\em partionieren}, indem man jeder Indifferenzklasse alle diejenigen Güter zuordnet, zwischen denen Indifferenz herrscht. \marginline{Indifferenz\-klassen} Ist die Präferenzlrelation wohlgeformt, dann schöpfen die Indifferenzklassen die gesamte Gütermenge aus, und jedes Gut ist Element genau einer Indifferenzklasse.\footnote{Ökonomen sprechen statt "`Indifferenzklassen"' auch gerne von "`Indifferenzkurven"'. Die Indifferenzkurven erhält man, wenn man die Indifferenzklassen grafisch darstellt.} Weiterhin induziert die Ordnung der Güter durch die Präferenzrelation eine Ordnung auf der Menge der Indifferenzklassen. Wir können schreiben, $I_x \succ I_y$ genau dann wenn $x \succ y$ für $x \in I_x, y \in I_y$, wobei mit $I_x$ bzw. $I_y$ jeweils die Indifferenzklasse gemeint sein soll, der $x$ bzw. $y$ angehört.\footnote{Man beachte, dass, wenn man die Indifferenzklassen in dieser Weise durch die in ihnen enthaltenen Güter identifiziert, unterschiedlich idizierte Indifferenzklassen, z.B. $I_a$,$I_b$ durchaus ein- und diesselbe Indifferenzklasse darstellen können, nämlich dann, wenn zwischen den Gütern im Index Indifferenz herrscht, also wenn $a \sim b$.} Aus der Konstruktion der Indifferenzklassen ergibt sich dabei, dass wenn $x \succ y$ für ein irgend ein beliebiges $x \in I_x$ und ein beliebieges $y \in I_y$ dann gilt $x' \succ y'$ für jedes $x' \in I_{x'}$ und jedes $y' \in I_{y'}$. Wir können nun den Indifferenzklassen bzw. ihren Elementen Zahlen zuordnen, deren Ordnung der Ordnung der Indifferenzklassen entspricht. \marginline{Nutzen\-funktionen und Nutzenskalen} Diese Zuordnung bezeichnen wir als {\em Nutzenfunktion} oder auch als {\em Nutzenskala}, wobei die Nutzenskala jedoch strenggenommen die Zielmenge der Nutzenfunktion ist. Eine Nutzenfunktion $u: G \mapsto \mathbb{R}$ ist also eine Abbildung der Gütermenge $G$ auf die reellen Zahlen, für die Folgendes gelten muss: \begin{eqnarray} u(x) > u(y) \quad\mbox{genau dann wenn}\quad x \succ y \\ u(x) = u(y) \quad\mbox{genau dann wenn}\quad x \sim y \end{eqnarray} Wichtig ist dabei, dass bei dieser Art von Nutzenfunktionen, den zugeordneten Zahlenwerten keine andere Bedeutung zukommt als diejenige, das Ordnungsverhältnis zwischen den Gütern auszudrücken. Man kann also z.B. sagen, dass ein Gut x, dem eine Nutzenfunktion den Wert 4 zuordnet, nützlicher ist als ein Gut y, dem sie den Wert 1 zuordnet. Aber es wäre falsch zu sagen, dass das Gut x viermal so nützlich ist, wie das Gut y. Die beiden folgenden Nutzenfunktionen drücken dementsprechend denselben Nutzen aus: \begin{center} \begin{tabular}{c|c|c|ccc|c|c|c} G & x & y & z & & G & x & y & z \\ \cline{1-4} \cline{6-9} u & 1 & 2 & 3 & & v & -1 & 2 & 7 \\ \end{tabular} \end{center} Man nennt die so interpretierten Nutzenfunktionen auch {\em ordinale Nutzenfunktionen}. Zwei ordinale Nutzenfunktionen beschreiben genau dann denselben Nutzen, wenn sie sich durch "`ordnungserhaltende Transformationen"' ineinander überführen lassen. Eine ordnungserhaltende oder auch "`{\em ordinale Transformation}"' ist eine Transformation, die die Bedingung erfüllt: \marginline{ordinale Transformationen} \begin{eqnarray} t(a) > t(b) \quad\mbox{genau dann wenn}\quad a > b \quad\mbox{für alle}\quad a, c \in \mathbb{R} \end{eqnarray} wobei $G$ die Gütermenge und $t: \{ u(x) | x \in G\} \mapsto \mathbb{R}$ die Transformation der Nutzenskala $u$ in eine andere Nutzenskala ist. Mit Hilfe ordinaler Nutzenskalen lassen sich unsere Entscheidungstabellen (oder unsere Entscheidungsbäume) in einer noch einfacheren und übersichlicheren Form darstellen, indem wir die möglichen Resultate des Entscheidungsprozesse durch ihre Zahlenwerte auf einer (beliebigen) Nutzenskala widergeben. Die Entscheidungstabellen sehen dann noch einmal etwas schematischer aus, z.B. so: \begin{center} \begin{tabular}{c|c|c|c|c|} \multicolumn{1}{c}{ } & \multicolumn{1}{c}{$S_1$} & \multicolumn{1}{c}{$S_2$} & \multicolumn{1}{c}{$S_3$} & \multicolumn{1}{c}{$S_4$} \\ \cline{2-5} $A_1$ & 3 & 7 & 2 & 0 \\ \cline{2-5} $A_2$ & 2 & 1 & 2 & -1 \\ \cline{2-5} $A_3$ & 4 & 6 & 5 & 0 \\ \cline{2-5} \end{tabular} \end{center} Ein Vorteil dieser Darstellung besteht darin, dass sich Entscheidungs\-regeln besonders leicht anwenden lassen, da sich die Präferenzordnung unmittelbar an der Größe der Zahlen ablesen lässt. In diesem Beispiel kann man beinahe sofort "`sehen"', dass die Entscheidung $A_2$ durch beide anderen Handlungsalternativen dominiert wird und damit sicherlich ausscheidet. Welche der verbleibenden Alternativen gewählt werden solte, lässt sich anhand der Dominanz allein nicht mehr entscheiden. Dafür benötigt man weitergehende Entscheidungsregeln, denen wir uns nun zuwenden. \subsection{Entscheidungs\-regeln auf Basis des ordinalen\\Nutzens} Mit dem {\em ordinalen Nutzen} haben wir das Rüstzeug um einige einfache Entscheidungsregeln zu formulieren. Für kompliziertere Entscheidungsregeln benötigen wir stärkere Nutzenkonzepte, wie das des kardinalen Nutzens bzw. der "`Neumann-Morgensternschen Nutzenfunktion"', die weiter unten besprochen wird (Kapitel \ref{NeumannMorgenstern}). Im folgenden werden wir mehrere unterschiedliche Entscheidungsregeln besprechen, die alle auf ihre Weise sinnvoll sind, deren Anwendung aber interessanterweise zu jeweils anderen Entscheidungsempfehlungen führt. Wenn diese Regeln aber jeweils unterschiedliche Entscheidungsempfehlungen nahelegen, dann wirft das die Frage auf, welche dieser Regeln denn nun eigentlich die "`richtige"' Entscheidung empfiehlt. Dazu ist zu sagen, dass es im Bereich der "`Entscheidungen unter Unwissen"' keine unter allen Umständen beste Regel gibt. Alle der in dieser und der nächsten Woche besprochenen Regeln haben ihre relative Berechtigung, je nach der Situation in der sich das Entscheidungsproblem stellt. Anders sieht die Sache erst aus, wenn wir Entscheidungen unter Risiko betrachten. Denn dort kann man zeigen, dass mit der {\em Erwartungsnutzenhypothese} unter wenigen Einschränkungen in der Tat so etwas wie eine eindeutig beste Entscheidungregel vorhanden ist. Bei den Entscheidungen unter Unwissenheit gibt es aber keine solche beste oder einzig richtige Regel. Daher stellt sich bei jeder der folgenden Regeln die Frage: Wann sollte man sie anwenden? Oder auch: Warum sollte man gerade diese Regel anwenden? Die Antwort auf diese Fragen muss zwangsläufig von der Situation und/oder von subjektiven Voraussetzungen wie Vorlieben oder Abneigungen abhängig sein. Denn gäbe es eine generelle Antwort, dann hätte man damit auch eine beste Regel. \subsubsection{Die Maximin-Regel} \label{maximinRegel} Die erste Entscheidungsregel, die wir besprechen wollen, ist die sogenannte {\em Maximin-Regel}, die besagt, dass man die Verluste minimieren soll, oder, was dasselbe ist, dass man das minimale Ergebnis maximieren soll. (Eben deshalb heißt sie "`Maximin-Regel"'.) Mit Hilfe von Entscheidungstabellen kann man die Regel folgendermaßen anwenden: \marginline{einfache Maximinregel} Zunächst markiert man in jeder Zeile (also für jede Handlungsalternative) den kleinsten Nutzenwert. Und anschließend wählt man diejenige Handlung aus, bei der markierte Wert von allen am größten ist. Das sieht dann folgendermaßen aus: \begin{center} \begin{tabular}{l|c|c|c|c|} \multicolumn{1}{c}{ } & \multicolumn{1}{c}{$S_1$} & \multicolumn{1}{c}{$S_2$} & \multicolumn{1}{c}{$S_3$} & \multicolumn{1}{c}{$S_4$} \\ \cline{2-5} $A_1$ & 3 & 4 & 7 & 1* \\ \cline{2-5} $A_2$ & -6* & 12 & 2 & 2 \\ \cline{2-5} $A_3$ & 5 & 0* & 3 & 1 \\ \cline{2-5} $A_4$** & 2* & 4 & 3 & 2* \\ \cline{2-5} $A_5$ & 3 & 5 & 5 & 1* \\ \cline{2-5} \end{tabular} \end{center} Die nach der Maximin-Regel beste Entscheidung ist in diesem Fall also die Entscheidung $A_4$, weil das schlechteste mögliche Ergebnis bei dieser Entscheidung mit einer 2 bewertet ist, während es bei allen anderen Entscheidungen einen noch niedrigeren Wert hat. (Dass der Wert 2 dabei bei dieser Entscheidung zweimal vorkommt, schadet nicht.) Führt diese Entscheidungsregel immer zu einem eindeutigen Ergebnis? Nicht unbedingt, denn es ist ja möglich dass das schlechteste mögliche Ergebnis mehrerer Handlungsalternativen den gleichen Nutzenwert hat. Wie sollte man nun vorgehen? Eine naheliegende Erweiterung der Maximin-Regel besagt, dass man in diesem Fall unter den verbleibenden Handlungsalternativen nach dem zweitschlechtesten Ergebnis auswählen soll, dann nach dem drittschlechtesten usf. \marginline{lexikalische Maximinregel} Diese Erweiterung der Maximin-Regel nennt man auch die {\em lexikalische Maximin-Regel}. Auf ein Beispiel angewandt, funktioniert das folgendermaßen: \begin{center} \begin{tabular}{l|c|c|c|c|} \multicolumn{1}{c}{ } & \multicolumn{1}{c}{$S_1$} & \multicolumn{1}{c}{$S_2$} & \multicolumn{1}{c}{$S_3$} & \multicolumn{1}{c}{$S_4$} \\ \cline{2-5} $A_1$ & 2 & 4 & 1* & 6 \\ \cline{2-5} $A_2$ & 0* & 3 & 12 & 7 \\ \cline{2-5} $A_3$* & 5 & 2* & 3 & 4 \\ \cline{2-5} $A_4$ & 2 & -1* & 7 & 1 \\ \cline{2-5} $A_5$* & 2* & 6 & 4 & 5 \\ \cline{2-5} \end{tabular} \end{center} Nach dem ersten Schritt bleiben also nur noch die Entscheidungen $A_3$ und $A_5$ übrig. Im zweiten Schritt reduzieren wir die Tabelle auf diese beiden Strategien und ignorieren das jeweils schlechteste Ergebnis, um uns nun nach dem zweitschlechtesten zu richten: \begin{center} \begin{tabular}{l|c|c|c|c|} \multicolumn{1}{c}{ } & \multicolumn{1}{c}{$S_1$} & \multicolumn{1}{c}{$S_2$} & \multicolumn{1}{c}{$S_3$} & \multicolumn{1}{c}{$S_4$} \\ \cline{2-5} $A_3$ & 5 & x & 3* & 4 \\ \cline{2-5} $A_5$** & x & 6 & 4* & 5 \\ \cline{2-5} \end{tabular} \end{center} Die beste Entscheidung nach der lexikalischen Minimax-Regel besteht also in der Wahl der Handlung $A_5$. (Und wenn selbst die lexikalische Minimax-Regel kein eindeutiges Ergebnis zu Tage fördert, dann ist es wirklich egal, welche der verbleibenden Handlungen man wählt, oder?) Sollte der kleineste Wert, wie in der folgenden Tabelle, mehrmals vorkommen, dann darf er nur einmal gestrichen werden, wobei es beliebig ist, an welcher Stelle er gestrichen wird: \begin{center} \begin{tabular}{l|c|c|c|} \multicolumn{1}{c}{ } & \multicolumn{1}{c}{$S_1$} & \multicolumn{1}{c}{$S_2$} & \multicolumn{1}{c}{$S_3$} \\ \cline{2-4} $A_1$ & -1 & 2 & 100 \\ \cline{2-4} $A_2$ & -1 & -1 & 3 \\ \cline{2-4} \end{tabular} \end{center} Beispielsweise könnte man im ersten Schritt den Wert -1 in der zweiten Zeile in der zweiten Spalte streichen: \begin{center} \begin{tabular}{l|c|c|c|} \multicolumn{1}{c}{ } & \multicolumn{1}{c}{$S_1$} & \multicolumn{1}{c}{$S_2$} & \multicolumn{1}{c}{$S_3$} \\ \cline{2-4} $A_1$ & x & 2 & 100 \\ \cline{2-4} $A_2$ & -1 & x & 3 \\ \cline{2-4} \end{tabular} \end{center} Damit ist klar, dass die Handlung $A_1$ gewählt werden sollte, denn in der reduzierten Tabelle ist der minimale Gewinn bei Handlung $A_1$ mit 2 größer als bei Handlung $A_1$ mit -1. In welchen Situationen bietet sich die Verwendung der Minimax-Regel an? Sicherlich wird man dann auf diese Regel zurückgreifen, wenn es bei irgendeiner Entscheidungssituation vor allem darum geht, Schäden zu vermeiden, also z.B. wenn Leib und Leben in Gefahr geraten könnten. \marginline{Anwendung der lexikalischen Maximin-Regel} Ein sehr berühmtes Beispiel für die Anwendung der Maximin-Regel in der Philosophie hat John Rawls geliefert, der in seiner "`Theorie der Gerechtigkeit"' fordert, dass man die Gerechtigkeit der Gesellschaftordnung nach dem Maximin-Prinzip beurteilen soll: Diejenige Gesellschaftsordnung ist die Gerechteste, in der es den am schlechtesten Gestellten im Vergleich zu allen anderen möglichen und, so eine weitere Forderung von Rawls, {\em freien} Gesellschaftsordnungen am Besten geht \cite[S. 96ff.]{rawls:1971}. Damit setzt sich Rawls bewusst vom Utilitarismus ab, der bekanntlich fordert, den Gesamtnutzen aller zu maximieren. Wir werden in der nächsten Vorlesungsstunde auf diese Diskussion noch ausführlicher eingehen (Kapitel \ref{RawlsHarsanyiDebatte}). \subsubsection{Die Maximax-Regel} Analog zur Maximin-Regel könnte man, wenn man wollte, auch eine {\em Max\-imax}-\-Regel formulieren. Nach der Maximax-Regel müsste dann diejenige Handlung gewählt werden, bei der der maximale Erfolg am größten ist. Diese Regel ist eher etwas für ausgeprägte Optimisten oder sehr risikobereite Menschen oder für Situationen, in denen es mehr darauf ankommt, Kühnheit und Sportsgeist zu zeigen als Vorsicht und Besonnenheit. Genauso wie sich zur Maximin-Regel eine lexikalischen Maximin-Regel bilden lässt, ließe sich ebenfalls eine lexikalische Maximax-Regel zur Maximax-Regel formulieren. \subsubsection{Die Rangordnungsregel} \label{Rangordnungsregel} Wie würde man die Lösung zu beurteilen haben, die die Maximin-Regel für folgendes Beispiel liefert: \begin{center} \begin{tabular}{c|c|c|c|c|c|} \multicolumn{1}{c}{ } & \multicolumn{1}{c}{$S_1$} & \multicolumn{1}{c}{$S_2$} & \multicolumn{1}{c}{$S_3$} & \multicolumn{1}{c}{\ldots} & \multicolumn{1}{c}{$S_{100}$} \\ \cline{2-6} $A_1$ & 0 & 2 & 2 & $\cdots$ & 2 \\ \cline{2-6} $A_2$ & 1 & 1 & 1 & $\cdots$ & 1 \\ \cline{2-6} \end{tabular} \end{center} Nach der Maximin-Regel müsste man $A_2$ wählen. Das bedeutet aber, man zieht $A_2$ der Handlung $A_1$ vor, obwohl von 100 Fällen $A_2$ nur in einem einzigen nicht schlechter ist als $A_1$. Das könnte -- je nach Situation -- wenig sinvoll erscheinen und verdeutlicht, dass die Eigenschaft der Maximin-Regel jeweils nur ein einzelnes Spaltenelement in die Prüfung einzubeziehen unter Umständen eine Schwäche sein kann. Könnte man eine Regel formulieren, die dieser Schwierigkeit entgeht? Denkbar wäre z.B. folgende Regel:\marginline{Rang\-ord\-nungs\-regel} Man bestimme für jedes Element innerhalb jeder Zeile, welchen Rang es innerhalb seiner Spalte hat. Dann summiere man die gefundenen Werte zeilenweise auf und wähle die Handlung, deren Zeile die kleinste Summe hat. (Bei dieser Regel bestimmen wir erst den Rang statt unmittelbar mit den Zahlen in der Tabelle zu rechnen, weil es wenig Sinn hat, mit ordinalen Nutzenwerten zu rechnen, die ja nur dazu dienen sollen, eine Rangfolge wiederzugeben.) Nach diesem Verfahren würde die Handlung $A_1$ eine Rangzahl von 101 erhalten, da ihr Ergebnis in 99 von hundert möglichen Fällen auf den ersten Rang kommt und in einem Fall auf den zweiten ($99 \cdot 1 + 2 = 101$). Die Handlung $A_2$ würde eine Rangzahl von 199 erhalten ($1 \cdot 1 + 99 \cdot 2 = 199$). Damit müsste nach dieser Regel $A_1$ gewählt werden. Natürlich ist auch die Rangordnungsregel nicht vollkommen. So kann es Fälle geben, in denen die Rangzahlen mehrerer oder gar aller Handlungsalternativen genau gleich sind. Aber in diesen Fällen kann man dann immer noch unbedenklich auf die Maximin-Regel zurückgreifen, da dann praktisch ausgeschlossen ist, dass es sich um eine für die Maximin-Regel problematische Situation wie die in der Tabelle weiter oben dargestellte handelt. Mit der Maximin-, der Maximax- und der Rangordnungsregel haben wir drei Entscheidungsregeln vorgestellt, die sich bei Entscheidungen unter Unwissen und bei bloß ordinalen Nutzenwerten anwenden lassen, wobei die wichtigste dieser Regeln die Maximin-Regel ist. Stellt sich die Frage:\marginline{weitere Entscheidungsregeln?} Könnte es noch weitere Regeln für diese Art von Entscheidungsproblemen geben? Das ist allerdings anzunehmen. Vielleicht fällt Ihnen selbst eine weitere Regel ein. Dabei ist zu beachten, dass eine gute Entscheidungsregel folgenden Bedingungen genügen muss: \begin{enumerate} \item Sie muss stabil bezüglich ordinaler Transformationen der Nutzenwerte sein, d.h. wenn man die Nutzenwerte in der Entscheidungstabelle durch ordinal transformierte ersetzt, sollte die Entscheidungsregel immer noch dieselbe Entscheidung empfehlen. \item Es sollte irgendwelche plausiblen Gründe geben, die für diese Entscheidungsregel sprechen, z.B. besondere Entscheidungssituationen, in denen sie intuitiv sinnvoll erscheint. \item Es sollte möglichst wenig Gegenbeispiele in Form von denkbaren Entscheidungsproblemen geben, bei denen die Anwendung der Regel abwegig erscheint. \end{enumerate}