Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie. Eckhart Arnold. 31. August 2007
Eckhart Arnold
Religiöses Bewusstsein
und
Politische Ordnung
Eine Kritik von Eric Voegelins
Bewusstseinsphilosophie
Vorwort zur Buchausgabe
Das Interesse, das der Politikphilosoph Eric Voegelin im deutschsprachigen Raum findet, scheint in den letzten Jahren mehr und mehr zu wachsen. Des öfteren schon waren in der jüngsten Zeit Artikel über Eric Voegelin sogar in den Feuilletons überregionaler Tageszeitungen zu lesen‚1Jüngst zum Beispiel im Ressort Literatur und Kunst der Neuen Züricher Zeitung vom 28. April 2007: Peter Cornelius Mayer-Tasch: Auf der Suche nach einer Ordnung der historischen Ordnungen. Das Hauptwerk des Politikwissenschaftlers und Geschichtsphilosophen Eric Voegelin. was darauf schließen lässt, dass auch über den engen Kreis von Fachwissenschaftlern hinaus ein breiteres Interesse an Voegelins politischer Philosophie besteht. Das gesteigerte Interesse an Voegelin ist nicht verwunderlich, hat Voegelin sich in seinen Werken doch intensiv mit dem Verhältnis von Religion und Politik beschäftigt, einem Thema, das gerade heute wieder besonders aktuell ist.
Leider ist aber gerade die Art und Weise, wie Eric Voegelin das Verhältnis von Religion und Politik bestimmt, in keiner Weise geeignet, die Schwierigkeiten, vor denen wir damit in der Gegenwart stehen, zu lösen. Voegelins “Lösung” schafft eher noch zusätzliche Probleme, als dass sie die bestehenden Schwierigkeiten beseitigt. Weshalb das so ist, will ich an dieser Stelle kurz erläutern.
Will man die normative Frage untersuchen, in welchem Verhältnis Religion und Politik zueinander stehen sollten, so dass weder die politische Ordnung Schaden nimmt noch die Religion in unnötiger Weise beeinträchtigt wird, dann muss man zwei verschiedene Unterscheidungen sorgfältig voneinander trennen:
- Die Unterscheidung zwischen richtiger (bzw. „wahrer“) und falscher Religion.
- Die Unterscheidung zwischen guter, d.h. mit dem Erhalt politischer Ordnung verträglicher, und schlechter, d.h. mit dem Erhalt politischer Ordnung unverträglicher Religion.
Die erste dieser beiden Unterscheidungen lässt sich wissenschaftlich-objektiv überhaupt nicht treffen. Es gibt keine wissenschaftliche Methode, mit der wir über die Wahrheit und Falschheit von Religionen urteilen könnten. Die “religiösen Wahrheiten” sind der Wissenschaft nicht zugänglich und es ist das Beste, sie aus allen wissenschaftlichen Betrachtungen auszuklammern und innerhalb der Wissenschaft ihnen gegenüber strikte Neutralität zu wahren.
Die zweite Unterscheidung müssen wir jedoch treffen, weil dazu eine praktische Notwendigkeit besteht. Diese Unterscheidung hat eine ethische und eine empirische Seite. Die ethische Seite betrifft die Werte, die unserer Überzeugung nach das gesellschaftliche Zusammenleben regeln sollten, und die durch die politische Ordnung geschützt werden müssen. Die Gestalt der politischen Ordnung hängt ganz wesentlich davon ab, welche Werte wir als wichtig erachten. Vertritt man die Wertfreiheit in der Wissenschaft, dann lässt sich über die Richtigkeit und Falschheit dieser Werte wissenschaftlich ebenfalls nicht urteilen. Als Menschen müssen wir uns jedoch für bestimmte Werte entscheiden und es ist nicht möglich abweichende Werte bei Anderen uneingeschränkt zu tolerieren. Die empirische Seite der Unterscheidung betrifft die Frage, wie sich bestimmte religiöse Einstellungen oder bestimmte religiöse Praktiken kausal auf die politische Ordnung auswirken oder – ebenfalls eine Frage kausaler Zusammenhänge – wie gut sie mit der politischen Ordnung verträglich sind. Die kausalen Zusammenhänge zwischen Religion und politischer Ordnung sind einer wissenschaftlichen Methodik prinzipiell zugänglich und ihre wissenschaftliche Untersuchung ist von größtem Interesse.
Es ist wichtig, diese beiden Unterscheidungen auseinander zu halten, weil wir nur so die ethischen Fragen, über die wir uns streiten müssen, von den religiös-metaphysischen Fragen, über die wir es nicht ernsthaft zum Streit kommen lassen sollten, sorgfältig trennen können (siehe dazu auch Kapitel ). Gerade diese Unterscheidung verwischt Voegelin aber, was, nebenbei bemerkt, einer der Gründe für den an vielen seiner Schriften so auffälligen polemisch-intoleranten Zug sein könnte. Voegelin meinte nämlich, dass es erstens sehr wohl möglich ist, über die Wahrheit und Falschheit religiöser Überzeugungen ein wissenschaftlich begründetes Urteil zu fällen, und dass zweitens ein äußerst enger kausaler Zusammenhang zwischen der Richtigkeit oder Falschheit der religiösen Einstellung und ihrer Wirkung auf die politische Ordnung besteht. Wie ich in diesem Buch darzulegen versuche, hat Voegelin sich in beiden Punkten geirrt.
Die Wahrheit oder Falschheit religiöser Überzeugungen schien für Voegelin davon abhängig zu sein, ob sie Ausdruck intakter oder verdorbener religiöser Erfahrungen sind. Wie soll man aber die Intaktheit oder Verderbtheit religiöser Erfahrungen wissenschaftlich beurteilen können? Religiöse Erfahrungen sind doch, sollte man meinen, zunächst einmal sehr persönliche Erfahrungen jedes Einzelnen, und wenn der eine diese religiösen Erfahrungen macht und der andere jene, wer wollte damit rechten und sich anmaßen zu behaupten, die Erfahrungen des einen wären echter und unverdorbener als die des anderen? Genau das tut Voegelin aber, und die “wissenschaftliche” Methodik, deren er sich dazu bedient, besteht unter anderem in bewusstseinsphilosophischen Untersuchungen, mit denen er meint, die Natur unserer Transzendenzerfahrungen ergründen zu können. Diese bewusstseinsphilosophischen Untersuchungen bilden den Hauptgegenstand des vorliegenden Buches (besonders des . Kapitels), und ich glaube zeigen zu können, dass Voegelin mit seinem bewusstseinsphilosophischen Unterfangen gescheitert ist. Es gibt keine wissenschaftliche Methode, die die Bewertung religiöser Erfahrungen erlaubt, und auch Voegelins Bewusstseinsphilosophie kann das nicht leisten. Die Ergebnisse meiner Kritik von Voegelins Bewusstseinsphilosophie sind in Kapitel und Kapitel zusammengefasst.
Trotz dieses Irrtums wäre Voegelins Werk für die wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Beziehung von Religion und Politik immer noch dann von großer Bedeutung, wenn Voegelin wenigstens einen Beitrag zur Untersuchung der kausalen Beziehungen zwischen religiösen Einstellungen und politischer Ordnung geleistet hätte. Angesichts der theoretischen Grundprämisse Voegelins, dass die Qualität der politischen Ordnung sehr stark vom Zustand des religiösen Bewusstseins abhängt, müsste man erwarten, dass Voegelin höchstes Interesse an der wissenschaftlichen Bestimmung der entsprechenden Kausalzusammenhänge gehabt hätte. Erstaunlicherweise findet sich in Voegelins Oevre jedoch so gut wie nirgendwo ein substantieller Beitrag zur wissenschaftlichen Untersuchung dieser Kausalbeziehungen. Voegelin beschränkt sich vielmehr fast vollständig auf die geistesgeschichtlich-hermeneutische Deutung des religiösen und philosophischen Schrifttums bedeutender Epochen der Menschheitsgeschichte. Zwar werden in seinem Hauptwerk “Order and History” auch immer mal wieder die politischen Zustände der von ihm untersuchten historischen Gesellschaften referiert, aber die Zusammenhänge zwischen den politischen Zuständen und dem geistig-religiösen Hintergrund bleiben weitgehend im Dunkeln, von einer differenzierten Beurteilung dieser Zusammenhänge ganz zu schweigen. Abgesehen von Voegelins einseitiger methodischer Ausrichtung dürfte der Grund dafür ebenfalls in Voegelins dogmatischer Grundprämisse liegen, dass die Qualität der politischen Ordnung ganz unmittelbar von ihren spirituellen Grundlagen abhängt. Daher ist für Voegelin, wenn er nur den Zustand des religiösen Bewusstseins hermeneutisch bestimmt hat, immer schon alles klar. Ist das religiöse Bewusstsein deformiert, dann ergibt sich für Voegelin schon allein daraus, dass die politische Ordnung nichts taugen kann. Die Kritik dieser Grundprämisse bildet ebenfalls ein wichtiges Anliegen dieses Buches (siehe Kapitel ), wenn ich auch nicht ganz so ausführlich darauf eingehe wie auf Voegelins Bewusstseinsphilosophie selbst.
Dieses Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Magisterarbeit über “Voegelins Bewusstseinsphilosophie (als Grundlage politischer Ordnung)”, die ich im Jahr 2000 an der Universität Bonn verfasst habe, und die in ihrer ursprünglichen Form seitdem auf meiner Website abrufbar war.2www.eckhartarnbold.de/papers/voegelin Dass ich mich nun entschlossen habe, sie sieben Jahre nach ihrer Niederschrift in überarbeiteter Form als Buch zu veröffentlichen hat verschiedene Gründe. Einmal habe ich, wie schon oben erwähnt, den Eindruck, dass das Interesse an Voegelin in letzter Zeit gewachsen ist. Zugleich gilt aber, was ich schon damals bezüglich der Voegelin-Sekundärliteratur festgestellt habe: Sie ist ihrem Standpunkt nach oft einseitig und zuweilen, wie mir scheint, mehr der Gedächnispflege als der wissenschaftlichen Auseinandersetzung verpflichtet. Immerhin scheint sich das in jüngster Zeit langsam zu wandeln. Ein erfreuliches Beispiel bildet in dieser Hinsicht Michael Henkels Studie “Positivismuskritik und autoritärer Staat. Die Grundlagendebatte in der Weimarer Staatsrechtslehre und Eric Voegelins Weg zu einer neuen Wissenschaft der Politik (bis 1938)”, die vor kurzem in der ansonsten nicht immer höchste Qualität verbürgenden Reihe der vom Münchner Eric-Voegelin-Archiv herausgegebenen „Occasional Papers“ erschienen ist.3Michael Henkel: Positivismuskritik und autoritärer Staat. Die Grundlagendebatte in der Weimarer Staatsrechtslehre und Eric Voegelins Weg zu einer neuen Wissenschaft der Politik (bis 1938), 2. Aufl., München 2005. Der entschieden autoritäre Standpunkt, der Voegelins politisches Denken seit 1929 bestimmt, und der auch nach Voegelins Emigration in die USA in verschleierter Form noch nachwirkt, wird darin ehrlich angesprochen. Lesenswert erscheinen mir unter den jüngeren Publikationen auch Hans-Jörg Sigwarts “Intellektuell-biographische Studien zum Frühwerk Eric Voegelins”4Hans-Jörg Sigwart: Das Politische und die Wissenschaft. Intellektuell-biographische Studien zum Frühwerk Eric Voegelins, Würzburg 2005., auch wenn sich der Autor Voegelins Standpunkt mehr als notwendig zu eigen macht. Dezidiert kritische Beiträge sind allerdings trotz der längst überfällig gewesenen Veröffentlichung von Hans Kelsens Rezension zu Voegelins “Neuer Wissenschaft der Politik”5Hans Kelsen: A New Science of Politics. Hans Kelsen’s Reply to Eric Voegelin’s „New Science of Politics“. A Contribution to the Critique of Ideology (Ed. by Eckhart Arnold), Heusenstamm 2004. bisher eher selten geblieben. Und das, obwohl viele von Voegelins Ansichten geradezu hanebüchen sind. Deshalb hoffe ich, dass meine sehr kritische Auseinandersetzung mit Voegelins Bewusstseinsphilosophie mit dazu beiträgt eine Lücke in der Voegelin-Sekundärliteratur zu schließen.
Ein weiterer Grund dafür, dass ich mich entschlossen habe, meine Arbeit nun auch als Buch zu veröffentlichen, besteht darin, dass Internetquellen – zum Teil aus guten Gründen – nach wie vor oft nicht als zitierfähig angesehen werden. Ich möchte aber anderen Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, auf meine Thesen zu Eric Voegelin Bezug zu nehmen, und dazu ist die “verbindlichere” Form einer Buchveröffentlichung immer noch am besten geeignet.
Nimmt man nach mehreren Jahren eine ältere Arbeit wieder zur Hand, so bleibt nicht aus, dass man Vieles inzwischen anders schreiben würde. Ich bin daher für die Buchveröffentlichung die Magisterarbeit noch einmal durchgegangen und habe sie an vielen Stellen geändert, wo mir der Text unklar oder missverständlich erschien. Auch habe ich dort, wo es mir aufgefallen ist, weitere Literaturverweise eingefügt, ohne allerdings die seitdem erschienene oder damals unberücksichtigt gebliebene Sekundärliteratur systematisch einzuarbeiten. Der Aufwand dafür hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen, ohne dass die inhaltliche Aussage, um die es mir geht, und die mir nach wie vor zutreffend erscheint, dadurch wesentlich stärker geworden wäre. Da ich mit dem, was ich damals über Voegelin geschrieben habe, immer noch fast vollkommen übereinstimme, und meine Meinung über den Politikwissenschaftler Eric Voegelin seitdem eher noch kritischer geworden ist, bin ich mit Änderungen im Ganzen aber eher behutsam geblieben. Vollständig bzw. fast vollständig neu geschrieben habe ich lediglich die Kapitel und , die mir in der bisherigen Form zum Teil abwegig bzw. nicht verständlich genug erschienen sind. Beim wiederlesen der Arbeit ist mir auch aufgefallen, dass ich manchmal zu drastischen Formulierungen gegriffen habe, wie ich sie heute nicht mehr unbedingt wählen würde. Trotzdem habe ich mich entschlossen, bei der Überarbeitung den Stil nicht allzusehr zu glätten, denn ich blicke mit Wehmut auf die glückliche Zeit zurück, als ich noch nicht wusste, wie sehr man innerhalb akademischer Institutionen zuweilen gezwungen ist, sich intellektuell zu prostituieren. Die Art von intellektueller Konzessionslosigkeit, die ich an großen Philosophen wie Thomas Hobbes, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche oder Ludwig Wittgenstein so bewundere, und der auch Eric Voegelin auf eine allerdings eher törichte Weise huldigte, wird im Milieu der akademischen Philosophie ziemlich wirkungsvoll unterdrückt. Ob es wirklich besser wäre, sie generell zuzulassen, möchte ich gar nicht unbedingt behaupten, aber schade ist es trotzdem.
Zum Schluss will ich nicht versäumen, Erasmus Scheuer für die Hilfe beim Korrekturlesen zu danken.
Düsseldorf, den 31. August 2007
Einleitung
A. Thema
Das Thema dieses Buches ist die Bewusstseinsphilosophie Eric Voegelins.6Zur Biographie: Eric Voegelin wurde 1901 in Köln geboren. 1922 Promotion bei Hans Kelsen und Othmar Spann. 1929-38 Privatdozent und außerordentlicher Professor für Staats- und Gesellschaftslehre in Wien. 1938 Flucht vor den Nazis in die USA. 1942-58 Professor of Gouvernment an der Lousiana State University in Baton Rouge. 1958 Professor für Politikwissenschaft in München. 1969 Rückkehr in die USA. 1974 Senior Research Fellow an der Hoover Institution on War, Revolution and Peace in Stanford. 1985 Tod. (Angaben aus: Michael Henkel: Eric Voegelin zur Einführung, Hamburg 1998, S. 13-35, S. 198-199.) Sie wird untersucht unter dem besonderen Aspekt der Begründung politischer Ordnung durch religiöse Bewusstseinserfahrungen.
Eric Voegelin vertrat die etwas eigentümliche und in der heutigen Zeit im westlichen Kulturkreis eher befremdlich wirkende Auf\/fassung, dass die religiösen Erfahrungen des Menschen eine notwendige Grundlage politischer Ordnung bilden. Damit ein politisches Gemeinwesen über eine stabile und im ethischen Sinne gute politische Ordnung verfügt, genügt es nach Voegelins Ansicht keineswegs, wenn sich diese Ordnung auf ein ausgeklügeltes System von Institutionen und auf eine wohldurchdachte Verfassung stützt. Für Voegelin muss die politische Ordnung darüber hinaus tief im religiösen Empfinden der Bürger verwurzelt sein. Nur dann kann sie eine ausreichende Resistenz gegenüber inneren und äußeren Anfechtungen entwickeln, und nur dann kann ihr eine ethische Qualität zugesprochen werden. In diesem Buch soll kritisch hinterfragt werden, ob die religiöse Erfahrung tatsächlich eine notwendige Voraussetzung politischer Ordnung bildet und ob eine solche Grundlegung der politischen Ordnung überhaupt wünschenswert ist.
Wenn für Voegelin die politische Ordnung im religiösen Empfinden oder, um es in seiner eigenen Terminologie zu formulieren, in den existentiellen „Erfahrungen“ der Bürger verwurzelt sein muss, so ist dies bei Voegelin nicht in der Weise zu verstehen, dass der Staat den religiösen Bereich der menschlichen Natur für seine Zwecke einspannen soll, wie dies die totalitären Staaten anstreben. Das religiöse Empfinden geht nicht vom Staat oder vom gesellschaftlichen Kollektiv aus, sondern es entspringt dem existentiellen Erleben des Einzelnen, und nach Maßgabe dieses im individuellen Erleben verankerten religiösen Empfindens muss die politische Ordnung gestaltet werden. Damit dies funktioniert, ist natürlich die Intaktheit des religiösen Empfindens von größter Bedeutung. Die intakte „Ordnungserfahrung“ bildet für Voegelin nicht nur eine notwendige Voraussetzung (guter) politischer Ordnung, sie stellt auch eine, zwar nicht unbedingt allein hinreichende, aber doch stark begünstigende Bedingung dar, gegenüber der alle pragmatischen Probleme politischer Ordnung, wie z.B. die Einzelheiten der Verfassungsordnung, vergleichsweise sekundär sind.
Kommt dem Unterschied zwischen intaktem und nicht intaktem religiös-existentiellen Empfinden eine derartig große Bedeutung zu wie bei Voegelin, so ergibt sich, dass die politische Philosophie einer Auseinandersetzung mit der Religion auf der inhaltlichen Ebene der religiösen Dogmen und Erfahrungen7Voegelin beschränkt sich auf die Erfahrungen, da seinem eher mystischen Religionsverständnis gemäß auch die Dogmen nur Ausdruck von religiösen Erfahrungen (und nicht von offenbartem Wissen) seien können. nicht ausweichen kann. Wie kann aber hier zwischen echt und unecht, zwischen richtig und falsch unterschieden werden? Voegelin verfolgt in dieser Frage einen zweifachen Ansatz. Zum einen geht er historisch vor, indem er sich bemüht, die geschichtlichen Entwicklungsprozesse religiöser Erfahrung nachzuzeichnen und dabei die „differenziertesten“ Stufen religiös-existentiellen Welterlebens ausfindig zu machen. Zum anderen versucht Voegelin, auf bewusstseinsphilosophischem Wege das Wesen der religiösen bzw. existentiellen Erfahrungen zu ergründen und in unmittelbarer Selbsterfahrung nachzuvollziehen. Da letzten Endes auch die historische Beurteilung religiöser Erfahrungen nur am Maßstab der bewusstseinsphilosophisch ermittelten Wesensauf\/fassung möglich ist, muss der bewusstseinsphilosophische Ansatz als der grundlegendere dieser beiden Ansätze angesehen werden. Diesem Buch liegt daher die Interpretationsannahme zu Grunde, dass die Bewusstseinsphilosophie Voegelins innerhalb der Systematik seines Gedankengebäudes das Zentrum einnimmt.8Diese Annahme entspricht Voegelins Selbstdeutung. Vgl. Eric Voegelin: Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1996, im folgenden zitiert als: Voegelin, Anamnesis, S. 7.
Voegelin geht es nicht darum, empirisch den Zusammenhang zwischen vorfindlichen politischen Ordnungsgefügen und den sie fundierenden religiösen Erfahrungen aufzuweisen. Vielmehr verfolgt Voegelin in erster Linie die normative Absicht, durch die bewusstseinsphilosophische Aufdeckung der religiösen Erfahrungsquellen die verbindliche Grundlage einer humanen und totalitarismusresistenten politischen Ordnung für die Gegenwart zu finden, welche für ihn in vielen westlichen Demokratien, die ihm in Ermangelung religiöser Grundlagen auf Sand gebaut schienen, noch unzureichend verwirklicht war. In diesem Buch steht die Untersuchung dieses normativen Aspektes im Vordergrund. Es geht mir nicht um die Frage, ob Voegelins Modellvorstellung von politischer Ordnung auf das alte Ägypten oder das römische Kaiserreich anwendbar ist, sondern es soll versucht werden zu klären, ob Voegelins Vorstellungen in der heutigen Zeit unter den Bedingungen pluralistischer und sich entwickelnder multikultureller Gesellschaften noch tragfähig sind und normative Gültigkeit beanspruchen dürfen. Letzteres ist natürlich nicht nur eine Frage von Zeitumständen, sondern vor allem eine Frage der Begründungsqualität.
B. Methode
Die Untersuchungsmethode, die in diesem Buch angewandt wird, ist die einer rationalen Rekonstruktion, d.h. es wird versucht, anhand einzelner Texte Voegelins dessen Thesen zu rekonstruieren und ihre Begründung kritisch zu prüfen. Nur am Rande wird dagegen auf philologische und historische Fragen eingegangen wie die, welche Entwicklung Voegelins Begriffe innerhalb seines Werkes durchgemacht haben, durch welche Philosophen er geprägt wurde oder welche zeitgeschichtlichen Umstände auf sein Denken Einfluss genommen haben. Im Vordergrund steht stattdessen die Frage der Gültigkeit von Voegelins Theorie.
Gegen eine derartige Herangehensweise sind von zwei gegensätzlichen Richtungen her Einwände denkbar. Einerseits könnte eingewandt werden, dass Voegelin heutzutage keineswegs mehr aktuell und eine theoretische Auseinandersetzung mit seinen Gedanken daher nicht mehr von Interesse sei. Andererseits könnte gegen die Methode der rationalen Rekonstruktion und Kritik der Vorwurf erhoben werden, dass sie, da einem positivistischen Wissenschaftsideal verpflichtet, dem Denken Voegelins nicht gerecht werden könne.
Der erste Einwand ließe sich dahingehend weiter ausführen, dass Voegelin als ein typischer Vertreter der Epoche des kalten Krieges inzwischen nurmehr eine historische Erscheinung sei.9Dies deutet mit Vorsicht Eugene Webb an. Vgl. Eugene Webb: Review of Michael Franz, Eric Voegelin and the Politics of Spiritual Revolt: The Roots of Modern Ideology, in: Voegelin Research News, Volume III, No. 1, February 1997, auf: http://alcor.concordia.ca/\~ vorenews/v-rnIII2.html (Host: Eric Voegelin Institute, Lousiana State University. Zugriff am: 1.8.2007), im folgenden zitiert als Webb, Review. Wenn man heute einen politischen Romantiker wie, um ein beliebiges Beispiel zu wählen, Konstantin Frantz analysierte, so würde man auch keine Zeit damit verschwenden, seine weltfremden Träumereien von einem christlichen Europa zu widerlegen, sondern ihn von vornherein nur unter einer rein geistes- oder zeitgeschichtlichen Perspektive, also gewissermaßen als ein historisches Kuriosum betrachten. Werden derartige Vorbehalte gegen Voegelin auch selten offen geäußert, so liegen sie doch in der Luft und bilden auch unausgesprochen einen der Gründe, weshalb Voegelin heutzutage – trotz des jüngst neuerwachten Interesses – im Ganzen eher in Vergessenheit geraten ist. Sollte sich aber Voegelins Theorie auch als gänzlich unhaltbar erweisen, so scheint mir eine Auseinandersetzung mit Voegelin auf der Sachebene dennoch lohnend, weil Voegelins Theorie als ein bestimmter Ansatz quasi-religiöser Politikbegründung eine geistige Möglichkeit repräsentiert, die unabhängig davon, ob sie gerade in Mode ist oder nicht, aus grundsätzlichem Interesse der Untersuchung wert ist. Im übrigen können auch bei politikphilosophischen Grundsatzdiskussionen Stimmungsumschwünge eintreten, die das, was noch wenige Jahrzehnte zuvor als abwegig galt, auf einmal wieder naheliegend und vertretbar erscheinen lassen. Dies gilt umso mehr, als auch die abstruseste Philosophie zur Grundlage politischen Handelns und politischer Ordnung gemacht werden kann. Und wenn einmal eine obskure Philosophie gesellschaftlich wirksam geworden ist, so bleibt der bloße Hinweis auf ihre Abstrusität ohnmächtig, da diese Philosophie dem Empfinden der meisten Menschen dann ganz natürlich erscheint.
Dem zweiten Einwand liegt die Frage zu Grunde, ob die Methode der rationalen Rekonstruktion für eine Untersuchung von Voegelins Werk angemessen ist. Voegelin wünschte sich von seinen Lesern eine ganz bestimmte Lesehaltung, die weniger durch eine kritisch-rationale Einstellung als durch den meditativen Nachvollzug seiner Gedanken bestimmt sein sollte, denn er glaubte, eine besondere Art von Wissenschaft zu verfertigen, bei der es gerade nicht auf das Aufstellen von Thesen und das kritische Abwägen von Argumenten ankommt. Aber zugleich beanspruchte Voegelin, mit seinen Schriften die theoretischen Grundlagen politischer Ordnung zu bestimmen. Ob diese Grundlagen tragfähig sind, lässt sich jedoch nur überprüfen, indem man sie rational analysiert. Die Rechtfertigung für meine, dem Denken Voegelins vielleicht etwas fremde, analytische Herangehensweise liegt also in Voegelins eigener Zielvorgabe, die geistigen Grundlagen guter politischer Ordnung zu finden. Da eine politische Ordnung für jeden, der in ihr lebt, verbindliche Geltung haben soll, so muss ihre Begründung auch intersubjektiv nachvollziehbar sein. Übrigens nahm Voegelin für seine Art von Politikwissenschaft in Anspruch, dass sie rationale Wissenschaft sei. Aber dies beruht, wie noch zu zeigen sein wird‚10Siehe dazu Seite , besonders Fußnote , sowie grundsätzlich zu Voegelins Sprachgebrauch Kapitel . auf einer willkürlichen Umdeutung des Begriffes der Rationalität.
Anders, als sich dies für die Methode der rationalen Rekonstruktion eigentlich empfiehlt, erfolgt die Darstellung von Voegelins bewusstseinsphilosophischen Schriften nicht durch eine Zuspitzung von Voegelins Aussagen zu einzelnen Thesen, sondern in der Form einer Wiedergabe seines Gedankenganges. Der Grund hierfür besteht darin, dass Voegelins Texte in hohem Maße einem erzählerischen Stilprinzip verpflichtet sind und sich daher gegen eine Zuspitzung zu einzelnen klaren Thesen sträuben. Eine Zusammenfassung in Thesen würde deshalb bereits ein sehr hohes Maß von Interpretation in Voegelins Texte hineintragen, so dass nicht mehr leicht zu erkennen wäre, wie die Thesen aus Voegelins Worten entnommen worden sind. Aus diesem Grund wird der Inhalt eines jeden untersuchten Textes zunächst ausführlich mit eigenen Worten wiedergegeben, so dass sich meine Interpretation leicht nachvollziehen lässt. Unmittelbar an die Darstellung eines jeden Textes oder auch einzelner Textpassagen schließt sich eine eingehende Kritik dieser Textpassagen an. Mag dieses Verfahren der intermittierenden Kritik auch einen Eindruck von Voreiligkeit und Nicht-ausreden-lassen-wollen erwecken, so ist es doch dadurch gerechtfertigt, dass die untersuchten Texte bezüglich ihrer Entstehungszeit teilweise recht weit auseinanderliegen und dementsprechend unterschiedliche Fragen aufwerfen. Außerdem lässt sich eine ins Einzelne gehende Kritik nur schwer an eine umfassende Darstellung anschließen, nach welcher den Lesern und Leserinnen nur noch die groben Züge des Gedankenganges im Gedächtnis geblieben sind. Eine Detail-Untersuchung ist aber beabsichtigt, denn der Wert einer Philosophie entscheidet sich meiner Ansicht nach weniger an den großen Linien der ihr zu Grunde liegenden metaphysischen Weltauf\/fassung als an der Qualität ihrer Durchführung im Detail.
C. Quellen und Sekundärliteratur
Dieses Buch beabsichtigt eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den wichtigsten bewusstseinsphilosophischen Standpunkten Voegelins, beansprucht aber keinesfalls eine umfassende Darstellung von Voegelins Bewusstseinsphilosophie zu sein. Bewusstseinsphilosophische Überlegungen begleiten Voegelins Schaffen von seinen frühesten Schriften bis zu den spätesten Werken‚11Vgl. etwa das Kapitel über „Time and Existence“, in: Eric Voegelin: On the Form of the american Mind, Baton Rouge / London 1995, S.23ff. wobei die Bedeutung der Bewusstseinsphilosophie in Voegelins Werk im Laufe der Zeit immer mehr zunimmt. Dabei geht Voegelins Bewusstseinsphilosophie fließend in seine Geschichtsdeutung und seine politische Theorie über.12Besonders deutlich wird dies in der Einleitung zu Order and History I. Vgl. Eric Voegelin: Order and History. Volume One. Israel and Revelation, Baton Rouge / London 1986 (zuerst: 1956), im folgenden zitiert als: Voegelin, Order and History I, S.1-11. Eine Vollständigkeit beanspruchende Untersuchung von Voegelins Bewusstseinsphilosophie müsste all diese Zusammenhänge mit berücksichtigen und in hohem Maße auch solche Schriften Voegelins einbeziehen, die nicht im engeren Sinne bewusstseinsphilosophisch genannt werden können.
Aus pragmatischen Gründen beschränkt sich dieses Buch daher auf die Untersuchung von „Anamnesis“, dem einzigen ausdrücklich als bewusstseinsphilosophisch ausgewiesenen größeren Werk, welches Voegelin zu dieser Thematik selbst veröffentlicht hat. Weiterhin werden aus dem Werk „Anamnesis“, das neben bewusstseinsphilosophischen auch eine Reihe von historischen Aufsätzen Voegelins versammelt, nur die im engeren Sinne bewusstseinsphilosophischen Aufsätze berücksichtigt, welche den ersten und dritten Teil dieses Werkes bilden, während der zweite Teil von „Anamnesis“ überwiegend historische Probleme behandelt. Durch die Beschränkung auf „Anamnesis“ bleiben die späteren Entwicklungen von Voegelins Bewusstseinsphilosophie außen vor. So wird Voegelins Auseinandersetzung mit dem Thema „Egophanie“ (Selbstbezogenheit des modernen Menschen im Gegensatz zur Gottbezogenheit), welches in „Order and History IV“ einen so großen Raum einnimmt‚13Vgl. Voegelin, Order and History IV, S.260ff. nicht näher behandelt. Auch der Komplex der „consciousness-reality-language“ und das „paradox of consciousness“, zwei zentrale Begriffe der letzten, in „Order and History V“ erreichten Entwicklungsstufe seiner Bewusstseinsphilosophie, treten in „Anamnesis“ lediglich in der noch vergleichsweise kruden Form des dort entwickelten vielschichtigen und paradoxen Realitätsbegriffs auf.14Vgl. Eric Voegelin: Order and History. Volume Five. In Search of Order, Baton Rouge / London 1987, im folgenden zitiert als: Voegelin, Order and History V, S. 14-18. – Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 304-305. Trotz dieser Einschränkungen umfasst „Anamnesis“, besonders durch den zeitlichen Abstand der darin aufgenommenen Texte, eine große Spannbreite von Voegelins bewusstseinsphilosophischem Denken und kann daher als durchaus repräsentativ für Voegelins gesamte Bewusstseinsphilosophie angesehen werden. Die Kritik an Voegelin, die in diesem Buch anhand einzelner bewusstseinsphilosophischer Schriften entwickelt wird, ist zu einem großen Teil von grundsätzlicher Art, so dass sie sich leicht auf andere Schriften Voegelins übertragen lässt. Einer allzu großen Fixierung auf bloße Einzelaspekte von Voegelins Bewusstseinsphilosophie wird dadurch entgegengewirkt, dass im ersten Teil des Buches ein Gesamtüberblick über die politische und historische Philosophie Voegelins gegeben wird, in welche die Bewusstseinsphilosophie eingebettet ist.
Die Lage der Sekundärliteratur zu Eric Voegelin und zu seiner Bewusstseinsphilosophie ist nicht in jeder Hinsicht günstig. Zwar gibt es über Eric Voegelin und besonders zu seinem Hauptwerk „Order and History“ schon ein beachtliches Schrifttum‚15Vgl. Geoffrey L. Price: Recent International Scholarship on Voegelin and Voegelinian Themes. A Brief Topical Bibliography, in: Stephen A. McKnight / Geoffry L. Price (Hrsg.): International and Interdisciplinary Perspectives on Eric Voegelin, Missouri 1997, S. 189-214. – Eine regelmäßig aktualisierte Bibliographie enthalten die Voegelin-Research News des Eric Voegelin Insitute der Louisiana State University, http://alcor.concordia.ca/\~ vorenews/ aber gerade zu Voegelins Bewusstseinsphilosophie sind Einzeluntersuchungen noch recht dünn gesät.16Eine erschöpfende Darstellung der mittleren Schaffensperiode, einschließlich der Bewusstseinsphilosophie des ersten Teils von Anamnesis liefert Barry Cooper. Vgl. Barry Cooper: Eric Voegelin and the Foundations of Modern Political Science, Columbia and London 1999, S. 161ff. – Für die spätere Schaffensperiode, insbesondere „Order and History V“: Vgl. Michael P. Morrissey: Consciousness and Transcendence. The Theology of Eric Voegelin, Notre Dame 1994, S. 117ff. – Meist wird die Bewusstseinsphilosophie jedoch nur im Rahmen einer anderen Thematik mitbehandelt. Vgl. beispielsweise: Petropulos, William: The Person as ‘Imago Dei’. Augustine and Max Scheler in Eric Voegelins ‘Herrschaftslehre’ and ‘The Political Religions’, München 1997, S. 35-38. Hinsichtlich dieser Seite von Voegelins Werk herrscht noch ein Forschungsdefizit, zu dessen Behebung dieses Buch ebenfalls einen Beitrag leisten möchte. Darüber hinaus leidet die Sekundärliteratur zuweilen an einer gewissen Einseitigkeit, die, wie es scheint, dadurch zustande kommt, dass sie zu einem großen Teil von überzeugten Anhängern Voegelins bestritten wird, während die vorhandenden und möglichen Gegner Voegelins ihn offenbar mehr oder weniger ignorieren. Nicht selten wird recht unkritisch das Selbstbild Voegelins, des großen Gelehrten, der in gottvergessener Zeit in den Tiefen der Geschichte auf Wahrheitssuche geht, kolportiert und geradezu eifersüchtig gegen Einwände verteidigt.17Deutlich wird dies etwa an den heftigen Reaktionen auf Eugene Webbs maßvolle Voegelin-Kritik. – Vgl. Thomas J. Farrell: The Key Question. A critique of professor Eugene Webbs recently published review essay on Michael Franz’s work entitled “Eric Voegelin and the Politics of Spiritual Revolt: The Roots of Modern Ideology“, in: Voegelin Research News, Volume III, No.2, April 1997, auf: http://alcor.concordia.ca/\~ vorenews/v-rnIII2.html – Maben W. Poirier: VOEGELIN– A Voice of the Cold War Era ...? A COMMENT on a Eugene Webb review, in: Voegelin Research News, Volume III, No.5, October 1997, auf: http://alcor.concordia.ca/\~ vorenews/V-RNIII5.HTML (Host jeweils: Eric Voegelin Institute, Lousiana State University. Zugriff am: 1.8.2007). Freilich ist Voegelin nicht ganz unschuldig daran, dass sein Werk unter die Zeloten gefallen ist, sah er doch selbst in Ansichten, die zu seiner Denkweise im Gegensatz standen, die „Rhetorik deformierter Existenz“ am Werk, und empfahl er einmal sogar, dem „verführerischen Zwang [für den modernen Menschen, E.A.], sich selbst zu deformieren“, mit den kräftigen Worten eines altägyptischen Dichters entgegenzutreten, die da lauten: „Siehe, mein Name wird übel riechen durch dich // mehr als der Gestank von Voegelmist // an Sommertagen, wenn der Himmel heiß ist“.18Vgl. Eric Voegelin: Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte, in: Eric Voegelin: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte, Späte Schriften (Hrsg. von Peter J. Optiz), Stuttgart 1988, S.99-126 (S.105). Erst neuerlich sind einige Beiträge erschienen, die sich mit der gebotenen Distanz und zum Teil auch sehr kritisch mit Voegelin auseinandersetzen. Nach wie vor scheint dies aber eher noch die Ausnahme zu sein.19Als ein durchaus typisches Beispiel für die Art von Sekundärliteratur, die sich fast nur aus Bestandsaufnahme zusammensetzt, aber so gut wie keine kritische Diskussion enthält, sei hier nur das folgende herausgegriffen: Glenn Hughes (Ed.): The Politics of the Soul. Eric Voegelin on Religious Experience, Lanham / Boulder / New York / Oxford 1999. – Als Beispiele der Voegelin-Kritik seien herausgegriffen: Mit gesellschaftskritischem Akzent: Richard Faber: Der Prometheus-Komplex. Zur Kritik der Politotheologie Eric Voegelins und Hans Blumenbergs, Königshausen 1984. – Ideologiekritisch vor allem gegenüber Voegelins Gnosis-Begriff: Albrecht Kiel: Säkularisierung als Geschichte des Unheils. Die Gleichsetzung von Rationalität und Ordnung mit Katholizität in der Geschichtsphilosophie Eric Voegelins, in: Albrecht Kiel: Gottesstaat und Pax Americana. Zur Politischen Theologie von Carl Schmitt und Eric Voegelin, Cuxhaven und Dartford 1998, S.95-118. – Erhebliche Zweifel an der philologischen Genauigkeit Voegelins meldet Zdravko Planinc an: Zdravko Planinc: The Uses of Plato in Voegelin’s Philosophy of Consciousness: Reflections prompted by Voegelin’s Lecture, „Structures of Consciousness“, in: Voegelin-Research News, Volume II, No. 3, September 1996, auf: http://alcor.concordia.ca/\~ vorenews/v-rnII3.html (Host: Eric Voegelin Institute, Lousiana State University. Zugriff am: 1.8.2007). – Sehr kritisch gegenüber Voegelin: Hans Kelsen: A New Science of Politics. Hans Kelsen’s Reply to Eric Voegelin’s „New Science of Politics“. A Contribution to the Critique of Ideology (Ed. by Eckhart Arnold), Heusenstamm 2004, im folgenden zitiert als: Kelsen, A New Science of Politics. – Ähnlich Voegelin-kritisch auch: Eckhart Arnold: Eric Voegelin als Schüler Hans Kelsens, erscheint voraussichtlich Wien 2007. – Mit kritischen Akzenten: Michael Henkel: Positivismuskritik und autoritärer Staat. Die Grundlagendebatte in der Weimarer Staatsrechtslehre und Eric Voegelins Weg zu einer neuen Wissenschaft der Politik (bis 1938), München 2005.
Außer der Sekundärliteratur zu Eric Voegelin wird auch philosophische Literatur zu den Themen, die Voegelin in seinen bewusstseinsphilosophischen Texten anspricht, herangezogen. Hier besteht allerdings die Schwierigkeit, dass es in der Philosophie kein Expertentum gibt, und dass man daher je nachdem, auf welche Schule man zurückgreift, zu einer sehr unterschiedlichen Ansicht des Gegenstandes gelangen kann. In diesem Buch wurden vor allem die Autoren zu Rate gezogen, die auch Voegelin in seinen Schriften anspricht. Dies bereitet für die Untersuchung des ersten Teils von „Anamnesis“ keine Probleme, da klar ist, dass Voegelin sich hier vornehmlich mit der Phänomenologie auseinandersetzt. Schwieriger ist dies jedoch für dritten Teil von „Anamnesis“ zu realisieren, da Voegelin hier wesentlich selbständiger vorgeht. Weiterhin werden solche Autoren mit einbezogen, die von Voegelin zwar nicht immer ausdrücklich erwähnt werden, auf die er sich jedoch stillschweigend zu beziehen scheint.
D. Aufbau
Das Buch ist in drei Teile untergliedert. Der erste Teil (Kapitel ) gibt einen Grundriss von Voegelins politischer Philosophie. Ziel ist es, die Hauptthesen von Voegelins politischer Philosophie darzustellen sowie seinen methodischen Ansatz zu bestimmen. Insbesondere soll gezeigt werden, wie und an welcher Stelle bewusstseinsphilosophische Voraussetzungen in Voegelins politisches Denken eingehen. In diesem Teil beziehe ich mich überwiegend auf Voegelins „Neue Wissenschaft der Politik“‚20Eric Voegelin: Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, München 1959, im folgenden zitiert als: Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik. da dieser Schrift unter Voegelins Werken am ehesten der Charakter einer Programmschrift eigen ist. Dabei werden von vornherein auch kritische Einwände gegen Voegelins Auf\/fassungen diskutiert. Die Kritik dient nicht zuletzt dazu, den Problemhorizont abzustecken, der bei der Untersuchung von Voegelins Bewusstseinsphilosophie berücksichtigt werden muss. Inhaltlich stimmt meine Kritik, soweit sie Voegelins „Neue Wissenschaft der Politik“ betrifft, vielfach mit der von Hans Kelsen geübten überein‚21Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O. von der ich allerdings erst nach der Niederschrift meiner damaligen Magisterarbeit Kenntnis bekommen hatte. Auf Übereinstimmungen zu Kelsens Deutung habe ich, wo sie mir besonders aufgefallen sind, nun in den Fußnoten hingewiesen. Neben der „Neuen Wissenschaft der Politik“ beziehe ich mich auch kritisch auf Voegelins geschichtsphilosophische Prämissen, wie sie von Voegelin vor allem in den Einleitungen zu den Einzelbänden von „Order and History“ entfaltet werden.
Im zweiten Teil, der seiner Länge wegen auf mehrere Kapitel verteilt ist (Kapitel , , ), werden ausführlich Voegelins bewusstseinsphilosophische Schriften dargestellt und einer eingehenden Detailkritik unterzogen. Den Abschluss des zweiten Teils (Kapitel ) bildet die Diskussion einiger Grundprobleme von Voegelins Bewusstseinsphilosophie, wobei die kritische Betrachtung von Voegelins Begriff der (religiösen) Erfahrung im Zentrum steht. Es gilt dabei kritisch Bilanz zu ziehen, ob der in Voegelins Denken zentrale Begriff der „Erfahrung“ hinreichend durch die bewusstseinsphilosophischen Überlegungen Voegelins begründet und erläutert ist, um für das Verständnis und die Gestaltung politischer Ordnung fruchtbar gemacht werden zu können.
Im letzten, mehr essayistisch gehaltenen Teil des Buches (Kapitel ), wird schließlich auf einer etwas allgemeineren Ebene die Frage angesprochen, ob gute politische Ordnung einer religiösen Grundlage bedarf. Dabei wird zu zeigen versucht, dass eine religiös-spirituelle Grundlegung der Politik, wie sie Voegelin vorschwebte, sowohl aus grundsätzlichen Überlegungen als auch insbesondere unter den Bedingungen einer pluralistischen und zunehmend multikulturellen Gesellschaft vor erheblichen Schwierigkeiten steht. Zugleich wird die Frage aufgeworfen, ob eine rein säkulare, durch Konsens bestimmte Grundlegung politischer Ordnung auf Basis eines Gesellschaftsvertrages denkbar ist, und ob daher politische Ordnung des transzendenten Bezuges nicht ohnehin gänzlich entraten kann. Eine Frage, die ich ziemlich uneingeschränkt bejahe.
Den Abschluss des Buches (Kapitel ) bilden schließlich einige Gedanken zu der Frage, ob Eric Voegelins kulturhistorischer Ansatz der gegenwärtigen Politikwissenschaft noch etwas mitzuteilen hat, selbst wenn die meisten seiner Ansichten inzwischen als überholt gelten müssen.
Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
A. Voegelins theoretischer Ansatz
Voegelins theoretischer Ansatz ist durch drei zentrale Elemente bestimmt: 1) Einer entschieden kritischen Frontstellung gegen das positivistische Ideal der wertfreien, empirisch-tatsachenorientierten Wissenschaft, 2) Voegelins eigenem Ideal einer normativ-ontologischen Ordnungswissenschaft, das religiöse Erfahrungen als politisch ordnungsstiftendes Moment und zugleich als Grundlage normativ-wissenschaftlicher Urteile einbezieht und 3) einer Geschichtsphilosophie, der zufolge es eine Entwicklung von primitiven („kompakten“) zu immer „differenzierteren“ religiösen Ordnungserfahrungen gibt, die aber – mit verhängnisvollen politischen Folgen – unterbrochen werden kann durch Phasen, in denen verfälschte Ordnungserfahrungen („Gnosis“) dominieren. Die Neuzeit ist für Voegelin eine solche Phase verhängnisvoller Ordnungsstörung. Diese drei Elemente von Voegelins theoretischen Ansatz sollen in diesem Kapitel näher erläutert werden.
1. Die Kritik des Positivismus
Eric Voegelin entwickelte seinen eigenen wissenschaftlichen Ansatz in ausdrücklicher Opposition zu den herkömmlichen Vorgehensweisen in den Sozialwissenschaften, wobei er sich insbesondere gegen die „szientistischen“ Ansätze in den Gesellschaftswissenschaften wandte. Diese kritische Seite der wissenschaftlichen Neuorientierung, die Voegelin in der „Neue[n] Wissenschaft der Politik“ vornimmt, betrifft das an den Naturwissenschaften orientierte Methodenideal des Positivismus sowie die von Max Weber aufgestellte Forderung der Wertfreiheit der Wissenschaft.
Voegelin unternimmt in der „Neuen Wissenschaft der Politik“ nicht die Auseinandersetzung mit einer bestimmten, elaborierten positivistischen Wissenschaftstheorie. Es geht ihm vielmehr um die Charakterisierung der geistesgeschichtlichen Strömung des Positivismus und um die Kritik des geistigen Klimas, welches diese Strömung in den Gesellschaftswissenschaften hervorgerufen hat. Den Begriff des Positivismus fasst Voegelin dabei vergleichsweise weit. Seiner skizzenhaften historischen Darstellung zufolge ging der Positivismus aus der Rezeption der Newtonschen Physik durch die Aufklärer hervor und lief von diesem Ausgangspunkt über Auguste Comte als seinem ersten vorläufigen Höhepunkt fort bis zur Entwicklung der Methodologie am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Methodologie trägt als eine skeptische und ideologiekritische Erscheinung allerdings auch schon den Keim der Gegenbewegung in sich.22Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.24-31. – Eine ausführliche Darstellung von Voegelins Positivismuskritik in: Barry Cooper: Eric Voegelin and the Foundations of Modern Political Science, Columbia and London 1999, S. 67ff. – Eine sorgfältige Analyse von Voegelins Positivismuskritik in der „Neuen Wissenschaft der Politik“, sowie eine wohlbegründete Zurückweisung von dessen völlig überzogenen Vorwürfen bei: Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 11ff. – Vgl. auch Eckhart Arnold: Nachwort: Voegelins „Neue Wissenschaft“ im Lichte von Kelsens Kritik, in: Kelsen, ebd., S. 109-137, im folgenden zitiert als: Arnold, Nachwort zu Kelsens Voegelin-Kritik, S. 119-122. Das positivistische Denken führt nach Voegelins Ansicht dazu, dass als Untersuchungsgegenstand der Wissenschaft nur noch dasjenige zugelassen wird, was sich mit einem bestimmten Kanon quasi-naturwissenschaftlicher Methoden erfassen lässt. Hierdurch wird in Voegelins Augen die Relevanzordnung der Wissenschaft geradezu umgekehrt. Denn anstatt dass das Thema bzw. die wissenschaftliche Fragestellung vorgegeben ist und der Wissenschaftler sich nun nach den geeigneten Methoden zur Bearbeitung dieses Themas umsieht, gibt nach dem positivistischen Wissenschaftsverständnis der Methodenkatalog vor, welche Fragen überhaupt gestellt werden können.23Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 24. – Dies ist vielleicht der einzige Punkt, in dem Voegelins Positivismuskritik m.E. ein berechtigtes Anliegen formuliert, auch wenn Voegelin es versäumt, seine Kritik durch Beispiele zu untermauern. Zur jüngeren Kritik an der „methodengetriebenen“ Wissenschaft vgl. Donald Green / Ian Shapiro: The Pathologies of Rational Choice Theory. A Critique of Applications in Political Science, New Haven & London 1994, sowie neuerlich: Ian Shapiro: The Flight from Reality in the Human Sciences, Princeton 2005, im folgenden zitiert als: Shapiro, Flight from Reality. Nun gibt es aber Fragen, die nicht nur für das Leben des Einzelnen von größter Bedeutung sind, sondern deren Beantwortung auch die Gestalt der Gesellschaft und die Form der politischen Ordnung entscheidend prägt, welche aber unter den methodologischen Vorgaben des Positivismus kaum angemessen untersucht werden können. Hierzu gehören beispielsweise die Frage nach dem, was moralisch gut und richtig ist, oder auch die Frage nach dem Sinn des Lebens oder dem Sinn der Welt im Ganzen. Es ist offensichtlich, dass jede Gesellschaft vor der Herausforderung steht, auf die erste dieser Fragen eine gemeinverbindliche Antwort zu geben. Und die Antwort auf die zweite Frage ist ersichtlich wenigstens dort von öffentlicher Bedeutung, wo die Religion einen großen Einfluss auf die Politik ausübt. Nach dem positivistischen Verständnis ist es jedoch unmöglich, auf irgendeine dieser Fragen eine objektive Antwort zu geben. Gegenstand der Wissenschaft kann nach positivistischer Auf\/fassung daher bestenfalls sein, welche Antworten Gesellschaften oder einzelne Menschen auf diese Fragen geben oder unter welchen Bedingungen Menschen dazu neigen, derartige Fragen aufzuwerfen und dann auf diese oder jene Weise zu beantworten. Ausgeschlossen ist jedoch die Erörterung moralischer oder spiritueller Fragen durch die Wissenschaft selbst. Solche Fragen dürfen vom Forscher, wenn überhaupt, dann höchstens privat und nach Feierabend gestellt werden.24Gerade dies ist es, was Max Weber mit gar nicht schlechten Gründen fordert. Vgl. Max Weber: Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, im folgenden zitiert als: Weber, Wissenschaftslehre, S. 489-540 (S. 492/493).
Genau dies hält Voegelin aber für einen untragbaren Zustand. Wichtiger vielleicht noch als das Problem der massenhaften Anhäufung irrelevanter Nebensächlichkeiten, welches Voegelin dem Positivismus ebenfalls vorwirft‚25Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 27. – Vgl. auch die Diskussion des Relevanzproblems im Briefwechsel zwischen Voegelin und Alfred Schütz, der in dieser Frage eine klarere Auf\/fassung vertritt, in: Eric Voegelin / Alfred Schütz / Leo Strauss / Aron Gurwitsch: Briefwechsel über „Die Neue Wissenschaft der Politik“ (Hrsg. von Peter J. Opitz), München 1993, 55ff. Schütz geht von einer bloß relativen Relevanz wissenschaftlicher Themen in Bezug auf bestimmte Fragestellungen aus. Voegelin gerät dagegen in Schwierigkeiten bei dem Versuch den Anspruch absoluter Relevanz von bestimmten Fragestellungen begründen will. ist es daher, dass einige der relevantesten Fragen der Menschheit vom Positivismus unter ein wissenschaftstheoretisches Tabu gestellt werden. Wie soll, so könnte man im Sinne Voegelins fragen, Politikwissenschaft möglich sein, wenn sie auf die Frage, ob der Faschismus dem Kommunismus vorzuziehen sei oder beiden vielleicht der Liberalismus, nur mit einem Achselzucken oder allenfalls mit dem (natürlich wertfrei zu haltenden) Hinweis auf die möglichen Folgen der Entscheidung antworten kann? Das Problem der Möglichkeit von Werturteilen in der Wissenschaft wird von Voegelin besonders detailliert an Max Weber herausgearbeitet.
Max Weber vertrat die Ansicht, dass Wertfragen nicht objektiv beantwortet werden können. Daher kann auch nicht wissenschaftlich über die Richtigkeit und Falschheit von Werten befunden werden. Wertfragen müssen vielmehr entschieden werden. Weber hat diese Art von Entscheidungen, die letztlich ohne rationale Anhaltspunkte getroffen werden müssen, Voegelin zufolge auch des öfteren als „dämonisch“ charakterisiert.26Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 33/34. – Zu der recht komplexen Beziehung Voegelins zu Webers Werk, auf die hier nicht ausführlich eingegangen werden kann, vgl. Peter J. Opitz: Max Weber und Eric Voegelin, in: Eric Voegelin: Die Größe Max Webers. (Hrsg. von Peter J. Opitz), München 1995, S. 105-133. Dennoch spielen Werte in der Wissenschaft in einem anderen Zusammenhang bei Max Weber durchaus eine Rolle. Die Auswahl des Gegenstandes der Wissenschaft erfolgt nämlich wertgesteuert durch die wissenschaftliche Interessenrichtung des Forschers.27Vgl. Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Weber, Wissenschaftslehre, S. 146-214. (S. 175-185). Dies ist einer der Punkte, an denen Voegelins Kritik am Wertfreiheitsdogma ansetzt. Wenn Werte nicht wissenschaftlich begründet werden können, sie aber gleichzeitig die Voraussetzung zur „Konstitution des Gegenstandes der Wissenschaft“28Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 37. bilden, dann gibt es ebenso viele Wissenschaften, wie es Werte gibt. Das Ergebnis wäre ein Relativismus als Konsequenz der Objektivitätsforderung.29Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 37. Für Voegelin hat Max Weber damit das Prinzip der wertfreien Wissenschaft ad absurdum geführt. Voegelin anerkennt durchaus das historische Verdienst Max Webers, welches für ihn darin besteht, dass Max Weber das Problematische des Positivismus reflektiert hat, wenn er auch immer noch in den positivistischen Tabus seiner Zeit befangen blieb. Dass Max Weber der Durchbruch zu einer umfassenden, d.h. auch Werte mit einschließenden politischen Ordnungswissenschaft nicht gelungen ist, erklärt sich Voegelin mit eben dieser Befangenheit Webers und damit, dass Weber bei seinen historischen Studien genau die Epochen und Denker ausließ, bei denen er auf eine solche Ordnungswissenschaft hätte stoßen können, nämlich die Epochen der griechischen Antike und des vorreformatorischen Christentums, in denen Denker wie Platon und Aristoteles oder, im anderen Fall, Thomas von Aquin über eine politische Ordnungswissenschaft verfügten.30Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.41.
Es gibt jedoch einen Punkt, über den Voegelin bei seiner Auseinandersetzung mit Max Weber mit einer gewissen Ungeduld hinweggeht. Dass Max Weber Werte für rational unbegründbar hält, hängt nicht bloß mit dem ungünstigen historischen Umstand zusammen, dass er in einer positivistisch geprägten Epoche lebte, noch kann es ernsthaft dadurch erklärt werden, dass Max Weber die Auseinandersetzung mit dem christlichen Mittelalter und Vertretern der Ordnungswissenschaft wie Thomas von Aquin, Platon und Aristoteles peinlichst vermieden hätte.31Vgl. zu dieser wenig glaubwürdigen Unterstellung Voegelins auch Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 27. Vielmehr besaß Max Weber sachliche Gründe für die Annahme, dass sich Werte nicht rational begründen lassen. Bisher, und dies gilt auch noch 80 Jahre nach Max Weber, ist es noch niemandem gelungen, die Gültigkeit irgendeiner moralischen Norm vollständig zu beweisen. Das Einzige, was erreicht worden ist, ist die Rückführung moralischer Normen auf andere Normen. Irgendwann einmal gelangt man auf diese Weise jedoch zu einer obersten Norm (z.B. Menschenliebe, kategorischer Imperativ oder dergleichen), die sich nicht auf weitere Normen zurückführen lässt. Es kann nun behauptet werden, dass diese Norm ein „Faktum der Vernunft“32Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg 1990, S.36. oder ein Befehl Gottes ist oder dass sie von Natur aus gilt. Aber all das sind lediglich eloquente Beteuerungen ihrer Gültigkeit und keine rationalen Begründungen. Max Weber hielt Wertfragen deshalb wissenschaftlich nicht für entscheidbar. Mit gutem Grund sprach er sich daher dagegen aus, in der Wissenschaft Werturteile zu fällen, und nicht bloß, weil er ein Opfer des positivistischen Zeitgeistes gewesen wäre.33Vgl. Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Weber, Wissenschaftslehre, S. 146-214 (S. 151-157). – Vgl. Max Weber: Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Weber, Wissenschaftslehre, S. 489-540 (S. 508). – Zur Diskussion über die Wertfreiheit in den Sozialwissenschaften: Hans Albert / Ernst Topitsch (Hrsg.): Werturteilsstreit, Darmstadt 1971, im folgenden zitiert als: Albert/Topitsch, Werturteilsstreit. Darin besonders deutlich gegen die Möglichkeit wissenschaftlicher Wertbegründung: Walter Dubislav: Zur Unbegründbarkeit der Forderungssätze, S. 439-454. Noch am ehesten mit Voegelins Auf\/fassung vergleichbar: Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, S. 334-364 (S. 337). Daher ist es auch kaum anzunehmen, dass Max Weber seine Auf\/fassungen zur Werturteilsproblematik hätte revidieren müssen, wenn er die Zeitalter von Aristoteles oder von Thomas von Aquin in seinen Forschungen stärker berücksichtigt hätte, denn weder Aristoteles noch Thomas von Aquin haben eine Methode gefunden, mit der Wertfragen wissenschaftlich entschieden werden können.
Ebensowenig stimmt es, dass die interessengeleitete bzw. wertbezogene Auswahl der Gegenstände wissenschaftlicher Forschung – Voegelin spricht hier mit einer sehr unklaren phänomenologischen Terminologie von der „Konstitution des Gegenstandes der Wissenschaft“34Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 37.– zum Relativismus führt. Von Relativismus kann nur dann die Rede sein, wenn es sich um widersprüchliche Aussagen zu ein und demselben Gegenstand handelt, die alle vom jeweiligen Standpunkt aus gleichermaßen berechtigt erscheinen. Da sich die Wertbezogenheit aber nur auf die Auswahl der Untersuchungsgegenstände bezieht und nicht die Aussagen über diese Gegenstände selbst und die Verfahren zur Prüfung der Richtigkeit der Aussagen betrifft, wird die Gefahr des Relativismus vermieden.35Vgl. Ernest Nagel: Der Einfluß von Wertorientierungen auf die Sozialforschung, in: Albert/Topitsch, Werturteilsstreit, S. 237-250 (S. 237-239). Eine m.E. Voegelins Sichtweise ähnelnde Auf\/fassung vertritt dagegen Hans Albert, in: Hans Albert: Kritische Vernunft und menschliche Praxis, Stuttgart 1977, S. 71f. Albert scheint jedoch zu übersehen, dass die Normierungen, die den Erkenntnisprozess durchsetzen, ausschließlich von der Art der hypothetischen Imperative Kants sind, welche kein eigentliches Wertbegründungsproblem aufwerfen. Max Weber gerät auch nicht in einen Widerspruch, wenn er ungeachtet der Wertfreiheit der Wissenschaft den Marxismus wissenschaftlich kritisiert, denn das Wertesystem des Marxismus bleibt von dieser Kritik unberührt. Lediglich die Sachaussagen des Marxismus, also etwa Aussagen über den vermuteten Verlauf der künftigen Geschichte, können wissenschaftlich kritisiert werden.
Die Positivismuskritik Voegelins bedarf ebenfalls einer gewissen Differenzierung: Das zentrale Motiv wenigstens des Neupositivismus ist nicht so sehr die Forderung nach Imitation der naturwissenschaftlichen Methoden in allen Wissensbereichen.36Vgl. andererseits die Schwächen, die Shapiro bei den Anhängern des logisch-empiristischen Wissenschaftsideals in den Gesellschaftswissenschaften diagnostiziert, in: Shapiro, a.a.O., S. 23ff. Dem Neupositivismus geht es vielmehr darum, dass Erkenntnis nur möglich ist, wenn sich Kriterien anführen lassen, die es erlauben, die Richtigkeit oder Falschheit von Behauptungen festzustellen.37Vgl. Richard von Mises: Kleines Lehrbuch des Positivismus. Einführung in die empiristische Wissenschaftsauf\/fassung, Frankfurt am Main 1990 (zuerst: Den Haag 1939), S. 135ff. – Ob Voegelins Kritik tatsächlich auch auf den Neupositivismus, wie er vom Wiener Kreis um Moritz Schlick entwickelt wurde, abzielt, lässt sich der Darstellung in der „Neuen Wissenschaft der Politik“ nicht unmittelbar entnehmen. Aber schwerlich kann Voegelin nur Auguste Comte im Auge haben, der zu der Zeit, als die „Neue Wissenschaft der Politik“ erschien, in der philosophischen und wissenschaftlichen Diskussion keine Rolle mehr spielte. (Vgl. Robert A. Dahl: The Science of politics: New and Old, in: World Politics Vol. VII (April 1955), S. 484-489.) Nur dann lässt sich überhaupt zwischen echter Erkenntnis und bloßer Meinung unterscheiden. Zumindest bezogen auf wissenschaftliche Erkenntnis ist kaum zu bestreiten, dass diese Forderung berechtigt ist, wobei allerdings über die erforderliche Strenge der Prüfungskriterien unterschiedliche Auf\/fassungen bestehen können. Die Bemerkungen, die Voegelin zu dem Problem der Überprüfung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der „Neue[n] Wissenschaft der Politik“ fallen lässt, sind wenig erhellend. Sie besagen kaum mehr, als dass die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung die Erwartungen des Wissenschaftlers erfüllen müssen.38Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.23. Voegelin äußert sich dort mit Worten wie diesen: „Wenn die Methode das anfangs nur trübe Geschaute zu wesenhafter Klarheit gebracht hat, dann war sie adäquat; ...“. – Interessanterweise kritisiert Voegelin eben diesen Grundsatz, dass die Wahrheit der Prämissen durch das Ergebnis der Untersuchung gerechtfertigt wird, einige Jahre später bei Hegel auf das Schärfste. Vgl. Eric Voegelin: Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959, im folgenden zitiert als: Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, S. 55. Dies garantiert jedoch noch keine Erkenntnis und könnte schlimmstenfalls sogar auf die bloße Bestätigung der Vorurteile des Forschers hinauslaufen.
Ist Voegelins Kritik des Positivismus daher zwar in mancher Hinsicht unzulänglich, so wird in diesem Zusammenhang doch zumindest seine Grundintention deutlich, die auf die Schaffung der Politikwissenschaft als einer umfassenden Ordnungswissenschaft zielt, welche sich auch den Wert- und Sinnfragen nicht verschließt. Wie sieht nun diese umfassende Ordnungswissenschaft aus?
2. Politikwissenschaft als Ordnungswissenschaft
Voegelin verfolgt mit seiner Politikwissenschaft sowohl eine rein theoretische als auch eine normative Absicht. Zum einen stellt er Prinzipien zur Analyse bestehender politischer Ordnungen auf, zum anderen glaubt er, Kriterien angeben zu können, mit denen über den Wert einer politischen Ordnung objektiv entschieden werden kann. Beidem liegt jedoch ein und dieselbe dogmatische Vorstellung vom Wesen politischer Ordnung zu Grunde: Politische Ordnung ist Voegelin zufolge stets ein Abbild der Seinsordnung, wie sie von der jeweiligen Gesellschaft in spiritueller Erfahrung erlebt wird.
2.1 „Artikulation“ und „Repräsentation“ als Grundfunktionen politischer Ordnung
Im Zentrum des nicht-normativen Teils des politikwissenschaftlichen Programms der „Neuen Wissenschaft der Politik“ stehen die Begriffe der Artikulation, der Repräsentation und der Erfahrung. Unter Artikulation versteht Voegelin den Prozess der Entstehung einer politischen Gesellschaft. Voegelin spricht auch davon, dass sich eine Gesellschaft „zur historischen Existenz“ artikuliert.39Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 61., S. 67. Den Ausdruck „Artikulation“ gebraucht Voegelin deshalb, weil die Symbole, mit denen eine Gesellschaft ihr Selbstverständnis ausdrückt, in seinen Augen bereits einen wesentlichen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausmachen und dadurch die politische Gemeinschaft recht eigentlich erst hervorbringen.40Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 50. Voegelin bezeichnet diesen Komplex von Symbolen, die das Selbstverständnis einer Gesellschaft ausdrücken, auch als „Symbolismus“.41Der Ausdruck „Symbolismus“ könnte an Ernst Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“ angelehnt sein. Auch Cassirer hält die Fähigkeit, Symbole zu bilden, für eine menschliche Leistung sui generis und betrachtet den Begriff der „symbolischen Form“ daher als einen irreduziblen Grundbegriff der Humanwissenschaften, ohne allerdings so weitreichende Konsequenzen zu ziehen wie Voegelin. Vgl. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, S. 49. In dem Ausdruck „Artikulation“ klingt darüber hinaus etwas von Voegelins spezifischem Verständnis von politischer Ordnung an. Voegelin zufolge äußern die politischen Gesellschaften nicht bloß irgendein beliebiges Selbstverständnis, sondern durch ihre Ordnung „artikulieren“ sie zugleich ihr Verständnis der Ordnung des Seins.42In der „History of Political Ideas“ spricht Voegelin noch etwas plastischer von „Evokation“. (Vgl. Voegelin, „Introduction“ zur „History of Political Ideas“, S. 23ff.) Möglicherweise erschien Voegelin der Ausdruck „Evokation“ später zu relativistisch, indem dieses Wort suggeriert, dass die „evozierte“ Realität ein gesellschaftliches Artefakt ist und nicht Ausdruck von spirituellen Erfahrungen.
Zur Artikulation, d.h. zur Entstehung und Erhaltung einer politischen Gesellschaft gehört aber auch eine Form herrschaftlicher Organisation dieser Gesellschaft. Diesen Aspekt beschreibt Voegelin mit dem Begriff der Repräsentation. Unter Repräsentation versteht Voegelin, abweichend von der im politikwissenschaftlichen Kontext üblichen Bedeutung von Repräsentation als demokratischer Volksvertretung, eine herrschaftliche Vertretung beliebiger Art im politischen Handeln der Gesellschaft.43Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 60 unten, S. 61 oben, wo sehr deutlich wird, dass Voegelin mit „Repräsentation“ eigentlich eher Herrschaft als Repräsentation im Sinne einer ganz bestimmten, nämlich demokratischen Form der Herrschaftsbestellung meint. – Die Verworrenheiten von Voegelins Repräsentationsbegriff sind mit größter Klarheit von Hans Kelsen aufgedeckt worden. Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 29-76. – Vgl. auch Arnold, Nachwort zu Kelsens Voegelin-Kritik, S. 122ff. Voegelin unterscheidet drei Ebenen der Repräsentation: deskriptive Repräsentation, existenzielle Repräsentation und transzendente Repräsentation. Unter deskriptiver Repräsentation versteht Voegelin ein beliebiges System institutioneller Regelungen, welches handlungsbevollmächtigte Vertreter einer politischen Gemeinschaft hervorbringt. Ausgeschlossen bleiben auf dieser Ebene noch Fragen wie die nach der Legitimität, Effizienz und auch der tieferen Wahrheit eines solchen Systems.44Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 57. – Auch wenn Voegelin es anfangs so erscheinen lässt, deckt sich sein Begriff deskriptiver Repräsentation nicht mit dem in der (westlichen) Politikwissenschaft üblichen Begriff von Repräsentation, denn das herkömmliche Verständnis von Repräsentation umfasst auch den Legitimitätsaspekt und beschränkt den Begriff andererseits auf die demokratische Repräsentation, so dass es ein klarer Missbrauch dieses Ausdruckes wäre, so wie Voegelin es tut, im Falle des Sowjetsystems von repräsentativer Regierung zu reden. Vgl. dazu Kelsen, A New Science of Politics, S. 41. Von existenzieller Repräsentation spricht Voegelin, wenn eine „deskriptive Repräsentation“ vorliegt, durch die eine Herrschaft hervorgebracht wird, deren Anordnungen Gehorsam finden und die in der Lage ist, die vitalen Bedürfnisse einer politischen Gesellschaft (also Schutz nach außen und Sicherheit im Inneren) zu garantieren. Der Begriff entspricht weitgehend dem, was man üblicherweise eine legitime Herrschaft nennt.45Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 77.
Bis zu diesem Punkt bietet Voegelin, abgesehen von seiner eigenwilligen Terminologie, nichts Ungewöhnliches. Ein grundlegend neuer Aspekt tritt jedoch mit der dritten Bedeutungsebene von Voegelins Repräsentationsbegriff, der „transzendenten Repräsentation“, hinzu. Die transzendente Repräsentation bezieht sich nicht mehr nur auf Regierung und Herrschaft, sondern auf die politische Ordnung einer Gesellschaft im Ganzen. Alle politischen Gesellschaften halten ihrem Selbstverständnis nach ihre eigene politische Ordnung für die wahre Ordnung. Voegelin fasst dies so auf, dass die politischen Gesellschaften durch ihre politische Ordnung eine höhere Wahrheit repräsentieren.46Vgl. Voegelin, S. 81ff. So glaubten etwa die Menschen in Mesopotamien oder im alten Ägypten, dass sich in ihrer politischen Ordnung die Ordnung des Kosmos widerspiegele bzw. fortsetze. Doch ist dies nicht die einzige Möglichkeit der Wahrheitsrepräsentation. In Platons idealem Staat etwa repräsentiert die politische Ordnung eine Wahrheit, derer der Philosoph im Inneren seiner Seele gewahr wird. Voegelin sieht deshalb im Auftreten Platons den Durchbruch zu einem neuen Typus von transzendenter Repräsentation.47Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 93.
2.2 Der Begriff der „Erfahrung“ als Zentralbegriff von Voegelins Theorie politischer Ordnung
Eine zentrale Stellung kommt in diesem Zusammenhang dem Begriff der Erfahrung zu. Die Wahrheit, die die politischen Gesellschaften repräsentieren, beruht nach Voegelins Ansicht auf einer spirituellen Erfahrung der Ordnung des Seins. Dieser Begriff der Erfahrung verlangt auf Grund seiner großen Bedeutung für Voegelins Verständnis von politischer Ordnung eine etwas eingehendere Untersuchung.48Zur Genese des Begriffes der Erfahrung im Werk Eric Voegelins: Vgl. Peter J. Opitz: Rückkehr zur Realität: Grundzüge der politischen Philosophie Eric Voegelins, in: Peter J. Opitz / Gregor Sebba (Hrsg.): The Philosophy of Order. Essays on History, Consciousness and Politics, Stuttgart 1981, S. 21-73.
Erfahrung spielt bereits in Voegelins frühesten Schriften eine Rolle, in welchen der Nachvollzug der seelischen Hintergründe und motivierenden Erfahrungen zu den grundlegenden Methoden des Verständnisses philosophischer Texte gehört.49Deutlich wird dies etwa in: Eric Voegelin: On the Form of the american Mind, Baton Rouge / London 1995, S. 23ff. Voll entfaltet und für das Verständnis politischer Ordnungen fruchtbar gemacht wird dieser Begriff jedoch erst mit „Order and History“. Der Begriff der Erfahrung ist nicht nur einer der wichtigsten Begriffe bei Voegelin, sondern angesichts der in ihn eingehenden theoretischen Voraussetzungen zugleich auch einer der anspruchsvollsten Begriffe Voegelins.
Um Verwechselungen zu vermeiden, soll zunächst geklärt werden, was „Erfahrung“ bei Voegelin nicht bedeutet: „Erfahrung“ bedeutet bei Voegelin nicht wissenschaftliche Empirie. Die wissenschaftliche Empirie bezieht sich auf deutlich abgrenzbare und klar beschreibbare Sinneserfahrungen. Erfahrung im Sinne Voegelins meint dagegen eher ein schwer fassbares inneres Erleben. Zwar spricht Voegelin an einer Stelle davon, dass man sich zur empirischen Überprüfung auf die Erfahrung zu beziehen habe, aber dies geschieht wohl vornehmlich aus dem Wunsch heraus, seinen eigenen Begriff von Erfahrung an die Stelle der wissenschaftlichen Empirie treten zu lassen, und nicht weil diese beiden Begriffe irgendetwas gemeinsam hätten.50Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.96. Dass die Erfahrungen, von denen Voegelin spricht, ihrerseits nicht als Kriterium für die Überprüfung wissenschaftlicher Theorien taugen, wird besonders daran deutlich, dass Voegelin zwar einerseits von einer Überprüfung an der Erfahrung spricht, dass dann aber, wenn sich bei bestimmten Menschen die Erfahrungen, die er meint, nicht einstellen, die Betreffenden kurzerhand für verstockt und ihre Erfahrungen für deformiert erklärt werden.51Vgl. auch Ted V. McAllister: Revolt against modernity. Leo Strauss, Eric Voegelin & the Search For a Postliberal Order, Kansas 1995, S. 172. (McAllister scheint das Problematische an Voegelins Erfahrungsbegriff freilich nicht recht zu sehen.) Unter solchen Bedingungen ist eine Überprüfung anhand der Erfahrung natürlich ausgeschlossen. Weiterhin meint Voegelin (um auch dieses mögliche Missverständnis auszuschließen), wenn er von „Ordnungserfahrung“ spricht, niemals den Komplex täglicher Lebenserfahrungen, die wir in einer geordneten gesellschaftlichen Umwelt haben. Dies würde Voegelins Konzeption geradezu auf den Kopf stellen, denn für Voegelin resultiert die gesellschaftliche Ordnung aus der Ordnungserfahrung und nicht umgekehrt.
Was bedeutet aber nun „Erfahrung“, wenn es sich nicht um Sinneserfahrungen handelt? Mit „Erfahrung“ meint Voegelin hauptsächlich ein bestimmtes inneres Erleben mystisch-religiöser Art. Diese Erfahrung existiert in unterschiedlichen Varianten. So unterscheidet Voegelin die Erfahrungen hinsichtlich ihres Niveaus nach kompakten und differenzierten Erfahrungen. Auf dem kompakten Erfahrungsniveau, welches vor allem für die älteren kosmologischen Gesellschaften charakteristisch ist, ist die Erfahrung als inneres Erlebnis noch gar nicht bewusst und unauflöslich mit dem allgemeinen Daseinsgefühl verwoben. Der Gegensatz „kompakt-differenziert“ wird bei der Darstellung von Voegelins Geschichtsphilosophie noch genauer erörtert werden. Es sei nur soviel vorweggenommen, dass Voegelin an eine historische Entwicklungstendenz hin zu immer differenzierteren Erfahrungen glaubte. Obwohl nämlich die Erfahrung als inneres Erlebnis eine höchst individuelle, ja geradezu intim persönliche Angelegenheit darstellt, ist sie dennoch durch ein erstaunliches Maß von gesellschaftsinterner Einförmigkeit gekennzeichnet. Alle Individuen einer Gesellschaft haben bei Voegelin offenbar die gleichen seelischen Erlebnisse, solange bis ein Prophet oder Philosoph kommt und ihnen eine neue Art des seelischen Empfindens nahe bringt.52Nicht eindeutig lässt sich übrigens die Frage klären, ob und wodurch sich bei Voegelin die Erfahrung des Propheten von den Erfahrungen seiner Anhänger unterscheidet: Gibt es (1.) keinen Unterschied oder besteht (2.) bloß ein Unterschied der Intensität oder liegt (3.) auch hier ein Unterschied der Differenziertheit vor? Für das Letztere spricht, dass es bei Voegelin gelegentlich den Anschein hat, als sei nur eine gesellschaftliche Elite starker Seelen der differenziertesten Erfahrung fähig. Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 172-174. Die Theorie, die Voegelin an dieser Stelle vertritt, ist übrigens in jeder Hinsicht unglaubwürdig: 1. Unsicherheit ist – anders als Voegelin behauptet – gewiss nicht das Wesen des Christentums. Jeder christliche Priester wird uns ganz im Gegenteil bestätigen, dass gerade der Glaube der unsicheren, zufälligen und schutzlosen Existenz des Menschen Halt und Sicherheit zu geben vermag. (Vgl. dazu auch Kelsen, A New Science of Politics, a.a.0., S. 87/88.) 2. Die Annahme, dass die gnostischen Turbulenzen des Mittelalters und der Neuzeit ursprünglich dadurch verursacht wurden, dass mit der Ausbreitung und Zunahme höherer Bildung im Zuge der Verstädterung im Spätmittelalter zunehmend auch Unberufene mit der vollen und, wie Voegelin glaubt, nur für ganz starke Seelen erträglichen Wahrheit des Christentum in Berührung kommen, kann man kaum ernst nehmen. Möglicherweise entspringt der Geistes- und Seelenaristokratismus, der dabei zum Ausdruck kommt, Voegelins Beschäftigung mit den Schriften des George-Kreises in den 20er und 30er Jahren. Zu Voegelins George-Rezeption vgl. Thomas Hollweck: Der Dichter als Führer. Dichtung und Repräsentanz in Voegelins frühen Arbeiten, München 1996.
Wenn die Erfahrung ein inneres Erleben ist, so stellt sich die Frage, was dort eigentlich erlebt wird. Was ist der Inhalt der Erfahrung? Dies ist eine Frage, bei deren Beantwortung auch Voegelin vor großen Schwierigkeiten stand. Oberflächlich könnte der Eindruck entstehen, dass je nach historischem Erfahrungsniveau unterschiedliche Dinge erfahren werden: In der kosmischen Erfahrung wird der Kosmos erfahren, auf differenzierterem Erfahrungsniveau dagegen wird die Transzendenz erfahren.53Siehe dazu auch Fußnote . Aber Voegelin wollte es nicht bei einem unvermittelbaren Gegensatz zwischen den verschiedenen Erfahrungstypen bewenden lassen. In seinen Augen ist die Erfahrung der Transzendenz schon auf kompaktem Niveau unbewusst mitgegenwärtig. Will man die übergreifenden Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Erfahrungstypen herausstellen, so lässt sich in etwa festhalten, dass nach Voegelins Vorstellung in jedem Falle das Sein im Ganzen und die Stellung des Menschen im Sein erfahren wird, nur dass auf kompaktem Erfahrungsniveau das Sein als sinnhaft geordneter Kosmos erlebt wird, während es auf differenziertem Niveau als Stufenfolge immanenter und transzendenter Seinsstufen erfasst wird. Entscheidend ist, dass in jedem Falle die ontologische Ordnung ein und desselben Seins erfahren wird.54Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 305.
2.3 Von der Ordnungserfahrung zur politischen Ordnung
Die Beziehung zwischen Erfahrung und Ordnung stellt sich bei Voegelin in der Weise dar, dass die spirituelle Erfahrung die Quelle der politischen Ordnung ist. Man könnte etwas überspitzt sagen, dass bei Voegelin die Erfahrung die Basis bildet, während die politischen Ideen und Institutionen den Überbau verkörpern, wobei Voegelin allerdings nicht gänzlich leugnet, dass es auf der Ebene pragmatischer Politik auch Probleme gibt, deren Lösung weitgehend unabhängig von dem ist, was sich auf der spirituellen Basis-Ebene abspielt. Ordnung existiert dabei auf insgesamt drei Ebenen: Als Ordnung des Seins, als Ordnung der Seele und als Ordnung der Gesellschaft.55Als viertes könnte noch die „Ordnung der Geschichte“ hinzugefügt werden, die in der Regel allerdings keine Voraussetzung der politischen Ordnung einer Gesellschaft darstellt (außer m.E. in dem denkbaren Fall sich selbst primär geschichtlich legitimierender Gesellschaften), sondern sich für Voegelin umgekehrt aus der Abfolge politischer Ordnungen in der Geschichte ergibt. Die Reihenfolge dieser Ordnungen ist nicht umkehrbar: Zunächst existiert die Ordnung des Seins. Diese wird vom Menschen erfahren und verleiht ihm dadurch eine Ordnung der Seele, welche sich wiederum auf die Ordnung der Gesellschaft auswirkt. Voegelin scheint es für ausgeschlossen zu halten, dass es zu diesem Weg, eine Ordnung der Seele und eine Ordnung der Gesellschaft zu erlangen, eine legitime Alternative gibt.56Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 349. Es handelt sich dabei um einen der vielen dogmatischen Grundsätze von Voegelins Theorie, die er voraussetzt aber niemals begründet.
Die Ordnungserfahrungen unterschiedlicher Kulturen sind nun allerdings häufig höchst gegensätzlich beschaffen und stehen oft in unvereinbarem Gegensatz zueinander.57Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 86-90. Voegelin hält es dennoch für möglich, politische Ordnungen nach ihrer Wertigkeit zu unterscheiden.58Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 91. Maßstab hierfür sind nicht irgendwelche moralischen Ideale, etwa Humanität oder Gerechtigkeit, sondern die spirituelle Erfahrung selbst. Hieraus ergibt sich die normative Zielsetzung. Um zur normativ richtigen politischen Ordnung zu gelangen, ist es erforderlich, eine spirituelle Empfindsamkeit auf höchstem Niveau zu kultivieren, was Voegelin in Anlehnung an Henri Bergson als das „Öffnen der Seele“ bezeichnet.59Vgl. Henri Bergson: Die beiden Quellen der Moral und der Religion, Olten 1980, S. 33-36. Bei Voegelin wird das „Öffnen der Seele“ im Gegensatz zu Bergson jedoch eher sensitiv als schöpferisch gedacht. Dieses „Öffnen der Seele“ ermöglicht es, die Ordnung des Seins angemessen zu erfahren und dadurch einen „autoritativ“ gültigen Maßstab für die richtige politische Ordnung zu gewinnen.60Vgl. Voegelin, Order and History II, S. 6/7.
2.4 Probleme der Voegelinschen Konzeption politischer Ordnung
An dieser Stelle steht die normative Konzeption Voegelins vor einem schwierigen Problem: Wie kann gültig zwischen richtiger und falscher Erfahrung von der Ordnung des Seins unterschieden werden? In der „Neuen Wissenschaft der Politik“ gibt Voegelin auf diese Frage keine zufriedenstellende Antwort. Der Hinweis auf das unterschiedliche, kompakte oder differenzierte Niveau von Erfahrungen hilft kaum weiter, da gerade das Niveau aus der jeweiligen Sicht der unterschiedlichen Erfahrungen gegensätzlich beurteilt werden dürfte.61Das Problem der Relativität der Wertungen wird von Voegelin zwar öfters angesprochen und manchmal auch eine Weile verfolgt (z.B. anlässlich der Interpretation von Aristoteles in: Eric Voegelin: Order and History. Volume Three. Plato and Aristotle, Baton Rouge / London 1986 (zuerst: 1957), im folgenden zitiert als: Voegelin, Order and History III, S.299-302.), aber niemals glaubhaft gelöst. Zweifelhaft ist auch Voegelins Voraussetzung, dass es eine Ordnung des Seins gibt, die jenseits naturgesetzlicher Bestimmtheit einen sinnhaften Zusammenhang der Dinge herstellt. Selbst wenn eine solche Ordnung des Seins objektiv vorhanden wäre, so ist noch längst nicht geklärt, ob diese Ordnung des Seins auch dazu geeignet ist, die Grundlage der politischen Ordnung einer Gesellschaft abzugeben. Woher können wir die Sicherheit nehmen, dass die Normen, die aus der Ordnung des Seins abgeleitet sind, moralisch akzeptabel und mit den praktischen Erfordernissen der Politik verträglich sind? Ohne eine schlüssige Antwort auf diese Frage dürfte Voegelins normatives Programm, welches die Revitalisierung eines spirituell-religiös eingebundenen Politikverständnisses in der heutigen Zeit anstrebt, kaum bei der Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Praxis hilfreich sein.
Aber nicht nur die normative Seite von Voegelins politikwissenschaftlichem Ansatz bereitet Schwierigkeiten. Auch Voegelins analytische Konzeption ruht auf einer Reihe von sehr anspruchsvollen und längst nicht restlos geklärten Voraussetzungen. Schon die Annahme, dass alle politischen Ordnungen auf einer metaphysischen Erfahrung der Ordnung des Seins beruhen müssen, fordert Widerspruch heraus, denn offensichtlich kommen die liberalen Demokratien ohne eine derartige Grundlage aus. Voegelin versucht diese Tatsache zu leugnen, indem er entweder die Situation des Liberalismus als höchst gefährdet und prekär darstellt, weil ihm eine solche Grundlage fehlt‚62Vgl. Eric Voegelin: Der Liberalismus und seine Geschichte, in: Karl Forster (Hrsg.): Christentum und Liberalismus, München 1960, S. 13-42 (S. 35-42). oder den liberalen Demokratien unterstellt, in verschleierter Form (als „common sense“) doch ein solches metaphysisches Ordnungswissen zu konservieren.63Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 352-354. Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 259. Hier zeigt sich wiederum die an Voegelins spirituellem Erfahrungsbegriff zu Tage getretene erkenntnistheoretische Gefahr des normativ-ontologischen Ansatzes. Wird nämlich ein und dieselbe Theorie zur Sacherklärung wie zur normativen Kritik verwandt, so liegt es nahe, diejenigen Fälle, die der Theorie widersprechen könnten, nicht als falsifizierende Gegenbeispiele in Betracht zu ziehen, sondern als illegitime Fälle der normativen Kritik zu unterwerfen.64Dies wird auch besonders an Voegelins Behandlung der Philosophiegeschichte deutlich. Philosophien, die Voegelin nicht als Artikulation von Seinserfahrungen deuten kann, verwirft er in der Regel als törichte oder gefährliche Abirrungen.
Darüber hinaus wirft Voegelins Erfahrungsbegriff als methodisches Analysewerkzeug einige Probleme auf. Die Aufgabe des Verstehens politischer Ordnung besteht für Voegelin darin, in die Erfahrungen der entsprechenden Gesellschaft oder, wenn es sich um die Untersuchung einer politischen Theorie handelt, in die Erfahrung des entsprechenden Theoretikers einzudringen. Voegelin unterscheidet dieses Eindringen in die motivierenden Erfahrungen klar von der bloßen Rekonstruktion einer Theorie auf der Ebene der politischen Ideen.65Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 115-117, S. 176. – Auf Seite 176 schreibt Voegelin: „Es wird .. nicht überflüssig sein, sich des Prinzips zu erinnern, daß die Substanz der Geschichte auf der Ebene der Erlebnisse, nicht auf der Ebene der Ideen zu finden ist“. Die Ideen sind nur die Oberfläche, während die Erfahrungen das seelische Innere repräsentieren, auf das es eigentlich ankommt. Um also beispielsweise die politische Theorie Platons zu verstehen, genügt es nicht zu untersuchen, welche Institutionen und Gesetze Platon vorschlägt. Vielmehr ist danach zu fragen, welche motivierenden inneren Erlebnisse Platons Denken zu Grunde liegen. Aber wie kann man den seelischen Erfahrungshintergrund einer Theorie sicher rekonstruieren? Das Verfahren, welches Voegelin zur Ergründung der Erfahrungen anwendet, scheint eines der Innervation mit anschließender Selbstauslegung zu sein. Naturgemäß sind daher die Ergebnisse, zu denen Voegelin gelangt, stark subjektiv gefärbt. So findet Voegelin beispielsweise bei Thomas von Aquin die tiefste und reinste Transzendenzerfahrung, während er der Reformation eine echte Erfahrungsgrundlage offenbar nicht in gleichem Maße zubilligen will.66Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 188. Oft lässt sich bereits die Auswahl der von Voegelin als relevant eingestuften und zur Deutung herangezogenen Quellen nicht ohne weiteres nachvollziehen. Indessen muss eingeräumt werden, dass die Beweggründe des Handelns und Denkens von Menschen in der Tat häufig in inneren seelischen Regungen bestehen, die als solche niemals nach außen dringen, so dass man in derartigen Fällen entweder auf jede Chance des Verstehens ganz verzichten oder einen Versuch auf dem unsicheren Wege psychologischer Einfühlung wagen muss. Nur bleibt es dann immer noch grundsätzlich fragwürdig, ob für das Verständnis einer Theorie das Verständnis des Theoretikers und seiner Motive überhaupt eine notwendige Voraussetzung bildet. Die Wahrheit oder Falschheit einer Theorie entscheidet sich schließlich nicht an den Motiven des Erfinders der Theorie.
Im Ganzen beruht Voegelins politikwissenschaftliches Paradigma mit seiner starken Betonung der religiös-mystischen Erfahrung in hohem Maße auf bewusstseinsphilosophischen oder sogar theologischen Voraussetzungen. Dass es Voegelin kaum gelingt, diese Voraussetzungen hinreichend plausibel zu begründen, wird auch bei der Analyse seiner Bewusstseinsphilosophie in Kapitel deutlich werden.
B. Voegelins Geschichtsdeutung
Eine sehr große Bedeutung misst Voegelin der Geschichte und der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz bei. Voegelin folgt damit nicht nur einer Mode seiner Zeit, sondern die Untersuchung der historischen Entwicklung der politischen Ordnungsvorstellungen bildet neben der Erfahrungsanalyse auch einen wichtigen Bestandteil von Voegelins Methode des Verständnisses politischer Ordnungsvorstellungen. Eine politische Ordnungsvorstellung verstehen heißt bei Voegelin, ihre motivierenden Erfahrungen aufzudecken und sie auf ihre historische Urform zurückzuführen. Um ein vollständiges Bild von Voegelins politischem Denken zu geben, ist es daher unerlässlich, auch auf seine Geschichtsdeutung einzugehen. Dabei soll die Darstellung von Voegelins Geschichtsphilosophie, d.h. seiner Grundvorstellung vom Ablauf und der Bedeutung der Geschichte im Vordergrund stehen.
Voegelin hat seine Geschichtsdeutung neben der „History of Political Ideas“ vor allem in den fünf Bänden von „Order and History“, seinem eigentlichen wissenschaftlichen Hauptwerk, entfaltet.67Angaben im Literaturverzeichnis. Die philosophischen Grundlagen dieser Geschichtsdeutung legt Voegelin dabei insbesondere in den Einleitungen zu den Einzelbänden dar. „Order and History“ lässt sich am ehesten als eine Geschichte der spirituellen Entwicklung der Menschheit in theologischer Absicht charakterisieren. Um eine Geschichte der spirituellen Entwicklung handelt es sich, weil Voegelin sich darin fast ausschließlich der Deutung von religiösen und (stets spirituell interpretierten) philosophischen Weltauf\/fassungen widmet, während der Zusammenhang dieser Weltauf\/fassungen mit der gesellschaftlichen und institutionellen Ordnung nur am Rande behandelt wird. Von einer theologischen Absicht bei diesem Unternehmen kann man deshalb sprechen, weil Voegelin sich nicht darauf beschränkt, die unterschiedlichen religiösen Vorstellungswelten darzustellen, sondern das Ziel verfolgt aufzuzeigen, wie sich aus der geistigen Entwicklung der Menschheit nach und nach so etwas wie spirituelle Wahrheit herausschält. Diese Geschichtsdeutung wird von Voegelin durch eine zum Teil an anderer Stelle dargelegte historische Metaphysik überwölbt, nach welcher die Geschichte als ein theogonischer Prozess aufzufassen ist, in dessen Verlauf sich ein transzendentes ewiges Sein in der Zeit verwirklicht, indem es über das Medium des menschlichen Bewusstseins in die Immanenz eindringt.68Zu Voegelins Geschichtsphilosophie: Vgl. Eugene Webb: Eric Voegelin. Philosopher of History, Seattle and London 1981. – Vgl. Jürgen Gebhardt: Toward the process of universal mankind: The formation of Voegelin’s philosophy of history, in: Ellis Sandoz (Hrsg.): Eric Voegelins Thought. A critical appraisal, Durham N.C. 1982, S. 67-86.
1. Geschichte als Geschichte der spirituellen Entwicklung der Menschheit
Voegelins Geschichtsphilosophie ist im wesentlichen die einer Entwicklungs- und Fortschrittsgeschichte. Anders als die Fortschrittsgeschichten beispielsweise der Aufklärer ist Voegelins Fortschrittsgeschichte jedoch eine Geschichte des spirituellen und nicht des moralischen oder technischen Fortschritts. Dieser Geschichte des spirituellen Fortschritts liegt allerdings ein ahistorischer Kern in Form einer religiös-existenzialistischen Metaphysik zu Grunde, die Voegelins Auf\/fassung von der existenziellen Situation des Menschen widerspiegelt: Der Mensch findet sich in einer Welt wieder, deren Sinn er nicht kennt. Er ist sich zwar dunkel bewusst, dass er in dieser Welt eine Rolle zu spielen hat, die er nicht selbst bestimmen darf, dennoch weiß er nicht, was für eine Rolle dies ist. Anfänglich kann er diese Rolle nur schwach ahnen, doch er glaubt, dass sie etwas mit der Ordnung des Seins zu tun hat.69Vgl. Voegelin, Order and History I, S. 1/2. Das Trachten des Menschen zielt nun darauf ab, diese Ordnung zu finden und seine eigene Existenz sowie die Ordnung der Gesellschaft in Einklang mit ihr zu bringen, weil er hofft, dadurch seiner flüchtigen Existenz etwas mehr Dauerhaftigkeit zu verleihen. Die Suche nach der Ordnung des Seins bestimmt nun die Entwicklung der Geschichte. Die Dynamik dieser Entwicklung entspringt den wechselnden Auf\/fassungen davon, was die richtige Ordnung des Seins ist. Da der Mensch die wahre Ordnung des Seins nur ahndungsvoll spüren kann, ist es ihm nicht möglich, seiner Auf\/fassung von der richtigen Ordnung anders Ausdruck zu verleihen als dadurch, dass er sein Gefühl der Ordnung bzw. seine Ordnungserfahrung durch Analogien in Symbole fasst. Aus den solcherart artikulierten Ordnungsauf\/fassungen bestehen die bereits erwähnten Symbolismen. In der geschichtlichen Abfolge der Symbolismen glaubt Voegelin nun einen Fortschritt erkennen zu können, der, wie Voegelin es nennt, von „kompakteren“ zu „differenzierteren“ Symbolismen führt.70 Die Einleitung von Order and History I legt die Auf\/fassung nahe, dass es stets dieselbe Seinserfahrung ist, die nur unterschiedlich vollkommen artikuliert wird. (Vgl. Voegelin, Order and History I, S.1-11.) Im Schlusskapitel von „Anamnesis“ unterscheidet Voegelin dann unterschiedlich differenzierte Ordnungserfahrungen. Nur das Sein (bzw. die Realität) bleibt dasselbe, und sogar dies gilt nur unter Einschränkungen. (Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 286ff.)
Der Fortgang von einem Symbolismus zum nächsten tritt oft plötzlich und sprunghaft infolge neuer spiritueller Erlebnisse einzelner Personen ein, die Voegelin als „spirituelle Ausbrüche“ bezeichnet und die sich von den Menschen, denen sie widerfahren, auf den Rest der Gesellschaft übertragen (sofern dieser nicht gerade an einer törichten Verstocktheit leidet). Wenn der Übergang sehr plötzlich eintritt und der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Symbolismus besonders groß ist, dann spricht Voegelin von einem „Sprung im Sein“.71Vgl. Voegelin, Order and History I, S. 123. Dort definiert Voegelin den Begriff „Sprung im Sein“ als die „Entdeckung des transzendenten Seins als die Quelle der Ordnung im Menschen und der Gesellschaft“ (meine Übersetzung, E.A.). Nach dieser Definition dürfte es (wenigstens innerhalb der Geschichte einer Zivilisation) eigentlich nur einen einzigen „Sprung im Sein“ geben. Allerdings gebraucht Voegelin den Ausdruck auch häufig als Synonym für „spiritueller Ausbruch“. Ein solcher „Sprung im Sein“ fand zum Beispiel statt, als Moses das Volk Israel aus Ägypten führte, denn dabei wurde – abgesehen davon, dass dieses Ereignis die Geburtsstunde des Monotheismus war – der kosmische Symbolismus, welcher typischerweise mit einer zyklischen Geschichtsauf\/fassung verbunden ist, durch den völlig neuartigen historischen Symbolismus ersetzt.72Vgl. Voegelin, Order and History I, S. 116ff. Später hat Voegelin diese Auf\/fassung allerdings teilweise revidiert, nachdem er festgestellt hatte, dass unabhängig von diesem einmaligen Ereignis auch andere Völker auf die Idee gekommen waren, die Geschichte nicht nur zyklisch zu betrachten.73Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 79ff. – Vgl. Eric Voegelin: Order and History. Volume Four. The Ecumenic Age, Baton Rouge / London 1986 (zuerst: 1974), im folgenden zitiert als: Voegelin, Order and History IV, S. 7-13. Weitere wichtige Übergänge sind für Voegelin unter anderem die Entwicklung vom Judentum zum Christentum und der Übergang von der Mythologie zur Philosophie im antiken Griechenland. Wenn Voegelin in diesen Übergängen einen Fortschritt sieht, so stellt sich natürlich die Frage, was die nachfolgenden Symbolismen gegenüber den vorhergehenden als überlegen auszeichnet. Warum ist die mosaische Religion der ägyptischen überlegen, und was verleiht dem Christentum vor dem Judentum den Vorzug, fortschrittlicher zu sein? Voegelin versucht meist, solche Wertungen mit der Behauptung der größeren Differenziertheit des seiner Ansicht nach besseren Symbolismus zu begründen. Da dem Konzept der Differenzierung für Voegelins Vorstellung vom Fortschritt (oder auch gelegentlichem Rückschritt) der Geschichte eine zentrale Bedeutung zukommt, soll es etwas ausführlicher untersucht werden.
2. Exkurs: Die Begriffe „Kompaktheit“ und „Differenzierung“
Das Begriffpaar „kompakt-differenziert“ ist neben dem Begriff der (spirituellen) Erfahrung ein weiteres großes Feigenblatt der Voegelinschen Geschichtsphilosophie, denn mit diesem Begriffspaar kaschiert Voegelin eine Reihe von Begründungsproblemen, Unklarheiten und fragwürdigen Voraussetzungen. Der Gegensatz „kompakt-differenziert“ kann zunächst auf einer rein formalen Ebene verstanden werden. Aber es zeigt sich rasch, dass die formale Bedeutung nicht ausreicht, um alle Funktionen dieses Gegensatzpaares zu rechtfertigen.
Auf der formalen Ebene bedeutet Differenzierung das Auseinandertreten von zuvor wesensmäßig nicht unterschiedenem Sein in unterschiedliche Seinsklassen. Insbesondere im Auseinandertreten von immanentem weltlichen und transzendentem göttlichen Sein sieht Voegelin einen bedeutenden Differenzierungsfortschritt. In etwas stärkerer Anlehnung an die Bewusstseinsphilosophie kann die Essenz der formalen Bedeutungsebene dieses Begriffspaares in etwa folgendermaßen wiedergegeben werden: Zunächst findet sich der Mensch vor einer verwirrenden Vielfalt von Bewusstseinserlebnissen wieder. Erst nach und nach und unter großen Unsicherheiten lernt der Mensch das Innere vom Äußeren, das Transzendente vom Immanenten und die immanenten Dinge voneinander zu unterscheiden.74Vgl. Order and History I, S. 3. Soweit beschreibt der Begriff der Differenziertheit lediglich gewisse phänomenale Eigenschaften von Weltauf\/fassungen.
Unzulänglich bleibt der rein formale Differenzierungsbegriff, weil es auf der phänomenalen Ebene oft der Willkür überlassen bleibt, was als kompakt und was als differenziert bezeichnet wird. So vertritt Voegelin beispielsweise die Ansicht, dass der Monotheismus wegen der deutlicheren Erkenntnis des welttranszendenten Charakters des Göttlichen differenzierter ist als der Polytheismus.75Vgl. Eric Voegelin: Die geistige und politische Zukunft der westlichen Welt (Hrsg. von Peter J. Opitz und Dietmar Herz), München 1996, S. 25. Aber ebensogut könnte man behaupten, dass der Polytheismus differenzierter ist, weil im Polytheismus die vielfältigen Funktionen des undifferenziert Göttlichen des Monotheismus deutlich auf eine Vielzahl von Göttern verteilt sind. Das Begiffspaar „kompakt-differenziert“ drückt auf dieser Bedeutungsebene ähnlich wie viele andere abstrakte Begriffspaare (z.B. „formal-material“) lediglich einen Unterschied aus, ohne diesen zu qualifizieren.
Damit die Unterscheidung zwischen kompakten und differenzierten Symbolismen zu wertenden Vergleichen, wie Voegelin sie anstellt, herangezogen werden kann, müssen noch weitere Voraussetzungen erfüllt sein: Die verglichenen Symbolismen müssen sich auf denselben Gegenstand beziehen, damit ein Vergleich stattfinden kann, und es muss ein gültiger Bewertungsmaßstab vorhanden sein, um die Bewertung der Symbolismen durchzuführen.
Die Voraussetzung, dass sich die verglichenen Symbolismen auf den gleichen Gegenstand beziehen müssen, ist nicht schon dann erfüllt, wenn beide Symbolismen eine Antwort auf dieselbe Herausforderung geben, etwa auf die Frage nach dem Sinn der Welt oder nach dem Wesen Gottes. An einem Beispiel lässt sich dies verdeutlichen: Voegelin ist der Ansicht, dass die christliche Gnadenlehre gegenüber dem bei Platon und Aristoteles vorherrschenden Gottesverständnis eine Differenzierung darstellt, da bei den griechischen Philosophen Gott bloß Ziel menschlicher Sehnsucht ist, während nach christlichem Verständnis Gott dieser Sehnsucht durch die Gnade auch entgegen kommt.76Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 113-114. Gegen dieses Argument liegt freilich der Einwand nahe, dass es sich hier um unterschiedliche Gottesvorstellungen handelt, und dass nach der griechischen Vorstellung Gott nun einmal nicht die Eigenschaft der Gnade besitzt. Das christliche Verständnis scheint also eher eine Modifikation als eine Differenzierung darzustellen. Der Gebrauch des Ausdruckes „Differenzierung“ kann genaugenommen nur dann als voll gerechtfertigt betrachtet werden, wenn der differenziertere Symbolismus nichts anderes ausdrückt als das, was im kompakteren Symbolismus bereits gemeint aber noch unvollkommen ausgedrückt ist. Es braucht wohl kaum dargelegt werden, dass dies im Einzelfall äußerst schwierig nachzuweisen sein dürfte, sofern man nicht dogmatisch unterstellt, dass ohnehin alle Symbolismen nur denselben vorgegebenen Bestand von Erfahrungen ausdrücken, die genau zu kennen sich der Interpret zudem anmaßen muss.77Vgl. auch Eugene Webb: Philosophers of Consciousness. Polanyi, Lonergan, Voegelin, Ricoeur, Girard, Kierkegaard, Seatle and London 1988, S. 126ff.
Nicht weniger dunkel bleibt, woher Voegelin die Bewertungsmaßstäbe nimmt, nach denen er die verschiedenen Symbolismen beurteilt. Selbst wenn man bei dem eben angeführten Beispiel einmal annimmt, dass sich beide Gottesvorstellungen nachweisbar auf dieselbe religiöse Erfahrung stützen, so fehlt immer noch jeder Anhaltspunkt, aus dem heraus die christliche Gnadenlehre im inhaltlich-wertenden Sinne als differenzierterer Ausdruck der zugrunde liegenden religiösen Erfahrung beurteilt werden kann als die Gottesvorstellung der griechischen Philosophen. Wie auch bei anderen methodischen Problemen hat es den Anschein, dass Voegelin glaubt, diese Frage im Einzelfall ad-hoc, durch genaues Hinschauen und ein wenig Genialität in evidenter Weise beantworten zu können.
3. Der Sinn der Geschichte
Wenn Voegelin Religionen, Philosophien und auch die konkreten politischen Ordnungen als Ausdruck einer Suche nach der Ordnung des Seins deutet, so ist dies nicht bloß die heuristische Voraussetzung eines besonders einfühlsamen Geistesgeschichtlers. Voegelin ist vielmehr fest davon überzeugt, dass es eine objektive, sinngebende und wertvermittelnde höhere Ordnung des Seins gibt. Die Suche nach dieser Ordnung betrachtet Voegelin als das historische Projekt der Menschheit. Durch dieses menschheitliche Projekt der Suche nach Ordnung wird für Voegelin zu allererst die Einheit der Menschheit und der Sinn der Geschichte hergestellt.78Vgl. Eric Voegelin: Order and History. Volume Two. The World of the Polis, Baton Rouge / London 1986 (zuerst: 1957), im folgenden zitiert als: Voegelin, Order and History II, S.1-7. Auch wenn Voegelin leugnet, dass es einen erkennbaren Sinn der Geschichte geben kann, so scheint Voegelins Geschichtsphilosophie dennoch wenigstens so etwas wie den vorläufigen Sinn der Geschichte beschreiben zu wollen. Anders als auf den Sinn der Geschichte bezogen lassen sich Äußerungen wie die, dass die menschliche Existenz in Gesellschaft eine Geschichte habe, weil sie eine Dimension der Spiritualität habe (Vgl. ebd., S. 2), kaum verstehen. Denn Geschichte im Sinne einer Abfolge wechselnder Gesellschaftszustände gäbe es ja auch ohne die Spiritualität. – Siehe auch die Anmerkungen zu den kollektivistischen Zügen von Voegelins Geschichtsphilosophie auf Seite und Seite dieses Buches. Voegelin leugnet allerdings entschieden, dass dem Menschen das Ziel der Geschichte bekannt werden kann und dass ihr Ausgang vorhersagbar wäre.79Implizit gibt es jedoch auch in Voegelins Geschichtsphilosophie ein Ende der Geschichte, denn über das optimal differenzierte Ordnungswissen hinaus ist keine weitere Steigerung von Ordnungswissen mehr denkbar (und alle anderen geschichtlichen Entwicklungen sind politische Profangeschichte, für die Voegelin sich nicht interessiert). Den bisherigen geistigen Höhepunkt der geschichtlichen Entwicklung stellt für Voegelin jedenfalls das christliche Mittelalter dar. Hierin setzt sich Voegelin in ausdrücklichen Gegensatz zu manchen Geschichtsphilosophien der Hegelschen Machart, durch die er ansonsten durchaus beeinflusst ist. Weiterhin vertritt Voegelin einen konsequenten individualistischen Vorbehalt, was die Verkörperung des Geistes in der Geschichte angeht. Geist verkörpert sich bei Voegelin in der Geschichte niemals durch kollektive Gebilde wie den Staat oder die Nation. Vielmehr dringt der Geist ausschließlich über das konkrete Bewusstsein des menschlichen Individuums in die Geschichte ein.80Vgl. Voegelins gegen Hegel gerichtete Bemerkungen, in: Eric Voegelin: „Structures of Consciousness“, in: Voegelin-Research News Volume II, No 3, September 1996, auf: http://alcor.concordia.ca/\~ vorenews/v-rnII3.html (Host: Eric Voegelin Institute, Lousiana State University), im folgenden zitiert als: Voegelin, Structures of Consciousness, Abschnitt I (1). Partikularismen gegenüber, seien sie nationaler oder anderer Art, ist Voegelin eher abgeneigt. Ohne die Realität partikulärer Gebilde zu leugnen, bleibt für Voegelin zumindest vor der Geschichte die höchste Gemeinschaft stets die ganze Menschheit.81Vgl. Voegelin, Order and History II, S. 1-20. In diesem Bezug auf die Menschheit, und zwar nicht nur auf die gegenwärtige Menschheit, sondern auf die Menschheit in ihrer gesamten Geschichte, kommt ein moralisches Anliegen Voegelins zum Ausdruck, welches auch seine Kritik an der aufklärerischen Fortschrittsgeschichte motiviert. Die Fortschrittsgeschichte entwertet in Voegelins Augen die vergangene Menschheit, indem sie in der Vergangenheit nur die Vorstufe und das Mittel zum Zweck der Gegenwart erblickt. Sie vergisst dabei, dass die vergangenen Menschen auch einmal eine Gegenwart hatten, die sie genauso durchleben mussten, wie die heute lebenden Menschen ihre Gegenwart bewältigen müssen.82Vgl. Voegelin, Order and History II, S. 3. Freilich stellt sich die Frage, wie Voegelin nun seinerseits derartige Entwertungen vermeiden will. Und an Voegelins Kritik der Neuzeit als einem gnostischen Zeitalter wird deutlich, dass auch Voegelin ganze historische Epochen verdammen konnte.
Mit dem vierten Band von „Order and History“ tritt ein Bruch in Voegelins historischem Programm ein. Dieser Bruch resultiert zu einem Teil aus der Feststellung, dass die Geschichte nicht linear, sondern in vielfältigen Verzweigungen, Verästelungen und unabhängig nebeneinander herlaufenden Entwicklungssträngen verläuft.83Vgl. Voegelin, Order and History IV, S. 1-6. Dieses Faktum war Voegelin schon zuvor bewusst, wenn er auch dessen Ausmaß unterschätzte, und er es daher in der Konzeption von „Order and History“ zunächst eher vernachlässigt hat. Zum anderen Teil kommt der Bruch durch die Entdeckung zustande, dass die Idee einer fortschreitenden, nicht zyklischen geschichtlichen Entwicklung keineswegs einzigartig mit dem „Sprung im Sein“ zur Zeit von Moses verbunden ist, sondern sehr häufig bereits im Rahmen kosmischer Symbolismen auftritt. Voegelin geht nun noch stärker als zuvor davon aus, dass es in der Praxis zu einer Verschränkung kosmischer und nach-kosmischer Symbolismen und weniger zu einer deutlichen Ablösung des einen durch den anderen kommt.84Vgl. Order and History IV, S. 7-12. Seine Grundvorstellung von der Geschichte als Prozess der zunehmenden Differenzierung spiritueller Erfahrungen behält Voegelin jedoch bei. In dieser Hinsicht bleibt der Bruch weniger dramatisch, als es die Einleitung von „Order and History IV“ zunächst vermuten lässt.
Voegelins Geschichtsphilosophie ist eingebettet in eine kosmische Geschichtsmetaphysik, der zufolge die Geschichte die Verwirklichung eines ewigen Seins in der Zeit darstellt.85Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 254ff. Dieser Prozess, den Voegelin gelegentlich bis in die Naturgeschichte und die Evolution zurückverlängert‚86Vgl. Voegelin, Structures of Consciousness, Abschnitt I (2). verursacht und bestimmt auch die Menschheitsgeschichte, indem das ewige Sein im menschlichen Bewusstsein als anziehender transzendenter Pol wirkt. Diese Geschichtsmetaphysik ist wenig überzeugend: Da die Menschheitsgeschichte nicht erkennbar auf einen Punkt zuläuft, sondern sich vielfältig verzweigt, wäre es sehr viel naheliegender, im „ewigen Sein“ eine dem menschlichen Bewusstsein entspringende Vorstellung und nicht ein in das Bewusstsein eindringendes transzendentes Sein zu vermuten. Ohnehin verwundert es ein wenig, dass sich das transzendente Sein zu seiner immanenten Verwirklichung als Ort gerade die Erde – ein Staubkorn im Weltall, wie man es sich unbedeutender gar nicht vorstellen kann – ausgesucht hat, wo doch das ganze Universum zur Verfügung gestanden hätte. (Oder hängt die Verwirklichung der Transzendenz in der Immanenz etwa von Wasser, Kohlenstoff und günstigen Temperaturbedingungen ab?) Voegelin wandelt mit seiner Geschichtsmetaphysik ersichtlich auf den Spuren der Geschichtsphilosophien des deutschen Idealismus, wonach die Geschichte ein Prozess ist, in welchem der Geist zu sich selbst kommt. Nicht anders als die Philosophen des Deutschen Idealismus verliert sich Voegelin dabei in metaphysische Spekulationen ohne Maß und Zügel. Bei Voegelin ist es jedoch im Unterschied zu den Philosophen des Deutschen Idealismus nicht der Geist sondern die „Realität“, die sich im Menschen selbst erhellt. Voegelin begründet dies damit, dass der Mensch Teil der Realität ist, und dass folglich, wenn der Mensch die Realität erkennt, diese sich selbst zwar nicht geradewegs erkennt, aber doch erhellt.87Vgl. Voegelin, Structures in Consciousness, Abschnitt I (2)-(3). Die Logik dieser Begründung ist ungefähr die folgende: Wenn ich durch meine Heimatstadt spazieren gehe und die Häuser anschaue, dann erblickt, da ich ja ein Teil meiner Heimatstadt bin, die Stadt sich selbst. Wie man sieht handelt es sich um eine Trivialität, die nur durch die philosophisch-abstrakte Ausdrucksweise den Schein tiefsinniger Bedeutsamkeit annimmt.
So sehr Voegelin im übrigen auch die Historizität der menschlichen Existenz betont, es bleibt hier eine schwer überbrückbare Spannung zu den mehr ahistorischen Zügen seiner Philosophie bestehen. Sowohl Voegelins existenzialistisches Menschenbild als auch seine Seinsmetaphysik und seine Bewusstseinsphilosophie sind wesentlich ahistorisch.88Vgl. zur unreflektierten Ahistorizität von Voegelins prozesstheologischer Geschichtsdeutung die Diskussion über Voegelins Vortrag über „Ewiges Sein in der Zeit“. Dort insbesondere Baumgartners treffende Einwürfe, in: Helmut Kuhn / Franz Wiedmann (Hrsg.): Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München 1964, S. 340. Hinzu kommt Voegelins Neigung, sich gelegentlich recht unbekümmert über die Jahrhunderte hinweg mit Philosophen und Propheten auseinanderzusetzen als wären es Zeitgenossen. Nicht selten trägt er dabei in anachronistischer Weise Konzepte in die Interpretation der Klassiker hinein, die der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts entnommen sind.89Vgl. Zdravko Planinc: The Uses of Plato in Voegelin’s Philosophy of Consciousness: Reflections prompted by Voegelin’s Lecture, „Structures of Consciousness“, in: Voegelin-Research News Volume II, No 3, September 1996, auf: http://alcor.concordia.ca/\~ vorenews/v-rnII3.html (Host: Eric Voegelin Institute, Lousiana State University). Wenn dies nicht immer sogleich auf\/fällt, so hängt das auch damit zusammen, dass Voegelin ein wenig zögerlich war, die moderne Herkunft seiner Ideen auch stets anzuerkennen. Wird versucht, die Beziehung zwischen den historischen und ahistorischen Zügen von Voegelins Philosophie näher zu bestimmten, so lässt sich dabei feststellen, dass – ebenso wie in Bezug auf politische Ordnung – auch hinsichtlich der Geschichte die Bewusstseinsphilosophie und die Seinsmetaphysik die theoretische Grundlage bilden, auf der die geschichtlichen Prozesse von Voegelin gedeutet werden.
C. Gnosisbegriff und Zeitkritik
Da sich für Voegelin gute politische Ordnung auf ein richtiges Verständnis der höheren Ordnung des Seins und auf eine wohlausgebildete Ordnung der Seele gründet, so liegt es für ihn natürlich nahe, den Ursprung politischer Unordnung in spiritueller Desorientierung zu suchen. Der Gnosisbegriff, mit dem Voegelin lange Zeit die Formen spiritueller Desorientierung beschrieb, bildet zugleich das Hauptinstrument seiner politischen Gegenwartskritik, einer Kritik, die sich auf die gesamte Neuzeit, insbesondere aber auf das 20. Jahrhundert bezieht. Die Ursprünge des Gnosisbegriffs reichen zurück bis zu Voegelins Schrift über die „politischen Religionen“ von 1938‚90Eric Voegelin: Die politischen Religionen, München 1996 (zuerst 1938). einer Kampfschrift gegen den Nationalsozialismus, die er geradezu panikartig verfasste, nachdem er mit einer gewissen Verspätung dessen Gefährlichkeit erkannt hatte.91Vgl. Eckhart Arnold: Eric Voegelin als Schüler Hans Kelsens, a.a.O., S. 4-5 (die Seitenzahlen folgen der Entwurfsfassung). Ausgehend von dem dort noch verwendeten Begriff der „politischen Religion“ bildet Voegelin später seine Theorie von der Neuzeit als einem Zeitalter der wiedererwachten Gnosis, welche ihren prägnantesten Ausdruck in den totalitären Herrschaftsformen des 20. Jahrhunderts gefunden hat. Voegelins Gnosistheorie kann daher auch als seine Form der Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Totalitarismus verstanden werden, zumal sie merklich durch den zeitgeschichtlichen Kontext ihrer Entstehung geprägt ist.
Unter Gnosis versteht Voegelin eine spirituelle Desorientierung im Zusammenhang mit der Erfahrung der Transzendenz, die unter bestimmten Bedingungen den Glauben mit sich führen kann, dass ein geschichtlicher Endzustand von vollendeter Glückseligkeit innerhalb einer absehbaren Zeit die gegenwärtige schlechte Welt ablösen kann.92Zur Definition des Begriffes bei Voegelin: Vgl. Dante Germino: Eric Voegelin on the Gnostic Roots of Violence, München 1998, im folgenden zitiert als: Germino, Voegelin on the Gnostic Roots of Violence, S. 26. – Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 169-171. – Vgl. Voegelin, Order and History IV, S. 18-27. – Vgl. Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, S. 17-19. Diese recht allgemeine Bedeutung erlaubt es Voegelin, den Begriff der Gnosis von den üblicherweise mit diesem Namen bezeichneten häretischen Glaubensströmungen des Vor- und Frühchristentums und des Mittelalters auf die chiliastischen politischen Bewegungen der Neuzeit zu übertragen. Die Gnosis stellt in Voegelins Augen insofern ein spirituelles Missverständnis dar, als sie auf einer seiner Ansicht nach falschen Vorstellung vom Wesen der Transzendenz beruht. Zwar liegt der Gnosis dieselbe religiöse Erfahrungssubstanz zugrunde wie dem Christentum, nämlich die differenzierende Erfahrung eines transzendenten göttlichen Seins, aber in der Gnosis wird das transzendente Sein als so überwältigend erlebt, dass die Immanenz in die Sinnlosigkeit absinkt und dem Welthass verfällt. Die Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz, welche für Voegelin recht eigentlich die Realität des menschlichen Existierens ausmacht, wird dadurch zu Gunsten einer einseitigen, geradezu tagträumerischen Fixierung auf das transzendente Ziel aufgelöst.93Vgl. Voegelin, Order and History IV, S. 19/20.
Ist das Gefühl für die Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz aber erst einmal verlorengegangen, so kann an der Stelle des transzendenten Zieles leicht auch irgendein immanenter Weltgehalt untergeschoben werden, der dann alle Attribute des göttlichen Seins erbt und zum Gegenstand eines äußerst unheiligen Götzenkultes erhoben wird. Dieser Fall von „gnostischem Immanentismus“ ist in Voegelins Augen höchst charakteristisch für die gesamte Neuzeit.94Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 175-180, S. 229ff. Voegelin trifft innerhalb dessen, was er als Gnosis bezeichnet, noch allerlei Einzelunterscheidungen, die ihm aber letzten Endes nur dazu dienen, recht wahllos alle politischen und geistigen Strömungen der Neuzeit, denen in irgendeiner Weise nachgesagt werden kann, dass sie ein Ideal vertreten, unter dem Begriff des gnostischen Immanentismus zu versammeln. So nennt Voegelin als gnostische Bewegungen Progressivismus, Liberalismus, Humanismus, Marxismus, Kommunismus, Faschismus, Psychoanalyse und je nach Bedarf noch einige mehr.95Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 176. – Vgl. Germino, Voegelin on the Gnostic Roots of Violence, S. 27. Angesichts dieser breit gefächerten Auswahl neuzeitlicher gnostischer Bewegungen verwundert es nicht, dass Voegelin im Gnostizismus das Wesen der Moderne überhaupt erblickt.
Der gnostische Immanentismus führt, da dem Menschen das transzendente Ordnungskorrektiv verlorengeht, in letzter Instanz zur Selbstvergottung des Menschen. Neben Auguste Comte ist Friedrich Nietzsche Voegelins Hauptbeispiel und zugleich sein wichtigster Gewährsmann für diese These.96Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 182-184. Voegelin lässt sich nicht dadurch irritieren, dass es säkularistische Philosophien gibt, die nicht die Konsequenz der Selbstvergottung ziehen. Im Zweifelsfall interpretiert Voegelin solche scheinbar harmlosen Säkularismen als Schritte auf dem Wege, der unvermeidlich zur Selbstvergottung des Menschen führt. So ist Voegelin beispielsweise überzeugt, dass der Liberalismus ohne spirituelle Basis mit innerer Logik zum Kommunismus führt.97Vgl. Eric Voegelin: Der Liberalismus und seine Geschichte, in: Karl Forster (Hrsg.): Christentum und Liberalismus, München 1960, S. 28-31 (S. 11-42). Plausibel wird diese Auf\/fassung freilich nur, wenn man das Dogma zu Grunde legt, dass der Mensch nicht nicht-religiös sein kann, und dass dementsprechend die Säkularisierung nicht zum Verschwinden religiöser Absolutheitsansprüche, sondern bloß zu deren Fehlbesetzung führen kann.
Die Vollendung der menschlichen Selbstvergottung und Herrschsucht erreicht der gnostische Immanentismus im politischen Bereich in den totalitären Herrschaftsformen. Der Totalitarismus ist für Voegelin ein unmittelbares Resultat der antichristlichen Unterdrückung der „Wahrheit der Seele“ sowie des Irrglaubens, dass in der Geschichte mit Hilfe politischer Aktion ein Endzustand glückseliger Verklärtheit herbeigeführt werden kann. Voegelin hat allerdings nie ernsthaft versucht, den Zusammenhang von religiösen Abirrungen und gewalttätiger Politik auf der Ebene des konkreten politischen Geschehens detailliert nachzuzeichnen. Seine Erklärung verbleibt auf einer rein hermeneutisch-geistesgeschichtlichen Ebene und ihre Glaubwürdigkeit hängt von einer empirisch nicht überprüften Einschätzung der Bedeutsamkeit des religiösen Faktors im politischen Geschehen ab.
Auch aus anderen Gründen ist der Gnosisbegriff zur Beschreibung chiliastischer politischer Bewegungen ungünstig gewählt: Der historischen Gnosis, deren Gewaltpotential sich kaum mit dem ihrer rechtgläubigen Verfolger messen kann, wird Voegelin am allerwenigsten gerecht. Es genügt eben nicht, den vermeintlichen Welthass oder irgendwelche spirituellen Missverständnisse (aus Sicht der eigenen Religiosität!) festzustellen, um daraus auf die latente Gewalttätigkeit der Gnosis zu schließen.98Vgl. Eric Voegelin: Das Volk Gottes. Sektenbewegungen und der Geist der Moderne (Hrsg. von Peter J.Opitz), München 1994, S. 74. Dort schreibt Voegelin über die häretischen Bewegungen des späten Mittelalters: „Da die eschatologische Gewalt jenseits von Gut und Böse liegt, und da der Krieg für die Welt des Lichtes eine transzendentale geistige Operation ist, in der die Mächte der Finsternis aus dem Kosmos entfernt werden, werden sich die Gläubigen zwangsläufig [sic!] in einer Gründlichkeit der Vernichtung ergehen, die von der Warte der Realität aus als Bestialität und Grausamkeit erscheint.“ – Viel zu sehr vereinfacht wird dies auch von Dante Germino. Vgl. Germino, Eric Voegelin on the Gnostic Roots of Violence, S. 28. Darüber hinaus lässt sich Germinos These, dass in expressiver Gewalt, also in einer Form von Hooliganism, das Wesen der totalitären Gewalt besteht, nicht leicht mit der administrativen und planvollen Form der Durchführung totalitärer Massenmorde vereinbaren. Bei bestimmten Tätergruppen – etwa Gestalten wie Eichmann oder jenen „ganz normalen Männern“ (C.Browning), die als Befehlsempfänger die Morde durchführten – kann man ein expressives Moment ihrer Gewalttaten nur schwer auf\/finden. Dass es gerade die Vergöttlichung eines Teilinhaltes der Welt sein soll, die die exzessive Gewalttätigkeit nach sich zieht, ist nicht besonders einleuchtend, da ja auch im Namen des transzendenten Gottes in Form von Kreuzzügen, Progromen oder Hexenverfolgungen so mancher Exzess der Gewalt stattfand, wobei sich das vorreformatorische Christentum – von Voegelin romantisch als letzter Hort intakten Ordnungswissens verklärt – zuweilen auf eine ausgesprochen unschöne Weise hervorgetan hat. Die Gefahr dürfte wohl eher von dem Irrglauben, über eine absolute, umfassende und für alle Menschen verpflichtende Wahrheit zu verfügen, ausgehen als vom Säkularismus oder der Gnosis. Voegelins Konzept der Politischen Religion ist ebenso wie sein Begriff der Gnosis nicht nur allzu undifferenziert, sondern er verfehlt darüber hinaus auch das Wesentliche, indem er die Neigung zur Gewalttätigkeit nicht primär als eine Frage der Form (fanatisch oder tolerant), sondern als eine Frage des Inhalts des Glaubens auf\/fasst, womit er sich auf die Ebene religiös-konfessioneller Polemik begibt.99Es verwundert daher auch nicht, dass Voegelin – vermutlich von Carl Schmitt dazu inspiriert – zum Verständnis der politischen Bewegungen der Neuzeit die Lektüre des Werkes „Adversus Haereses“ des Kirchenvaters Iraeneus (2.Jh. nach Christus!) empfiehlt. Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.178. – Nicht ganz zu unrecht wird Voegelin von Albrecht Kiel als „katholischer Fundamentalist“ gesehen. Vgl. Albrecht Kiel: Gottesstaat und Pax Americana. Zur Politischen Theologie von Carl Schmitt und Eric Voegelin, Cuxhaven und Dartford 1998, S. 3, S. 95ff. Als Analysewerkzeug zum Verständnis der chiliastischen politischen Bewegungen der Neuzeit entwertet Voegelin seinen Gnosis-Begriff dadurch, dass er auf ihn zurückgreift, um einer wenig qualifizierten politischen Polemik Ausdruck zu verleihen.100Vgl. beispielsweise Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, 6.Kapitel, S. 224-259. – Als eine Form von politischem Moralismus weisen sich Voegelins Äußerungen an dieser Stelle dadurch aus, dass er den Sachproblemcharakter schwieriger politischer Entscheidungsdilemmata leugnet, indem er ihre Lösung zu einer jedem Einsichtigen völlig selbstverständlichen Banalität stilisiert (Ebda. S. 236-238), wodurch er im zweiten Schritt die Verfehlung jener vermeintlich eindeutig und offensichtlich richtigen Lösungen auf billige Weise moralischen Makeln der Entscheidungsträger anlasten kann. – Dass der Gnosis-Begriff als solcher, wenn er mit Augenmaß eingesetzt wird, zur Analyse bestimmter moderner Geistesströmungen auch durchaus sinnvoll eingesetzt werden kann, führt Micha Brumlik vor. Vgl. Micha Brumlik: Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen, Frankfurt am Main 1992.
Als Totalitarismustheorie gehört Voegelins Gnosistheorie insgesamt noch eher einer Phase der (natürlich legitimen) emotionalen Auseinandersetzung und inneren Abwehr des Phänomens an. Sie erscheint als eine Erklärung des Totalitarismus, wie sie in den fünfziger Jahren nicht untypisch war: Der Totalitarismus wird mit einer historisch weitausholenden Fundamentalerklärung, als deren Haupterklärungsmoment ideologische Faktoren fungieren, erfasst und als die Folge des Abfalls von der Religion interpretiert. Besonders in dieser Hinsicht ähnelt Voegelins Gnosiskonzept jenen gerade in der Nachkriegszeit populären Säkularisierungstheorien, wie sie Hermann Lübbe eingehend untersucht hat.101Vgl. Hermann Lübbe: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, München 1965, S. 108ff. – Stärker philosophisch als zeitgeschichtlich orientiert: Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt am Main 1996. (Vgl. S. 138.) Die Erklärung Lübbes für das Auftreten der Säkularisierungstheorien lässt sich allerdings nur in Teilen auf Voegelin übertragen, da Voegelin als Emigrant nicht unbedingt apologetische Absichten hatte. Für Voegelin stellte im Gegenteil gerade die Ignoranz der Nachkriegsgesellschaft, die sich in Verdrängung, Verklärung und darin äußerte, dass gestandene Nazi-Schufte als angesehene Bürger gelten und in einzelnen Fällen sogar einflussreiche Posten besetzen konnten, einen Hinweis darauf dar, dass die tieferen existenziellen Bedingungen der politischen Katastrophe noch fortdauerten.102Vgl. Voegelins Vorlesung über „Hitler und die Deutschen“, S. 1ff. (Typoskript im Eric-Voegelin-Archiv in München.) – Vgl. Eric Voegelin: Die deutsche Universität und die Ordnung der deutschen Gesellschaft, in: Die deutsche Universität im Dritten Reich. Eine Vortragsreihe der Universität München, München 1966, S. 241-282 (S. 241ff.).
Wenn Voegelin die verschiedensten geistigen Strömungen der Neuzeit mehr oder weniger unterschiedslos als Gnosis identifiziert, so ist auch dies wohlmöglich die Folge eines Methodenmissbrauchs. Voegelin verwendet bei der Untersuchung der Geistesgeschichte häufig die Technik der Suche nach „Strukturverwandtschaften“. Eine Strukturverwandtschaft scheint dabei nicht viel mehr zu sein als eine sich in irgendeiner Weise aufdrängende Analogie zwischen zwei oder mehreren Theorien. So erkennt Voegelin zwischen dem in die Phasen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes unterteilten Geschichtsbild von Joachim Fiori und dem Dreistadiengesetz des Auguste Comte eine solche Strukturverwandtschaft. Zu diesen beiden Theorien steht wieder die nationalsozialistische Ideologie vom Dritten Reich in der Beziehung einer Strukturverwandtschaft.103Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 157-162. Wie Hans Kelsen treffend heraus gestellt hat, ist dieser Befund jedoch ziemlich trivial und historisch bedeutungslos.104Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 77ff. Dass Problem der Methode der Strukturverwandtschaften besteht nämlich darin, dass die Feststellung von Strukturverwandtschaften es allein noch nicht erlaubt, auf kausale Zusammenhänge oder auch nur auf eine historische Traditionslinie zu schließen. So wie Voegelin von dieser Methode Gebrauch macht, lädt sie zu extremen Versimplifizierungen geradezu ein.105Ein extremes Beispiel einer solchen Simplifizierung liefert Voegelin in einem Brief an Alfred Schütz, wo er den Abwurf der Atombombe zu einem Ausfluss des Phänomenalismus (nach Voegelins Wortgebrauch die Auf\/fassung, dass nur den (natur-)wissenschaftlich erfassbaren Phänomenen substantielle Wirklichkeit zukommt) stilisiert. Vgl. Gilbert Weiss: Theorie, Relevanz und Wahrheit. Zum Briefwechsel zwischen Eric Voegelin und Alfred Schütz, München 1997, S. 46-49. – Ähnlich willkürlich wie die Strukturverwandtschaften scheint das Kriterium der Äquivalenz von Erfahrungen zu sein. Vgl. dazu Eric Voegelin: Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte, in: Eric Voegelin, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte, Späte Schriften (Hrsg. von Peter J. Optiz), Stuttgart 1988, S. 99-126 (S. 105-106 / S. 110).
Gehört Voegelins Gnosistheorie auch ohne Zweifel zu den schwächeren Seiten seiner Politikwissenschaft, so liegt in der grundsätzlichen Frage, ob der Verlust der Spiritualität nicht auch die Gefahr eines Wertverfalls nach sich zieht, indem mit der Spiritualität auch das innere Empfinden für den Sinn und die Bedeutung des Lebens verlorengeht, ein Vorbehalt, wie er sich auch heute noch manchem religiösen Menschen aufdrängen mag. Unter diesem Aspekt ist daher die Frage an Voegelins Bewusstseinsphilosophie zu richten, ob sie diesen Vorbehalt rechtfertigen kann. Gelingt es Voegelin – so wird im Folgenden zu fragen sein – zu zeigen, dass die Spiritualität im menschlichen Bewusstsein verankert ist, und dass ihre Leugnung oder ihr Verlust zu existenzieller Unsicherheit und möglicherweise (gefährlichen) kompensatorischen Gegenreaktionen führt?
Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ – Teil I)
In diesem und dem folgenden Kapitel wird Voegelins Bewusstseinsphilosophie erörtert, wie sie im ersten und dritten Teil seines Werkes „Anamnesis“ entfaltet wird. Der zweite Teil von „Anamnesis“ enthält eher historische und geschichtsphilosophische Studien und wird daher hier übergangen. Zwar fließen bei Voegelin Bewusstseinsphilosophie und Geschichtsphilosophie ineinander, aber schon aus pragmatischen Gründen musste für die vertiefte Auseinandersetzung mit Voegelins Bewusstseinsphilosophie eine Auswahl getroffen werden. Zudem wurde zur Verortung von Voegelins Bewusstseinsphilosophie innerhalb seines Gesamtansatzes schon im vorigen Kapitel das Nötige gesagt. Weiterhin kehren viele der Motive aus den hier ausführlich besprochenen Schriften in Voegelins anderen Werken wieder, so dass man die hier angestellten Überlegungen leicht übertragen kann.
Der erste Teil von Voegelins „Anamnesis“ enthält neben einer kurzen Erinnerung an Voegelins Freund Alfred Schütz106Alfred Schütz (geb. 1989 in Wien, gest. 1959 in New York), war der Schöpfer einer phänomenologischen Soziologie. Sein wohl bekanntestes Werk trägt den Titel: „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einführung in die verstehende Soziologie“., die – als eher von biographischem als philosophischen Interesse – hier übergangen wird, eine Kritik von Husserls „Krisis der europäischen Wissenschaften“.107Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 21-36. – Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Hamburg 1996, im folgenden zitiert als: Husserl, Krisis.. An diese schließt sich ein eigenständiger bewusstseinsphilosophischer Entwurf unter dem Titel „Zur Theorie des Bewußtseins“ an.108Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 37-60. Den Abschluss des ersten Teils von „Anamnesis“ bilden dann eine Reihe von „anamnetischen Experimenten“‚109Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 61-76. wobei sich hinter dieser geheimnisvollen Bezeichnung jedoch nicht viel mehr verbirgt als die Erzählung einiger Kindheitserinnerungen Voegelins.
A. Voegelin über Husserls „Krisis der europäischen Wissenschaften“
1. Husserls Krisis-Schrift
Bevor auf Voegelins Auseinandersetzung mit Husserls Schrift: „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“110Husserl, Krisis, a.a.O. eingegangen wird, ist einiges zu dieser Schrift selbst zu sagen.
Husserls Schrift ist als eine Einführung in die Phänomenologie konzipiert. Sie entstand aus mehreren Vorträgen, die Husserl im Jahre 1935 gehalten hat. Da Husserl 1936 in Deutschland nicht mehr publizieren durfte, wurde die Schrift 1936 in der in Belgrad erscheinenden Zeitschrift „Philosophia“ veröffentlicht.111Vgl. dazu die Einleitung von Elisabeth Ströker, in: Husserl, Krisis, S.IXff. Auf diese Fassung, welche Voegelin 1943 in die Hände bekommen konnte, bezieht sich Voegelin in seinem Brief an Alfred Schütz. Gegenüber der 1954 in der Reihe Husserliana erschienenen und um bis dahin unpubliziertes Material ergänzten Ausgabe ist die „Philosophia“-Fassung um einiges kürzer. Insbesondere wird in der frühen Fassung die Lebenswelt-Problematik noch kaum angerissen. Dies ist zu berücksichtigen, da Voegelins Enttäuschung über den wieder nur rein erkenntnistheoretischen Charakter von Husserls Werk sonst leicht ungerecht erscheinen könnte.
Husserl hat in seinen einführenden Schriften recht unterschiedliche Zugänge zur Phänomenologie gegeben. In den „Cartesianischen Meditationen“ beispielsweise wird die Phänomenologie durch die Aufgabe motiviert, die Basis für eine letztbegründete und umfassende philosophische Universalwissenschaft zu schaffen.112Vgl. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, Hamburg 1987, S. 8ff. In seiner letzten Einführung hingegen wird die Phänomenologie, wie sich schon im Titel andeutet, durch einen geistigen Notstand motiviert. Dieser geistige Notstand besteht darin, dass die Weltsicht der Gegenwart fast vollkommen von den Naturwissenschaften und insbesondere von der Physik als der Leitwissenschaft dominiert wird.113Vgl. Husserl, Krisis, S. 3-5 (§ 2). Husserl betrachtet dies als ein Verhängnis, weil die Naturwissenschaften nach seiner Auf\/fassung nicht die wirkliche Welt wiedergeben (welche für Husserl einzig und allein die Welt der konkret gegebenen Phänomene ist), sondern der wirklichen Welt mathematische Gestalten unterschieben. Zwar ist Husserl bereit, die pragmatische Brauchbarkeit dieser Gestalten anzuerkennen, aber er hält es für einen schweren Fehler, ihnen eine ontologische Beschreibung der Welt zu entnehmen. Den Irrtum, die Modelle der Naturwissenschaften als Beschreibungen der Wirklichkeit zu verstehen, bezeichnet Husserl als „Physikalismus“.114Vgl. Husserl, Krisis, S. 68. Dass es sich beim Physikalismus um einen Irrtum handelt, versucht Husserl durch eine suggestive Beschreibung der historischen Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens zu zeigen. Als Ausweg aus dem Physikalismus preist Husserl die transzendentale Phänomenologie an. Sie würde es ermöglichen, die Wirklichkeit in ihrer konkreten phänomenalen Gegebenheit für das Bewusstsein zurückzugewinnen und die Wissenschaften wieder in angemessener Weise in die Lebenswelt einzubetten.115Husserls Kritik des „Physikalismus“ ist alles andere als überzeugend, worauf hier jedoch nicht ausführlich eingegangen werden kann. Die Hauptschwachpunkte seien nur kurz angemerkt: 1. Husserl unterstellt, dass die Naturwissenschaft der Natur etwas unterschiebt, was sie in Wirklichkeit nicht ist. Da die Naturwissenschaft ihre Ergebnisse jedoch experimentell auf die Probe stellt, kann sie der Natur nicht ohne Weiteres etwas Falsches unterschieben. Husserls Vorwurf kann sich also höchstens noch darauf beziehen, dass die Naturwissenschaft die Erscheinungen nicht für das Sein der Natur nimmt. Wird dies jedoch als illegitim angesehen, so stellt sich die Frage, ob dann nicht auch die „eidetische Wesensschau“ des Phänomenologen (Vgl. Edmund Husserl: Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I. (Hrsg. von Klaus Held), Stuttgart 1985, S. 101-107.) dem Phänomen ein Wesen unterschiebt. 2. Husserls historische Darstellungstechnik ist nicht besonders gut dazu geeignet, systematische Probleme zu lösen, auch wenn sich aus ihr möglicherweise systematische Argumente indirekt entnehmen lassen. Die Feststellung z.B., dass die mathematisch-geometrischen Gestalten ursprünglich Methode (nämlich Feldmesskunst) waren (Vgl. Husserl, Krisis, S. 52ff.), besagt noch längst nicht, dass sie in ihrer entwickelten Form für den Ausdruck ontologischer Zusammenhänge untauglich wären. Es sei denn, man nimmt an, dass etwas, was einmal Methode gewesen ist, sich niemals zu etwas wesentlich anderem entwickeln kann, oder dass Wissenschaften sich grundsätzlich nicht von ihrem historischen Ursprung emanzipieren können oder dürfen.
Allerdings bleibt es in der „Krisis der europäischen Wissenschaften“ nicht bei der Kritik am Physikalismus, denn Husserl beabsichtigt, so scheint es, der Phänomenologie die Weihen einer historischen Mission zu verleihen. Husserl behauptet dazu, dass sich in der Geistesgeschichte ein „Telos“ auf\/finden lasse, wobei das Wort „Telos“ einen recht vieldeutigen Sinn gewinnt, der sowohl Ziel und Ursprung als auch Anklänge von Legitimation und Verpflichtung beinhaltet. Was Husserl in diesem Zusammenhang zu dem Thema der Geschichtsteleologie zu sagen hat, rückt seine Darstellung in der Tat stark in die Nähe einer Geschichtsideologie. Husserl zufolge ist dieses Telos nämlich ein aus der Geschichte ablesbarer höherer Wille, der auf die Entwicklung der phänomenologischen Philosophie hinzielt.116Vgl. Husserl, Krisis, S. 14-19 (§ 6‚7). Dieser Wille darf keineswegs verwechselt werden mit den Absichten einzelner Philosophen, vielmehr ist er als eine durch den einzelnen Philosophen „hindurchgehende Willensrichtung“117Husserl, Krisis, S. 78. zu verstehen. Deshalb kann dieser Wille auch nicht den Selbstzeugnissen dieser Philosophen entnommen werden, sondern muss unter Zuhilfenahme einer kunstvollen hermeneutischen Interpretationstechnik im historischen Rückblick aus dem Verborgenen hervorgehoben werden.118Vgl. Husserl, Krisis, S. 62-64 (§ 9 l) ) / S. 77-80 (§ 15), S. 109. Entstanden ist dieser Wille in den beiden „Urstiftungen“ der antiken griechischen Philosophie und des philosophischen Neuanfangs durch Descartes. Diese Urstiftungen verlangen ihrem Wesen nach (und nicht bloß, wie man denken könnte, ihrem Namen nach) nach einer „Endstiftung“‚119Vgl. Husserl, Krisis, S. 79. für welche aus philosophisch-sachlichen Gründen nur die transzendentale Phänomenologie in Frage kommt. Urstiftungen und Endstiftungen sind dabei keine kontingenten historischen Ereignisse, sondern Ausdruck einer im „Menschentum“ beschlossenen „Vernunftentelechie“.120Vgl. Husserl, Krisis, S. 15. Die Autorität, die hinter diesem „Telos“ steht, ist die Autorität der Geschichte und der Tradition oder, wie es Husserl auch ausdrückt, der „Wille der geistigen Vorväter“121Husserl, Krisis, S. 78.. Philosophieren in der Gegenwart ist nur im reflektierten Rückbezug auf die Tradition möglich, da jeder Versuch, sich von den Vorurteilen der Tradition zu lösen, nur unter Rückgriff auf „Selbstverständlichkeiten“ erfolgen kann, die wiederum einer Tradition entspringen.122Vgl. Husserl, S. 78-79. Sind die Philosophen nun aber nicht willens oder in der Lage, sich der Aufgabe, die ihnen durch das historische Telos gegeben ist, zu stellen, so würde dies zu den in Husserls Augen erschreckenden Konsequenzen führen, dass die Geschichte keinen Sinn hätte, dass das europäische Menschentum keine „absolute Idee“ in sich trüge und „ein bloß anthropologischer Typus wie ‘China’ oder ‘Indien’ “ wäre, und dass das „Schauspiel der Europäisierung aller fremden Menschheiten“123Husserl, Krisis, S. 16. nicht zum Sinn der Geschichte gehören würde. (Für Husserl, der seine besten Mannesjahre im Zeitalter der Kolonialherrschaft verlebt hat, war die „Europäisierung aller fremden Menschheiten“, wie man sieht, noch nicht mit der Vorstellung bitteren Unrechts verknüpft, so dass sich ihm auch nicht die Frage stellte, was wohl die „fremden Menschheiten“ von seiner Geschichtsphilosophie halten würden.) Die Verantwortung der Philosophen ist denn auch denkbar groß, denn die „eigentlichen Geisteskämpfe des europäischen Menschentums als solchen spielen sich als Kämpfe der Philosophien ab“124Husserl, Krisis, S. 15. (Hervorhebungen im Original.), und die Philosophen sind gar „Funktionäre der Menschheit“.125Husserl, Krisis, S. 17. (Hervorhebungen im Original.)
2. Voegelins Kritik des Husserlschen Geschichtsbildes
Voegelin teilt seine Kritik an Husserls Krisis-Schrift in einem Brief an Alfred Schütz mit, den er später in seinem Werk „Anamnesis“ veröffentlicht hat.126Brief an Alfred Schütz über Edmund Husserl, 17. September 1943, in: Voegelin, Anamnesis, S. 21-36. Er war von Husserls Schrift einerseits sehr positiv beeindruckt. Ihn überzeugte vor allem Husserls Darstellung des „Physikalismus“. Schließlich hätte er darin auch eine Bestätigung seiner eigenen Kritik an der Verabsolutierung einzelner Seinsbereiche sehen können. Auch Husserls Positivismuskritik, seine Klage darüber, dass die positivistisch reduzierten Wissenschaften keine Orientierung für die drängenden Lebensfragen der Zeit zu bieten vermöchten, liegt genau auf Voegelins Linie. Lobend äußert sich Voegelin zudem über die von Husserl an Descartes herausgearbeitete subtile Differenzierung zwischen transzendentalem und psychologischem Ego. Enttäuscht war er andererseits von Husserls fast rein erkenntnistheoretischem Ansatz. Nicht nur, dass Voegelin selbst die erkenntnistheoretischen Probleme nicht für die wirklich wichtigen philosophischen Fundamentalprobleme hält, was noch als eine Frage bloßer Vorlieben abgetan werden könnte, sondern Voegelin ist darüber hinaus der Ansicht, dass erkenntnistheoretische Fragen nicht isoliert betrachtet werden können.127Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 21-22. Allerdings führt er in diesem Brief an Schütz keine näheren Gründe dafür an. Den größten Teil des Briefes an Schütz füllt jedoch die Kritik an zwei Aspekten von Husserls Schrift aus, die Voegelin ganz und gar nicht gefielen: Die Hinwendung Husserls zur Geschichte und Husserls stiefmütterliche Behandlung von Descartes’ dritter und den folgenden Meditationen. Nicht dass Voegelin an einer Hinwendung zur Geschichte in der Absicht philosophischer Selbstbesinnung an sich etwas auszusetzen gehabt hätte, aber in der Art und Weise, wie sich Husserl des Themas Geschichte in der „Krisis“-Schrift annimmt, konnte Voegelin nur zu gut einige der fatalen Züge wiedererkennen, die ihm von seiner Auseinandersetzung mit den neuzeitlichen Geschichtsideologien her wohlbekannt waren. An Descartes verkennt Husserl nach Voegelins Ansicht vollkommen den Zweck der Meditationen, der entsprechend der christlichen Tradition, welche Descartes, wie Voegelin meint, aufgreift, nicht in argumentativer Begründung sondern in meditativer Besinnung liegt und daher auch nicht argumentativ angreifbar ist.
An Husserls Behandlung der Geschichte missfällt Voegelin nun zweierlei: Zum einen entspricht die von Husserl vorgenommene Auswahl historisch wichtiger Epochen (griechische Antike, Neuzeit von Descartes bis Kant, Phänomenologie) nicht Voegelins Geschmack. Zum anderen lehnt Voegelin die kollektivistischen Züge von Husserls Geschichtsinterpretation ab.
Die Auswahl historischer Epochen bei Husserl erscheint Voegelin deshalb so mangelhaft, weil sie nach seiner Ansicht erhebliche Lücken enthält. So ist weder das christliche Mittelalter in Husserls Darstellung enthalten, noch wird die Philosophie des Deutschen Idealismus angemessen historisch gewürdigt.128In Husserls „Krisis“ erscheint der Deutsche Idealismus nur als Annex zur Philosophie Kants. Vgl. Husserl, Krisis, S. 109-112. Von einer ernsthaften Berücksichtigung nicht-europäischer Kulturkreise kann schon gar keine Rede sein. Damit fallen aber einige Abschnitte der Menschheitsgeschichte weg, welche Voegelin für überaus bedeutend hielt.129Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 22-23.
Es stellt sich die Frage, ob Voegelins Kritik in diesem Punkt berechtigt ist. Wäre Husserl verpflichtet gewesen, im Rahmen einer Einleitung in die Phänomenologie nicht nur die Phasen der Philosophiegeschichte anzusprechen, die die Vorgeschichte der Phänomenologie bilden, sondern alle Phasen, welche für die geistige Entwicklung der Menschheit insgesamt bedeutsam waren? Wenn man nicht gerade einen dogmatischen Holismus vertritt, zu welchem Voegelin gelegentlich neigt, so würde eine Einleitung in die Phänomenologie es höchstens erfordern, die Vorgeschichte der Phänomenologie darzustellen, nicht aber, auf die Geistesgeschichte im Ganzen einzugehen oder auch nur auf Zusammenhänge zur allgemeinen Geistesgeschichte hinzuweisen.
Husserls Geschichtsdarstellung erscheint jedoch in einem ganz anderen Licht, wenn man berücksichtigt, dass es Husserl auch und vor allem um den Sinn der Geschichte überhaupt ging und dass er in der Geschichte ein Telos zu finden meinte, welches für alle Menschen verbindlich sein sollte und nicht nur für die Phänomenologie betreibenden Philosophen, wiewohl diese Philosophen durch ihre schmeichelhafte Führungsrolle als „Funktionäre der Menschheit“130Husserl, Krisis, S. 17. noch einmal besonders hervorgehoben werden. Angesichts dieses hohen geschichtsphilosophischen Anspruchs tadelt Voegelin zu Recht das armselige Bild der Geistesgeschichte der Menschheit, welches Husserl zeichnet. Die Missachtung wichtiger Epochen der Menschheitsgeschichte kann bei diesem Anspruch nicht mehr als thematische Beschränkung entschuldigt werden.
Doch die Ablehnung von Husserls Geschichtsbild ist noch grundsätzlicher, denn der Anspruch, das Telos der Geschichte bestimmen zu können, ist unabhängig von der Tiefe und Vollständigkeit der Geschichtsdarstellung, die diesen Anspruch untermauern soll, als solcher höchst fragwürdig. Er mündet bei Husserl, so wie Voegelin es nennt, in eine „averroistische[..] Spekulation“.131Voegelin, Anamnesis, S. 26. Unter „averroistischen Spekulationen“ versteht Voegelin Varianten des Grundgedankens vom Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen. Die ungewöhnliche Bezeichnung leitet Voegelin vom Namen des mittelalterlichen mohammedanischen Philosophen Averroes ab, der neben Avicenna einer der bedeutendsten Vermittler des Aristoteles und der antiken Philosophie war. Durch ihn fand die aristotelische Philosophie Eingang in das Denken des christlichen Mittelalters. Was Voegelin „averroistische Spekulation“ nennt, ist denn auch eine Vorstellung, die schon in der antiken Philosophie ihre Grundlage hat.132Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 26. Es handelt sich dabei – soweit man es Voegelins Text entnehmen kann – um eine sehr allgemeine und etwas vage metaphysische Vorstellung, nach der es einen Primat der Wahrheit, des Wertes und der Wirklichkeit des Allgemeinen vor dem Speziellen, der Klasse vor dem Individuum oder des Ganzen vor dem Teil gibt. Diese Grundvorstellung kann in den verschiedensten Formen und bezogen auf die verschiedensten Gegenstände auftauchen. Auf gesellschaftspolitischer Ebene führt dieser Gedanke sehr rasch zum Kollektivismus. Besonders problematisch wird die „averroistische Spekulation“, wenn sie im Verein mit einem Exklusivitätsprinzip auftritt, nach welchem bestimmte Gruppen oder Individuen aus dem maßgeblichen Kollektiv ausgeschlossen werden.133Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 26-27. – Vgl. auch Eric Voegelin: Der autoritäre Staat. Ein Versuch über das österreichische Staatsproblem, Wien / New York 1997 (zuerst 1936), im folgenden zitiert als: Voegelin, Autoritärer Staat, S. 25-26.
Der averroistisch-spekulative Charakter von Husserls Geschichtsbild wird besonders deutlich, wenn Husserl das Telos der Geschichte als eine durch den Einzelnen „hindurchgehende Willensrichtung“134Husserl, Krisis, S. 78. darstellt. Der Einzelne wird zu einem bloßen Agenten oder Medium jener höheren Willensrichtung, auf die allein es ankommt. Voegelin spricht deshalb auch von dem „kollektivistische[n] Telos“135Voegelin, Anamnesis, S. 27. Husserls. Auch die Beschränkung auf ein maßgebliches Kollektiv, welches dieses Telos vertritt, kommt bei Husserl in der Einschränkung des eigentlichen Menschentums auf das europäische Menschentum vor. In historischer Perspektive drückt sich nach Voegelin dieser Gedanke bei Husserl dadurch aus, dass der überwiegende Teil der Menschheitsgeschichte schlicht übergangen wird zugunsten der vermeintlich wesentlichen Etappen, welche die Entfaltung des „Telos“ verkörpern.136Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 27-28.
Aber Husserl ist für Voegelin nicht nur „Fortschrittsphilosoph im besten Stile der Reichsgründerzeit“.137Voegelin, Anamnesis, S. 28. Darüber hinaus erblickt Voegelin in Husserls durch die beiden Wendemarken der Urstiftung und der Endstiftung unterteilten Geschichte jenes Drei-Phasen-Geschichtsbild, welches, von der christlichen Heilsgeschichte herstammend, Eingang in so viele Geschichtsideologien der Neuzeit gefunden hat. Die messianische Endzeit, die in diesen Geschichtsideologien anders als in der christlichen Heilslehre nicht überzeitlich sondern geschichtsimmanent verstanden wird, beginnt bei Husserl mit der Endstiftung. Natürlich hütet sich Voegelin, Husserl mit gewalttätigen politischen Bewegungen wie dem Kommunismus oder dem Nationalsozialismus in eine Reihe zu stellen. Aber die Strukturverwandtschaft von Husserls Geschichtsbild und manchen modernen Geschichtsideologien scheint ihm doch unverkennbar.138Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 28-31.
Einige Interpreten der Husserlschen Philosophie versuchen Husserl vor dem Verdacht der Geschichtsideologie in Schutz zu nehmen, indem sie behaupten, dass Husserl nur als Phänomenologe innerhalb der „Epoché“, jener phänomenologischen Operation der Konzentration auf das Phänomen in seiner Selbstgegebenheit und unter Absehung von dessen Wirklichkeitsprätentionen‚139Vgl. Edmund Husserl: Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I (Hrsg. von Klaus Held), Stuttgart 1985, S. 141-143. gesprochen habe. Seine geschichtsphilosophischen Ausführungen seien daher eher als unverbindliche Besinnungen persönlicher Art auf die ganz privaten Absichten und Zwecke des Phänomenologen Husserl zu verstehen.140Vgl. Gilbert Weiss: Theorie, Relevanz, Wahrheit. Zum Briefwechsel zwischen Eric Voegelin und Alfred Schütz (1938-1959), München 1997, S. 24-28. – Vgl. die Einleitung von Elisabeth Ströker in: Husserl, Krisis, S. XXIX. Diese Art der Apologie ist jedoch nicht überzeugend, denn die phänomenologische Epoché dient nicht minder der Gewinnung allgemeinverbindlicher Resultate als irgendeine wissenschaftliche Forschungsmethode. Idealiter liefert sie sogar Ergebnisse von „apodiktischer Evidenz“. Selbst wenn Husserl, ohne es übrigens irgendwo zu erwähnen, innerhalb der Epoché gesprochen hätte, so würden seine Äußerungen dadurch keineswegs akzeptabler. Husserl hätte dann, statt zu behaupten, die Geschichte habe ein Telos, lediglich behauptet, die Geschichte stelle sich uns notwendig so dar, als habe sie ein Telos, was aber nicht weniger fragwürdig wäre.
Man mag einwenden, dass mit diesem recht kritischen Ergebnis das geistesgeschichtliche Verdienst von Husserls Krisis-Schrift ungenügend gewürdigt wird. Geistesgeschichtlich gesehen, stellt Husserls Krisis-Schrift einen höchst bemerkenswerten Versuch einer Verbindung von Traditionalismus und Rationalismus, von geschichtlichem Denken und systematischer Philosophie, von religiösem Patriarchalismus und Vernunfterkenntnis dar, eine Synthese, die trotz der Wilhelminischen Einlassungen Beachtung verdient. Allerdings zeigt auch gerade Voegelins Kritik, dass diese Synthese nicht aufgeht.
3. Voegelins Einwände gegen die Fortschrittsgeschichte
Über die Verfehltheit von Ideologien einer geschichtlichen Endzeit lässt sich Voegelin in seinem Brief an Alfred Schütz nicht weiter aus. (Sie ist ohnehin offensichtlich genug.) Was hat Voegelin aber daran auszusetzen, die Geschichte, so wie es bei Husserl geschieht, als eine Geschichte des Fortschritts zu schreiben? Für Voegelin spielt dabei sowohl ein moralisches als auch ein eher wissenschaftliches Motiv eine Rolle. Moralisch kritikwürdig erscheint Voegelin die Inhumanität, die darin liegt, die vergangenen Epochen und das Streben der damals lebenden Menschen nur als Mittel zum Zweck für die Gegenwart zu betrachten. Wissenschaftliche Schwierigkeiten entstehen für Voegelin dadurch, dass vergangene Epochen nicht angemessen verstanden werden können, wenn in ihnen nur eine Vorstufe der Gegenwart gesehen wird.
Die moralische Problematik der Fortschrittsphilosophie erläutert Voegelin unter Rückgriff auf Kant. Kant teilte mit vielen anderen Aufklärern die Ansicht, dass es in der Geschichte einen Fortschritt zum Besseren gibt, so dass sich der Zustand der menschlichen Gesellschaft immer mehr, wenn auch niemals endgültig, einem moralischen Optimum (jeder handelt gut und keinem geschieht ein Unrecht) annähert. Zugleich äußert Kant jedoch auch sein „Befremden“ darüber, dass die späteren Generationen von allen Fortschritten der vorhergehenden profitieren, welche ihrerseits, obwohl sie denselben Beitrag zum Fortschritt geleistet haben, nicht in gleichem Maße die Vorteile davon genießen können.141Vgl. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Dritter Satz), in: Immanuel Kant: Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1985, S. 21-39 (S. 25). In Voegelins Kant-Interpretation tritt gegenüber Kant eine leichte Bedeutungsverschiebung ein. Während Voegelin hier eine Frage des Sinns sieht, geht es bei Kant (wenigstens dem Sachzusammenhang nach, wenn auch noch andere Motive im Hintergrund eine Rolle spielen mögen) eher um eine Frage des materiellen Ausgleichs. Dies hat natürlich auch Folgen für die Interpretation der geistesgeschichtlichen Rolle Kants, die hier jedoch nur kurz angedeutet werden können: Es erscheint grundsätzlich fragwürdig, in Kants Geschichtsphilosophie (bzw. in den Geschichtsvorstellungen der Aufklärer überhaupt) eine „averroistische Konzeption“ zu sehen. Die Geschichtsphilosophie Kants war durchaus keine Geschichtssinntheorie (wie die Geschichtsphilosophien des Deutschen Idealismus), denn nicht die Geschichte verleiht bei Kant dem Leben und Schaffen des Einzelnen Sinn und Wert (und auch nicht die Glückseligkeit, die nur eine Belohnung ist, auf die er nach dem Tode hoffen darf), sondern die Erfüllung der Pflicht (meine Interpretation). Kants Fortschrittsphilosophie war der Ausdruck der optimistischen Hoffnung, dass sich das Gute einmal durchsetzen wird, aber das Gute ist bei Kant (noch) nicht dadurch definiert, wer in der Geschichte siegreich bleibt. Die grundsätzliche Möglichkeit, Geschichte als Fortschrittsgeschichte zu schreiben, ohne in „averroistische Spekulationen“ zu verfallen, kann auch Voegelin nicht leugnen, sonst müsste er sich wegen der Fortschritte der spirituellen Ausbrüche, von denen „Order and History“ handelt, selbst der „averroistischen Spekulation“ bezichtigen. Voegelins Bild einer Kontinuität von der aufklärerischen Fortschrittsphilosophie (Geschichtsideologie ist Fortschrittsphilosophie minus Humanität plus Endzeitglaube) zu den modernen Geschichtsideologien erscheint deshalb teilweise fragwürdig. Voegelin erblickt in Kants Befremden eine humane Hemmung, die früheren Generationen nur als Mittel zum Zweck der Verwirklichung eines geschichtlichen Telos zu sehen, welches bei Kant in der Vervollkommnung der Vernunftanlagen besteht. Bei Husserl fehlt diese Humanität und zudem tritt die „Endstiftung“ anders als Kants Vervollkommnung des Vernunftgebrauchs tatsächlich in der Geschichte ein. Diese beiden Punkte markieren für Voegelin den Übergang von der averroistischen Konzeption aufklärerischer Fortschrittsgeschichte zu den noch militanteren averroistischen Spekulationen, die sich in den modernen Geschichtsideologien und, folgt man Voegelin, sogar in seriösen historischen Untersuchungen wie Otto Gierkes Genossenschaftsrecht finden. Husserls Geschichtsbild stellt für Voegelin deshalb eine durchaus zeittypische Erscheinung dar.142Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 28-30.
Die weniger ethische als wissenschaftliche Problematik dieser Art von Geschichtsdarstellung besteht für Voegelin darin, dass der Historiker „die eigene geistige Position, mit ihrer historischen Bedingtheit, verabsolutiert“143Voegelin, Anamnesis, S. 31. und auf die historischen Fakten nur zurückgreift, um die eigene Position zu stützen, ohne dabei jemals verstehend in das historische Material einzudringen. Bei Husserl tritt diese Verabsolutierung in besonders krasser Form auf, da Husserl sich nach Voegelins Ansicht gegen die Möglichkeit empirischer Kritik systematisch abschirmt. Voegelin spielt hier wahrscheinlich auf Husserls theoretische Vorgabe an, dass der Sinn der philosophischen Positionen der Vergangenheit nicht aus den Selbstzeugnissen der Denker, sondern nur durch die Heraushebung einer erst rückblickend aus der Gegenwart erkennbaren latenten „Willensrichtung“ zu bestimmen sei.144Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 31. – Vgl. Husserl, Krisis, S. 78-80.
Wie sieht für Voegelin aber die Alternative zu diesen Formen von Geschichtsklitterung aus? Nach Voegelins Überzeugung ist es die Aufgabe des Historikers, in der Geistesgeschichte „jede geschichtlich geistige Position bis zu dem Punkt zu durchdringen, an dem sie in sich selbst ruht, d.h. in dem sie in den Transzendenzerfahrungen des betreffenden Denkers verwurzelt ist.“145Voegelin, Anamnesis, S. 31. Es kommt weiterhin darauf an, „die geistig-geschichtliche Gestalt des andern bis zu ihrem Transzendenzpunkt zu durchdringen und in solcher Durchdringung die eigene Ausformung der Transzendenzerfahrung zu schulen und zu klären.“146Voegelin, Anamnesis, S. 31. Die recht verstandene Geistesgeschichte verfolgt also zwei Ziele: Verstehen der geistigen „Gestalten“ der Vergangenheit und Klärung der eigenen Beziehung zur Transzendenz. Das Verstehen hat dabei strikt am „Leitfaden“ der „ ‘Selbstzeugnisse’ der Denker“147Voegelin, Anamnesis, S. 32. zu erfolgen. Die Klärung des Selbstverständnisses durch das „geistesgeschichtliche Verstehen“ zielt letztlich auf eine „Kathar[s]is, eine purificatio im mystischen Sinn, mit dem persönlichen Ziel der illuminatio und der unio mystica“.148Voegelin, Anamnesis, S. 31. Wird dieses „geistesgeschichtliche Verstehen“ systematisch ausgeübt, so kann es „zur Herausarbeitung von Ordnungsreihen in der geschichtlichen Offenbarung des Geistes führen.“149Voegelin, Anamnesis, S. 32.
Es ist zu berücksichtigen, dass Voegelin dies 1943, also noch lange vor seinem geschichtlichen Hauptwerk „Order and History“, geschrieben hat. Voegelins Ausführungen sind also eher noch als ein frühes Programm zu verstehen.150Vgl. Jürgen Gebhardt: Toward the Process of universal Mankind. The Formation of Voegelin’s Philosophy of History, in: Ellis Sandoz (Hrsg.): Eric Voegelins Thought. A critical appraisal, Durham N.C. 1982, S. 67-86, S. 78. Dennoch kann die Frage aufgeworfen werden, ob dieses Programm eine gangbare Alternative zu den von Voegelin abgelehnten „averroistischen Konzeptionen“ von Geschichte darstellt. In dieser Hinsicht fällt auf, dass Voegelins Programm bereits sehr erhebliche Vorentscheidungen über das Wesen der Geistesgeschichte enthält. Voegelin unterstellt, dass jeder bedeutsamen geschichtlichen Gestalt des Geistes eine Transzendenzerfahrung zu Grunde liegt. Aber nicht alle Denker gründen ihr Denken auf Transzendenzerfahrungen. Die meisten Philosophen gelangen zu ihren Resultaten durch Überlegungen, welche mit einer Auslegung von Transzendenzerfahrungen nichts gemein haben. Es könnte nun behauptet werden, dass die Nichtbeachtung der Transzendenz ebenfalls eine bestimmte, wenn auch eine deformierte Beziehung zur Transzendenz repräsentiert. Wird dies behauptet, so wird jedoch gleichzeitig eine andere methodische Forderung Voegelins vernachlässigt, nämlich die, „jede geschichtlich geistige Position bis zu dem Punkt zu durchdringen, an dem sie in sich selbst ruht“‚151Voegelin, Anamnesis, S. 31. denn durch Betrachtung eines nicht-religiösen Denkers unter dem Gesichtspunkt der Transzendenzerfahrungen werden an diesen Denker völlig heteronome Maßstäbe herangetragen. Voegelin stellt hier also zwei einander widersprechende methodische Forderungen auf: Zum einen, die Denker der Vergangenheit strikt auf Grundlage ihrer Selbstzeugnisse zu erfassen, und zum anderen, jede geistige Position in der Vergangenheit zwingend als Ausdruck einer Transzendenzerfahrung zu verstehen.
Betrachtet man dieses frühe historische Programm im Hinblick auf sein späteres geschichtliches Werk, dann fallen einige Abweichungen auf: So ließ sich etwa die Forderung, vom Selbstverständnis der Denker der Vergangenheit auszugehen, nicht durchhalten. Wenigstens für bestimmte philosophische Systeme gibt Voegelin diese Forderung später auch explizit auf.152Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 310. – Siehe auch Seite in diesem Buch. Weiterhin kann die scharfe Kritik, die Voegelin etwa an Otto Gierkes „phantastischer Vergewaltigung Bodins“153Voegelin, Anamnesis, S. 30. übt, auch gegen Voegelins eigene Klassikerinterpretationen gekehrt werden, die nicht selten eher kongenial als historisch und philologisch zuverlässig sind. Sogar der Vorwurf der „averroistischen Spekulation“ könnte gegen Voegelin selbst gerichtet werden, wenn er in seinen späteren Schriften das menschliche Bewusstsein an einem Prozess partizipieren lässt, „durch den die Wahrheit der Realität sich ihrer selbst bewusst wird“‚154Eric Voegelin: Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte, in: Eric Voegelin, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte, Späte Schriften (Hrsg. von Peter J. Optiz), Stuttgart 1988, S. 99-126 (S. 123). was von Husserls durch die konkreten Philosophen hindurchgehender Willensrichtung nicht allzu weit entfernt ist. Voegelins eigene Geschichtskonstruktion ist in diesen Punkten derjenigen Husserls, die er zu recht kritisiert, näher, als dies die Entschiedenheit seiner Vorwürfe erwarten lassen sollte.
4. Voegelins Descartes-Deutung
Dass Voegelin sich große Interpretationsfreiheiten erlaubt, wird auch an seiner Auseinandersetzung mit Husserls Descartes-Bild deutlich, denn die rationale und wissenschaftliche Ausrichtung von Descartes’ Denken lässt im Grunde wenig Raum für die Eindrücke von Transzendenzerfahrungen. Für Voegelin greift Husserls Descartes-Interpretation zu kurz, weil Husserl der Philosophie des Descartes eine rein erkenntnistheoretische Bedeutung unterstellt, und weil Husserl nach Voegelins Ansicht den tieferen Sinn von Descartes Gottesbeweis in der dritten Meditation missversteht.
Was die rein erkenntnistheoretische Deutung des Descartes durch Husserl betrifft, so gilt dasselbe, was bereits über Voegelins Kritik an Husserls Geschichtsbild gesagt wurde: Sofern es Husserl um eine Einleitung in die Phänomenologie geht, ist es sein gutes Recht, die Aspekte der Philosophie von Descartes herauszugreifen, die für die Phänomenologie von Bedeutung sind, und dies sind nun einmal die erkenntnistheoretischen. Da Husserls „Krisis“ aber noch von wesentlich höheren Aspirationen getragen wird, sind Einwände gegen das Herausgreifen bestimmter Einzelaspekte der Philosophie des Descartes grundsätzlich legitim.
Etwas anders verhält es sich jedoch mit Husserls Vernachlässigung des Gottesbeweises in der dritten Meditation von Descartes „Meditationen über die Grundlagen der Philosophie“. Husserl erwähnt in der „Krisis“ nur kurz, dass der Gottesbeweis falsch sei, und geht auf die dritte und die folgenden Meditationen gar nicht weiter ein.155Vgl. Husserl, Krisis, S. 82. Er scheint sich hier an eine damals wie heute geläufige Lesart zu halten, nach der die dritte bis sechste Meditation von Descartes noch durch und durch scholastisch sind, und philosophisch Belangvolles nur in den ersten beiden Meditationen zu finden ist.156Vgl. Bertrand Russell: A History of Western Philosophy, London, Sidney, Wellington 1990, im folgenden zitiert als: Russell, History of Western Philosophy, S. 550. Auch Voegelin sieht in Descartes’ Meditationen ein durchaus traditionelles Unternehmen. Für ihn sind die gesamten „Meditationen“ des Descartes eine Spielart der christlichen Meditation, wie sie seit Augustinus insbesondere bei den mystischen Denkern üblich war. Wenn man Voegelin Glauben schenkt, so war es das Ziel der Meditationen von Descartes, wie in der christlichen Meditation üblich, in der Abkehr von der Welt den Kontakt zur Transzendenz als der höchsten Wirklichkeit zu finden. Das Neue bei Descartes besteht nach Voegelin darin, dass Descartes – anders als seine Vorläufer – die Meditation nicht aus einer Haltung der Verachtung der Welt heraus unternimmt, sondern in der Absicht, sich durch den Kontakt zur höchsten Realität der Realität bzw. der Objektivität der Welt zu versichern. Der Gottesbeweis in der dritten Meditation ist, Voegelin zufolge, in diesem Zusammenhang nicht als logische Beweisführung, sondern als sekundärer, in der Stilform der demonstratio gefasster Ausdruck der als solcher unmittelbaren und eines Beweises nicht bedürftigen Gotteserfahrung zu sehen.157Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 32-35.
Voegelins Descartes-Interpretation ergibt sich nicht ganz zwanglos aus dem Text der „Meditationes“, da dort von der Gotteserfahrung nur sehr am Rande die Rede ist. Wäre mit der Erfahrung Gottes schon seine Existenz und darüber hinaus die Existenz der Welt mitgegeben, so erscheint es ganz und gar unnötig, dass Descartes versucht, mit Hilfe scholastischer Schlussweisen, deren Falschheit Voegelin gar nicht bestreitet, zu zeigen, dass die Vorstellung Gottes anders als alle anderen Vorstellungen die Existenz des Vorgestellten impliziert.158Vgl. René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1993, S. 36ff. Darüber hinaus unterscheidet sich Descartes’ Text nicht nur in der Intention der Weltvergewisserung sondern auch in der Art und Weise der Darstellung recht deutlich von den „ekstatischen Konfessionen“159So der Titel einer Sammlung mystischer Erfahrungsberichte, die teilweise mit den Mitteilungen „Cloud of Unknowing“, die von Voegelin in diesem Zusammenhang angeführt wird, vergleichbar sind (z.B. der Auszug aus der Erzählung des Tewekhul-Beg, Schüler des Mollâ-Schâh, über sein mystisches Noviziat, S. 47-49.) in: Buber, Martin (Hrsg.): Ekstatische Konfessionen, Leipzig 1921. von Mystikern wie etwa dem anonymen Autor der von Voegelin zum Vergleich herangezogenen „Cloud of Unknowing“.160Vgl. A Book of Contemplation wich is called the Cloud of Unknowing, in which a Soul is oned with God. (ed. Evelyn Underhill, 2nd ed. John M. Watkins), London 1922, auf: http://www.ccel.org/u/unknowing/cloud.htm (Host: Christian Classics Ethereal Library at Calvin College. Zugriff am: 5.4.2000). – Ein Vergleich mit Descartes, wie Voegelin ihn anstellt (vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 33) bietet sich noch am ehesten an, wenn man das Ende des vierten und das fünfte Kapitel dieses Werkes dem Beginn von Descartes’ dritter Meditation gegenüberstellt. Aber die oberflächlichen Ähnlichkeiten, die sich dabei auf\/finden lassen, können kaum über den himmelweiten Unterschied in Inhalt, Gegenstand, Absicht, Ausführung und Ziel dieser beiden Werke hinwegtäuschen. Es fällt daher nicht unbedingt leicht, die „Meditationen“ unter dieser Art von Literatur einzureihen. Aber selbst wenn man einmal annimmt, dass die „Meditationen“ von Descartes nur eine mit anderen Mitteln vorgenommene Artikulation derselben mystischen Transzendenzerfahrung sind, so stellt sich die Frage, ob damit irgendetwas gewonnen ist. Wenn schon der Versuch, die Existenz der Außenwelt argumentativ zu beweisen, fehlgeschlagen ist, dann kann die Existenz der Außenwelt durch den Rückgriff auf eine Transzendenzerfahrung ebensowenig begründet werden. Denn es ist zwar vorstellbar, dass eine Transzendenzerfahrung ein sehr starkes Vertrauen in das Sein der Welt einflößt, aber außer der bloßen Erfahrung einer Transzendenz ist nicht auch das Sein der Transzendenz selbst und außerdem noch das objektive Sein der Welt in dieser Erfahrung mitgegeben, da auch bei einer Transzendenzerfahrung eine Täuschung denkbar ist, genauso wie eine Halluzination oder Sinnestäuschung bei der Sinneserfahrung. Die Erfahrung der Transzendenz, was immer das für eine Erfahrung auch sein mag, bleibt deshalb für das erkenntnistheoretische Problem der Existenz der Außenwelt ohne Belang. Bloße Gefühle der Gewissheit, wie sie sich in einer Meditation einstellen mögen, sind eben noch keine Gewissheit.
Einzuräumen ist jedoch, dass Voegelin einen Schwachpunkt von Husserls Theorie der „Konstitution“ des Seins durch Leistungen des Ego trifft, wenn er in diesem Zusammenhang die Frage aufwirft, woher das Ego die Funktion bekommt, „aus der Subjektivität die Objektivität der Welt zu fundieren“161Voegelin, Anamnesis, S. 36. – Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 84-91 (§ 40-41).. Husserls phänomenologische Methode gerät in der Tat an ihre Grenzen, wenn es darum geht, das Selbstsein anderer Menschen oder auch nur von Dingen zu begründen.
B. „Zur Theorie des Bewußtseins“
1. Voegelins Schrift „Zur Theorie des Bewußtseins“
In seinem Aufsatz „Zur Theorie des Bewußtseins“162Voegelin, Anamnesis, S. 37-60. legt sich Voegelin Rechenschaft über seinen eigenen philosophischen Standpunkt ab. Einleitend erklärt Voegelin, dass seine Aufzeichnungen die Ergebnisse anamnetischer Experimente enthielten, doch bezieht sich dies wohl eher auf die auf diesen Aufsatz folgenden Berichte von Kindheitserinnerungen. Der Aufsatz selbst zumindest besteht weit überwiegend aus theoretischer Diskussion.
Es fällt nicht leicht, die Thematik dieses Aufsatzes zu beschreiben, denn Voegelin reißt darin viele verschiedene Themen an. Den Hauptthemenschwerpunkt bildet eine Beschreibung der Struktur des Bewusstseins, seiner Beziehung zur Welt und eine Diskussion der Möglichkeiten des Bewusstseins dasjenige, was außerhalb des Bewusstseins liegt, zu erfahren und zu beschreiben. Daneben skizziert Voegelin umrisshaft eine ontologische Theorie und schließlich versucht Voegelin, nachdem er der Ontologie das Primat vor der Bewusstseinsphilosophie eingeräumt hat, das Auftreten der von ihm für falsch oder zu einseitig gehaltenen Bewusstseinsphilosophien historisch und wissenssoziologisch zu erklären.
Den Ausgangpunkt für Voegelins Überlegungen bildet eine Kritik der Theorien des Bewusstseins, die die Bewusstseinsstrommetapher in den Mittelpunkt ihrer Beschreibung stellen. Voegelin hält dies für eine falsche Akzentuierung: Zwar strömt das Bewusstsein auch, aber das Strömen ist weder der wesentliche noch ein alle anderen Bewusstseinsleistungen bedingender Faktor im Bewusstsein. Vor allem tritt das Strömen nur bei bestimmten Bewusstseinsvorgängen zu Tage wie etwa beim Hören von Tönen. Bei anderen Bewusstseinstätigkeiten – Voegelin beschreibt als Beispiel die inneren Vorgänge beim Betrachten eines Gemäldes – lässt sich das Strömen des Bewusstseins nur erfassen, wenn die Aufmerksamkeit von der Hauptsache abgelenkt wird. Voegelin betrachtet es daher als eine Spekulation, wenn der Bewusstseinsstrom als die Grundform aller Bewusstseinsvorgänge aufgefasst wird.163Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 37-43.
Nach Voegelins eigener Vorstellung vom Aufbau des Bewusstseins ist das Bewusstsein nicht durch zeitliches Fließen sondern thematisch durch Aufmerksamkeitszuwendung und -abwendung strukturiert. Voegelin nimmt an, dass es im Bewusstsein ein Aufmerksamkeitsquantum von nicht genau bestimmter aber beschränkter Größe gibt, welches verschiedenen Bereichen des Bewusstseins in mehr oder weniger starker Konzentration zugewandt werden kann. Im Bewusstsein gibt es nun zwei besonders ausgezeichnete Bereiche, Voegelin nennt sie „Erhellungsdimensionen“, denen bestimmte Formen der Aufmerksamkeitszuwendung, „Erinnerung“ und „Projektion“, entsprechen. Diese beiden Erhellungsdimensionen bezeichnet Voegelin daher passenderweise als „Vergangenheit“ und „Zukunft“. Aus dem Zusammenspiel von Aufmerksamkeitszuwendung und den Erhellungsdimensionen „Vergangenheit“ und „Zukunft“ leitet sich die Vorstellung der (inneren wie äußeren) Zeit ab. Voegelin vertritt also, wie es scheint, eine idealistische Auffassung der Zeit, die derjenigen nicht unähnlich ist, die Augustinus als erster in den „Bekenntnissen“ dargelegt hat.164Aurelius Augustinus: Bekenntnisse, Stuttgart 1998, S. 312-330 (Elftes Buch. XIII.15 - XXVIII.38). Man könnte geneigt sein, gegen die Logik dieser Art von Zeittheorien einzuwenden, dass die Vorgänge innerhalb des Bewusstseins, aus denen die Zeit hervorgeht, doch schon die Zeit als solche voraussetzen. Aber in der Tat setzen sie höchstens bestimmte (zeitliche) Relationen voraus. (Voegelin scheint diese Kritik jedoch ernst zu nehmen, denn er bringt sie etwas später als Selbsteinwand vor; vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 54/55.) Die idealistischen Zeittheorien scheitern aus einem anderen Grund: Wenn die Zeit ausschließlich eine Form oder Leistung des Bewusstseins ist, so ist nicht erklärlich, wie die Kommunikation zwischen den „Bewusstseinen“ verschiedener Menschen zeitlich aufeinander abgestimmt erfolgen kann, da die Botschaften des einen an das andere Bewusstsein doch durch eine äußere Welt hindurch müssen, in der die Zeitrelationen, die der idealistischen Annahme zufolge reine Bewusstseinsprodukte sind, verloren gehen müssten. (Das Argument stammt aus: Russell, History of Western Philosophy, S. 689, wo es im Zusammenhang mit der Diskussion der idealistischen Raum- und Zeittheorie Kants auftaucht. Es lässt sich aber unmittelbar auch auf andere idealistische Zeittheorien übertragen.) Da das Bewusstsein insgesamt endlich ist, so ist auch die Zeitvorstellung aus einem endlichen Vorgang abgeleitet. Dieser Vorgang ist der einzige wirkliche Prozess, von dem wir eine innere Erfahrung haben. Voegelin behauptet, dass dadurch der Bewusstseinsprozess „zum Modell des Prozesses überhaupt“165Voegelin, Anamnesis, S. 44. wird, und dass all unsere Begriffe von Prozessen nur von diesem einzigen uns zur Verfügung stehenden Modell abgezogen sind.166Nur wenige Seiten weiter behauptet Voegelin sonderbarerweise genau das Gegenteil: „... die Ordnung des Augenblicksbildes in der Dimension, die durch die Erhellung geschaffen wird, zur Sukzession eines Prozesses erfordert Erfahrungen von bewußtseinstranszendenten Prozessen.“ (Voegelin, Anamnesis, S. 55.) Infolge der Endlichkeit dieses Modells entstehen Ausdruckskonflikte bei der Beschreibung unendlicher Prozesse, wie sie außerhalb des Bewusstseins gelegentlich vorkommen können. Von diesen Ausdruckskonflikten rühren nach Voegelins Überzeugung auch die Kantischen Antinomien und die Paradoxe der Mengenlehre her.167Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 44/45. – Welche Paradoxe der Mengenlehre Voegelin meint, geht aus dem Text leider nicht hervor. Wahrscheinlich denkt Voegelin dabei an die Russellsche Antinomie, die eine Variante des klassischen Lügnerparadoxons ist und auftritt, wenn man versucht die Menge aller Mengen zu bilden, die sich nicht selbst als Element enthalten. (Vgl. auch die Kritik dieser Passage im folgenden Abschnitt.) Um unendliche Prozesse, die zwar erfahren bzw. erahnt aber nicht widerspruchsfrei beschrieben werden können, überhaupt in irgendeiner Weise zu artikulieren, ist es erforderlich, sich der geheimnisvollen Ausdrucksweise der Mythensymbolik zu bedienen. Den Begriff „Mythensymbol“ definiert Voegelin als ein „finites Symbol, das für einen transfiniten Prozess ‘transparent’ sein soll.“168Voegelin, Anamnesis, S. 45. Eine genauere Eingrenzung, welches die unendlichen Prozesse sind, die des Ausdruckes durch die Mythensymbolik bedürfen, gibt Voegelin nicht an. Seine Beispiele legen nahe, dass es sich dabei um die Gegenstände handelt, die in der Religion zum welttranszendenten Bereich gerechnet werden. Als Beispiele dieses Gebrauchs der Mythensymbolik führt Voegelin nämlich einige allegorische Deutungen bekannter Mythensymbole an. So vermittelt etwa die unbefleckte Empfängnis „die Erfahrung eines transfiniten geistigen Anfangs“169Voegelin, Anamnesis, S. 45.. Voegelin versäumt es leider zu klären, wie ein transfiniter geistiger Anfang Gegenstand der Erfahrung werden kann, und ob es jemals einen Menschen gegeben hat, der etwas derartiges tatsächlich erfahren hat.
Ein größeres Problem im Zusammenhang mit der Mythensymbolik stellt die Frage der Adäquatheit des Mythos dar. Damit meint Voegelin die Frage, ob ein Mythos überhaupt eine Erfahrung ausdrückt, und ob er, wenn er es tut, die Erfahrung richtig zum Ausdruck bringt. Voegelin erläutert dieses Problem am Beispiel zweier Mythen bei Platon, dem von Platon bewusst als reines Propagandainstrument konzipierten Mythos der drei Metalle, die in Platons Dialog Politeia den drei Sozialklassen zugeordnet werden, und dem Mythos aus den Nomoi, in dem die Menschen von den Göttern als Marionetten an metallenen Fäden gelenkt werden.170Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 46/47. Die beiden einzigen Kriterien, die Voegelin anführt, um den richtigen von dem von Platon bewusst konstruierten Mythos unabhängig von Platons eigener Mitteilung zu unterscheiden, sind: 1) Die Übereinstimmung mit Voegelins eigenen metaphysischen Überzeugungen, denn für Voegelin „finitisiert“ der zweite Mythos „im Marionettensymbol ‘adäquat’ die Erfahrung von der Handlung im Schnittpunkt der Determinanten, die wir respektive ‘Ich’ und ‘weltjenseitiges Sein’ nennen“‚171Voegelin, Anamnesis, S. 46. – An dieser Stelle wird nebenbei bemerkt deutlich, wie sehr Voegelin den Erfahrungsbegriff strapaziert. Denn, dass das was wir als teilweise Determiniertheit unser Handlungen erfahren mögen, Folge der Einwirkungen eines weltjenseitigen Seins ist, wird als solches eben nicht erfahren, sondern stellt bestenfalls eine metaphysische Deutung dieser Erfahrung dar. Das ‘weltjenseitiges Sein’ hier nur eine (ontologische neutrale) Benennung sein soll, wirkt kaum glaubwürdig, weil diese Benennung eine weltjenseitige Determinante in einem Zusammenhang suggeriert, in dem es viel plausibler wäre, zunächst die Möglichkeit weltdiesseitiger Determinanten in Erwägung zu ziehen. Der Trick der suggestiven Benennung von Phänomenen ist übrigens einer, den Voegelin der Heideggerschen Variante der Phänomenologie abgeschaut haben könnte. und 2) der emotionale Eindruck, indem der richtige Mythos „die ‘Schauer’ der Transzendenz, das ‘Numinose’ im Sinne Rudolf Ottos erregt.“172Voegelin, Anamnesis, S. 46. Beides sind, wie man unschwer erkennt, höchst subjektive Kriterien.
Im Zusammenhang mit der Mythensymbolik kommt Voegelin auch auf das Husserlsche Problem der „Konstitution der Intersubjektivität“ zu sprechen.173Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 91ff. (§42ff.). Dahinter verbirgt sich die Frage, woraus hervorgeht, dass die Menschen außerhalb des eigenen Bewusstseins eigene Wesen mit einem eigenen Bewusstsein sind. Im philosophischen Gedankenexperiment ist es möglich, sich vorzustellen, dass die anderen Menschen – so wie Gestalten im Traume – nur Hirngespinste des eigenen Bewusstseins sind, oder dass sie „Zombies“ sind, die körperlich und von ihrem Verhalten her Menschen gleichen, in deren Gehirnen jedoch kein Bewusstsein lebt. Edmund Husserl hat zu zeigen versucht, dass das Ich bestimmte Objekte des Erfahrungsfeldes als „alter ego“ konstituieren kann.174Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 112-116 (§ 50/51). Voegelin hält dies für ein reines Verwirrspiel. Seiner Ansicht nach existiert dieses philosophische Problem gar nicht, sondern es ist ein Faktum, dass das Bewusstsein die anderen Menschen als „Nebenbewußtsein“175Voegelin, Anamnesis, S. 47. erfährt. Übrig bleibt nur ein eher moralphilosophisches Problem, welches darin besteht, dieses „Erfahrungsfaktum“176Voegelin, Anamnesis, S. 47. so zum Ausdruck zu bringen, dass die Mitmenschen als gleichartig anerkannt werden können. Zur Behandlung dieses Problems greift Voegelin auf die Mythengeschichte zurück. Es ist nicht ganz klar, warum Voegelin es für notwendig erachtet, die Lösung im Rahmen der Mythensymbolik zu suchen. Bei den anderen Menschen handelt es sich schließlich auch nur um endliche Wesen, weshalb der zuvor beschriebene Ausdruckskonflikt nicht zum Tragen kommt. Zudem sind die anderen Menschen nicht welttranszendent, sondern nur in dem trivialen Sinne bewusstseinstranszendent, in dem auch Tiere und tote Gegenstände bewusstseinstranszendent sind, weil sie außerhalb und unabhängig vom Bewusstsein ihres Betrachters eine Eigenexistenz haben. Um solche Feinheiten kümmert sich Voegelin jedoch nicht weiter. Der Mythengeschichte meint Voegelin nun entnehmen zu können, dass alle bisherigen Gleichheitsideen historisch auf die beiden Mythen der Abstammung aller Menschen von einer Mutter oder der geistigen Prägung durch ein und denselben Vater (Gottesebenbildlichkeit) zurückgeführt werden können.177Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 47/48. Einen möglichen nicht-mythischen Ursprung bestimmter Gleichheitsideen zieht Voegelin gar nicht erst in Erwägung. Ja er versteigt sich sogar zu der kühnen Behauptung, dass die erkenntnistheoretischen Probleme der Intersubjektivität nur innerhalb dieses mythischen Rahmens behandelbar sind.178Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 48. Seine Ausführungen zum mythengeschichtlichen Ursprung der Gleichheitsidee nimmt Voegelin zum Anlass für einen kleinen Exkurs über einige mythengeschichtliche Einzelprobleme des Konflikts zwischen Gleichheits- und Gemeinschaftsmythen‚179Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 48-50. der schließlich in einer Klage über den Verlust des Mythos als Ausdrucksmittel für Transzendenzerfahrungen in der Gegenwart mündet: „Das unvermeidliche Ergebnis“, so Voegelin, „ist das Phänomen der ‘Verlorenheit’ in einer Welt, die keine Ordnungspunkte mehr im Mythos hat.“180Voegelin, Anamnesis, S. 50. Etwas unvermittelt leitet Voegelin daraus eine Erklärung für den letzten Weltkrieg ab: „Die gesellschaftsdynamisch wichtigsten Symptome sind die ‘Bewegungen’ unserer Zeit ... und die ’großen Kriege’: die Kriege nicht nur, wo sie vielleicht ein positives Wollen zur orgiastischen Entladung verraten, sondern auch dort, wo sie hingenommen werden müssen, weil die Handlungen, die sie verhindern könnten, durch die Paralyse des Ordnungswillens, der nur aktiv sein kann, wo er seinen Sinn in der Ordnung des Gemeinschaftsmythos hat, unmöglich gemacht werden.“181Voegelin, Anamnesis, S. 50. Nun ist aber die Berufung auf den „Gemeinschaftsmythos“ ein charakteristisches Merkmal gerade der faschistischen Ideologien. Wenn Voegelin mit der „Paralyse des Ordnungswillens“ auf die Appeasement-Politik Chamberlains gegenüber Hitler anspielen wollte, dann laufen seine Ausführungen auf den Vorwurf an die westlichen Demokratien hinaus, sich nicht ihrerseits faschistischer Methoden bedient zu haben.
Um angemessen über Dinge und Zusammenhänge reden zu können, die mehr sind als bloß Gegenstände endlicher, innerweltlicher Erfahrung, existiert für Voegelin neben der Mythensymbolik noch eine philosophisch-begriffliche Alternative in Form der Prozesstheologie. Sie beschreibt „die Beziehungen zwischen dem Bewusstsein, den bewusstseinstranszendenten innerweltlichen Seinsklassen und dem welttranszendenten Seinsgrund“182Voegelin, Anamnesis, S. 50.. Dieser Aufgabe ist die Prozesstheologie im Gegensatz zu anderen Ansätzen innerhalb der Metaphysik deshalb gewachsen, „weil in ihr zumindest der Versuch gemacht wird, die bewusstseinstranszendente Weltordnung in einer ‘verstehbaren’ Sprache zu interpretieren“, nämlich in einer Sprache, die an „der einzig ‘von innen’ zugänglichen Erfahrung des Bewusstseinsprozesses“183Voegelin, Anamnesis, S. 51. orientiert ist. Wie dies mit der vorherigen Behauptung zu vereinbaren ist, dass gerade dieses Modell zum Ausdruck der Erfahrung transfiniter Wirklichkeit eher untauglich sei‚184Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 44/45. enthüllt Voegelin nicht. Wahrscheinlich muss man sich die Prozesstheologie als der Mythologie verwandt vorstellen. Die Prozesstheologie stützt sich auf zwei „Erfahrungskomplexe“: Zum einen stützt sie sich auf die „Erfahrung“, dass die Welt aus mehreren wesensverschiedenen aber dennoch voneinander abhängigen Seinsstufen aufgebaut ist, und zum anderen basiert sie auf der in der Meditation zugänglichen Erfahrung des „welttranszendenten Seinsgrundes“. Werden diese beiden Erfahrungen kombiniert, so ergibt sich aus der Erfahrung der Abhängigkeit der Seinsstufen voneinander die „Nötigung“, sie als Phasen eines Prozesses der Entfaltung einer identischen Substanz zu betrachten, welcher – hier kommt die meditative Erfahrung ins Spiel – im welttranszendenten Seinsgrund seinen Ursprung hat. Da die Prozesstheologie unmittelbar auf „ontologischen Erfahrungen“ beruht, entzieht sie sich, wie Voegelin glaubt, auch den ansonsten naheliegenden erkenntnistheoretischen Einwänden Kantischer Provenienz, wonach es unzulässig ist, Kategorien der innerweltlichen Erfahrung auf das anzuwenden, was außerhalb aller möglichen Erfahrung liegt.185Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 50-54.
Auf der Grundlage dieser ontologischen Stufentheorie vollzieht Voegelin nun den Übergang vom Primat der Bewusstseinsphilosophie zum Primat der Ontologie.186Dieser Übergang ist übrigens durchaus typisch. In ähnlicher Weise ging auch Heidegger, ausgehend von Husserls phänomenologischer Bewusstseinsphilosophie, zur Ontologie über. Etwas vom Heideggerschen Pathos lässt sich bei Voegelin ebenfalls verspüren, wenn er vor dem möglichen Missverständnis warnt, man sei wieder in den „friedlichen Gewässern der Erkenntnistheorie“ (Voegelin, Anamnesis, S. 56.) angelangt. Zunächst geht Voegelin jedoch zum Ausgangspunkt seiner bewusstseinsphilosophischen Überlegungen zurück. Wenn das Bewusstsein durch die „Erhellungsdimensionen“ der „Vergangenheit“ und „Zukunft“ strukturiert ist und Zeit als solche dem Bewusstsein nicht unmittelbar gegeben ist, so kann bezweifelt werden, dass zwischen diesen Erhellungsdimensionen die zeitliche Beziehung der Sukzession besteht. Das Element der Zeitlichkeit lässt sich aus diesen Erhellungsdimensionen deshalb nicht ableiten‚187Zuvor scheint Voegelin jedoch gerade dies versucht zu haben. (Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 44.) weil es auch vorstellbar ist, dass Erinnerungen und Projektionen nur Phantasien eines im Augenblickspunkt der Gegenwart verharrenden Bewusstseins sind. Wie kann man aber einem solchen „Solipsismus des Augenblickes“188Voegelin, Anamnesis, S. 55. entgehen? Der einzige Ausweg besteht für Voegelin in der „Einsicht, dass das menschliche Bewusstsein nicht eine Monade ist, welche die Existenzform des Augenblicksbildes hat, sondern dass es menschliches Bewusstsein ist, d.h. Bewusstsein im Fundament des Leibes und der Außenwelt.“189Voegelin, Anamnesis, S. 55. Voegelin spricht hier zwar von einer „Einsicht“, aber diese Einsicht hat eher den Charakter eines Postulates, denn nachdem Voegelin einmal beim Solipsismus des Augenblickes angelangt ist, gibt es nichts mehr, woraus das Sein der Zeit und der Welt mit Gewissheit oder auch nur Wahrscheinlichkeit erschlossen werden könnte.
Unter dem Gesichtspunkt dieser ontologischen Einsicht ist auch der Begriff des Bewusstseinsprozesses neu zu deuten. Damit wir die Bewusstseinsvorgänge als zeitlichen Prozess auffassen können, sind „Erfahrungen von bewusstseinstranszendenten Prozessen“190Voegelin, Anamnesis, S. 55. erforderlich. Wie dies möglich ist, wenn – wie Voegelin zuvor kategorisch behauptet hat – der innere Bewusstseinsprozess seinerseits das einzige Modell darstellt, mit dem wir bewusstseinstranszendente Prozesse verstehen können‚191Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 44. bleibt etwas im Dunkeln. Voegelin scheint von einer Art wechselseitiger Abhängigkeit zwischen Sein und Bewusstsein auszugehen, wenn er im folgenden einerseits die physische Bedingtheit des Bewusstseins betont, zugleich aber der idealistischen Ansicht Raum gibt, dass das Sein der Dinge von der Beziehung auf ein Bewusstsein abhängig ist. Es lässt sich nicht leicht feststellen, auf welche Weise Voegelin bei dieser Argumentation einem Zirkelschluss entgehen will. Wahrscheinlich zu Recht weist Voegelin jedenfalls darauf hin, dass daraus, dass das Bewusstsein uns in innerer Erfahrung nur als reines Bewusstsein gegeben ist, nicht folgt, dass es nichts anderes als reines Bewusstsein ist. Vielmehr liefert nach Voegelins Überzeugung die innere Erfahrung nur eine Teilansicht eines untrennbaren materiell-geistigen Seinskomplexes. In der inneren wie der äußeren Erfahrung bekommt der Mensch jeweils nur den äußersten Zipfel eines Seins zu fassen, das sich weit über das in der Erfahrung Gegebene hinaus erstreckt.192Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 55-57.
Aus all diesen Überlegungen zieht Voegelin die Schlussfolgerung, dass die Bewusstseinsphilosophie keinen geeigneten Anfangspunkt der Philosophie darstellt. Das Bewusstsein setzt vielmehr das Sein voraus und die Frage des Anfangs kann nun immer weiter zurückgeschoben werden bis hin zur Frage des Anfangs der Geschichte des Kosmos. Offenbar trennt Voegelin nicht zwischen der Frage des erkenntnistheoretischen Ausgangspunktes und der Frage der historischen Seinsvoraussetzungen des Erkenntnisvermögens. Das klassische Problem eines absoluten Anfangs der Philosophie wird Voegelin noch in „Order and History V“ beschäftigen.193Vgl. Voegelin, Order and History V, S. 13f. Vorerst gelangt Voegelin zu dem Ergebnis, dass das Bewusstsein auf Grund dieser nie vollständig aufklärbaren Anfangsvoraussetzungen nicht wie äußere Gegenstände erkannt und beschrieben werden kann, sondern dass es lediglich durch Besinnung sich selbst und sein eigenes Sein erhellen kann.194Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 57/58.
Nachdem Voegelin solcherart die „Kehre“ zur Ontologie vollzogen hat, behandelt er als letztes Thema dieses Aufsatzes die wissenssoziologische Frage, wie es zu dem Auftreten der seiner Ansicht nach verfehlten Bewusstseinsphilosophien kommen konnte. Voegelin liefert eine solche Erklärung an zwei Stellen seines Aufsatzes. Die erste Erklärung bezieht sich auf den speziellen Fall der Bewusstseinsstromtheorien, die zweite Erklärung betrifft die Bewusstseinsphilosophie im Allgemeinen.
In den Bewusstseinsstromtheorien glaubt Voegelin ein „laizistisches Residuum der christlichen Existenzvergewisserung in der Meditation“195Voegelin, Anamnesis, S. 37. wiederentdecken zu können. Vermutlich auf Grund von einfühlendem Nachvollzug gelangt Voegelin zu der Auf\/fassung, dass im Bewusstseinserlebnis des „Strömens“ der „Engpaß des Leibes spürbar wird“.196Voegelin, Anamnesis, S. 40. Außer seinen eigenen Assoziationen, für die sich in den zeitphilosophischen Texten, auf die Voegelin sich bezieht, durchaus einzelne Hinweise finden lassen, führt Voegelin noch einen eher aus dem Zusammenhang gegriffenen Gedanken von William James (Vgl. William James: Essays in Radikal Empirischem, Anbringe, Kassakurses / London, England 1976, S. 19.) und etwas später (Anamnesis, S. 42) Bergsons Behandlung der eleatischen Paradoxe an. Bergson ist jedoch ein schlechter Gewährsmann, denn seine Behandlung der eleatischen Paradoxe scheint auf einer Verwechselung der physikalischen Begriffe von Ort und Bewegung zu beruhen: Dass ein Körper sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem ganz bestimmten Punkt im Raum befindet schließt nämlich nicht aus, dass er in diesem Punkt einen Bewegungszustand hat. (Vgl. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991, S. 184-190.) Voegelin schließt daraus, dass die Bewusstseinsstromtheorien ebenso wie die christliche Meditation auf eine Form der Transzendenz zielen. Während die Meditierenden in der christlichen Meditation jedoch Welttranszendenz suchen, zielen die Bewusstseinsstromtheorien lediglich auf die bloße Bewusstseinstranszendenz in Richtung der Leibsphäre hin.197Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 41-42.
In einem etwas allgemeineren Rahmen stellt das Auftreten der Bewusstseinsphilosophie für Voegelin die Reaktion auf eine Krise der Symbole dar, wie sie alle Kulturen von Zeit zu Zeit heimsucht. Die Symbole, mit denen die Menschen ihre Transzendenzerfahrungen ausdrücken, tendieren dazu, im Laufe der Zeit schal und inhaltsleer zu werden. Die daraus resultierende Kulturkrise kann nur durch die Beseitigung der alten und die Bildung neuer Symbole zum Ausdruck der Transzendenzerfahrungen behoben werden. Platon war dies als Antwort auf die Krisis der hellenischen Kultur im 5.Jahrhundert vor Christus in vorbildlicher Weise gelungen. Die neuzeitliche Philosophie, die mit Descartes ihren Anfang nimmt, stand nach Voegelins Ansicht vor einer ähnlichen Aufgabe, doch hat sie ihr Ziel verfehlt, indem sie zwar mit der Tradition gründlich aufräumte aber zugleich auch die Transzendenzerfahrungen aus dem Themenkanon der Philosophie ausschloss.198Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 58-60.
2. Kritik von Voegelins Theorie des Bewusstseins
Sind Voegelins Überlegungen „Zur Theorie des Bewußtseins“ überzeugend? Geben sie die Beziehungen zwischen Sein und Bewusstsein richtig wieder und dürfen Voegelins Argumente als stichhaltig angesehen werden? Da es kaum möglich ist, auf alle Einzelheiten der sehr vielfältigen Ausführungen Voegelins einzugehen, sollen zur genaueren kritischen Untersuchung nur einige Punkte herausgegriffen werden, die für Voegelins Argumentation von wesentlicher Bedeutung sind.
Innerhalb von Voegelins eigener Darstellung der Bewusstseinsstruktur findet sich an zentraler Stelle das Argument, dass sich das Bewusstsein bei dem Versuch, transfinite Prozesse deskriptiv zu beschreiben, auf Grund seiner eigenen Endlichkeit unvermeidlich in Widersprüche verwickelt. Das Argument spielt deshalb eine wesentliche Rolle, weil diese Widersprüche es erforderlich werden lassen, zur Deutung bestimmter Wirklichkeitsbereiche auf die zwar subtilen und seelisch sensiblen aber an Klarheit und Objektivität hinter einer deskriptiven Beschreibung zurückstehenden Instrumente der Mythensymbolik und der Prozesstheologie zurückzugreifen. Unglücklicherweise steckt gerade in dieser Passage von Voegelins Darstellung eine Reihe von Fragwürdigkeiten, die sich nicht ohne weiteres auflösen lassen.
Zunächst einmal ist es zweifelhaft, ob, wie Voegelin es behauptet, der Bewusstseinsprozess das einzige erfahrene Modell eines Prozesses darstellt. Prozesse oder, mit anderen Worten, zeitlich ablaufende Vorgänge im weitesten Sinne erleben wir tagtäglich in der äußeren Erfahrung, z.B. wenn wir ein fahrendes Auto beobachten. Die äußere Erfahrung eignet sich dabei mindestens ebenso gut, wenn nicht besser, als die innere Erfahrung, um den Begriff eines Prozesses zu bilden. Abgesehen davon ist es aber auch überhaupt nicht erforderlich, zur Bildung eines Begriffes diesen von irgendeiner Erfahrung abzuziehen. Ebenso wie ein großer Teil unseres Wissens nicht aus unmittelbarer Erfahrung stammt, gibt es auch viele Begriffe, die rein abstrakt sind. Alle mathematischen Begriffe gehören zu dieser Klasse. Insbesondere ist es ohne Probleme möglich, widerspruchsfreie Begriffe von Unendlichkeit zu bilden. Die Mengenlehre verfügt über mehrere solcher Begriffe. Freilich decken diese Begriffe nicht alle Wortbedeutungen von „unendlich“ ab, und die „unendliche Sehnsucht“, von der ein romantischer Dichter schwärmen mag, wird von der Mengenlehre nicht erfasst, aber es ist nun nicht mehr einleuchtend, weshalb die Finitheit des Bewusstseinsprozesses bei der Beschreibung von unendlichen Prozessen zu den von Voegelin unterstellten Ausdruckskonflikten führen muss. Außerdem scheint sich Voegelin auch hinsichtlich der Bedeutung der Kantischen Antinomien geirrt zu haben. Kants Antinomien beruhen letztlich auf unterschiedlichen Voraussetzungen, die den einander gegenübergestellten Beweisen und Gegenbeweisen zu Grunde liegen. Um Antinomien könnte es sich nur noch dann handeln, wenn diese Voraussetzungen gleichermaßen notwendig wären. Aber dies – und hierin irrt Kant und mit ihm viele seiner Interpreten und, wie es scheint, leider auch Voegelin – ist nicht der Fall.199Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1976, S. 454-469. Für die Kant-Apologetik stellvertretend: Peter Baumanns: Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der „Kritik der reinen Vernunft“, Würzburg 1997, S. 742ff.– Dass Kant irrt, kann man sich leicht überlegen, wenn man bei den Antinomien genau darauf achtet, von welchen expliziten und impliziten Voraussetzungen Kant bei seinen Beweisen jeweils ausgeht. Es würde zu weit führen, dies hier im einzelnen auszuführen. Was Voegelin schließlich mit den Paradoxen der Mengenlehre meint, geht aus dem Text leider nicht hervor. Möglicherweise meint Voegelin die Russellsche Antinomie, die in der naiven Mengenlehre auftritt. Aber erstens handelt es sich nicht um ein Paradox der Unendlichkeit, und zweitens lässt sie sich mühelos durch eine axiomatische Fassung der Mengenlehre beseitigen.200Vgl. Jürgen Schmidt: Mengenlehre (Einführung in die axiomatische Mengenlehre). I. Grundbegriffe, Mannheim 1966, S. 22-24.
Voegelins Argument ließe sich im Grundsätzlichen immer noch dann rechtfertigen, wenn es gelänge zu zeigen, dass bestimmte Wirklichkeitsbereiche aus anderen Gründen als dem ihrer „Infinitheit“ einer deskriptiven Beschreibung unzugänglich sind. Dann müsste die Diskussion um die Fragen geführt werden, ob es diese Wirklichkeitsbereiche tatsächlich gibt, und wenn es sie gibt, ob Mythensymbolik oder Prozesstheologie sie erfassen können. So wie Voegelin argumentiert, bleibt die Notwendigkeit des Gebrauchs dieser Symbolformen jedoch unbegründet.
Einen weiteren wichtigen Abschnitt, der zwar weniger für Voegelins folgende Argumentation von Bedeutung ist, aber dafür seine grundsätzliche philosophische Einstellung widerspiegelt, bildet Voegelins Versuch, das Problem der Anerkennung der Mitmenschen als gleichartige und gleichwertige Wesen (in Voegelins Terminologie: das Problem der „Erfahrung vom Nebenmenschen“) mit Hilfe der Mythengeschichte zu lösen. Voegelins Argumentation enthält eine Reihe von Schwachpunkten. Die erste Schwierigkeit bildet der Begriff des „Erfahrungsfaktums“. Obwohl wir, wie auch Voegelin einräumt, von unseren Mitmenschen keine innere Erfahrung haben, sollen wir dennoch durch ein Erfahrungsfaktum unmittelbar davon in Kenntnis gesetzt sein, dass sie ein Innenleben haben. Nun mögen wir zwar intuitiv den Eindruck haben, dass in unseren Mitmenschen auch ein denkendes und fühlendes Bewusstsein steckt, aber die Berufung auf die Intuition ist auch dann noch ein schwaches Argument in der Erkenntnistheorie, wenn sie hochtönend als „Fundamentalcharakter“ der „Transzendenzfähigkeit“201Voegelin, Anamnesis, S. 47. des Bewusstseins etikettiert wird. Der Einwand gegen Husserl, dass sich das Du nicht im Ich konstituiert, ist dagegen durchaus angebracht, denn das Bewusstsein kann unmöglich durch Konstitution etwas hervorbringen, was außerhalb seiner selbst existiert. Als geradezu abwegig erscheint allerdings Voegelins Behauptung, dass dieses erkenntnistheoretische Problem nur im Rahmen der altertümlichen Gleichheitsmythen behandelt werden kann. Weder für die Formulierung dieses erkenntnistheoretischen Problems noch erst recht zu seiner Lösung ist der Rückgriff auf die Mythengeschichte notwendig oder auch nur hilfreich.
Der zweite Schwachpunkt von Voegelins Argumentation liegt in seiner Annahme, dass die moralische Gleichheit aller Menschen nur im Rückgriff auf alte Mythen artikuliert werden kann. Bei der Behandlung dieser moralphilosophischen Problematik müssen drei unterschiedliche Ebenen klar voneinander getrennt werden: Die Ebene der Begründung von Werten, die Ebene der Artikulation bzw. Formulierung der Werte und die Ebene der Vermittlung und Verbreitung der Werte. Für die Begründung des Gleichheitswertes kann die Mythengeschichte offensichtlich nicht herangezogen werden. Wenn die moralische Gleichheit der Menschen nämlich im Sinne einer moralischen Intuition auf einem „Erfahrungsfaktum“ beruht‚202Im Bereich der Ethik ist anders als in der Erkenntnistheorie die Berufung auf die Intuition unter Umständen legitim. Es stellt sich dann nur die Frage, inwieweit intuitiv begründete Werte intersubjektive Verbindlichkeit beanspruchen dürfen. dann besteht die einzig ehrliche Weise, diesen Wert zu begründen, darin, auf diese Intuition bzw. diese Erfahrung hinzuweisen, und gegebenenfalls die Begleitumstände zu beschreiben, unter denen sie zustande kommt oder in besonders deutlicher Weise hervortritt.
Die Formulierung des Gleichheitswertes ist mit und ohne Rückgriff auf Mythen möglich. Ohne Rückgriff auf die Mythologie kann sie beispielsweise durch die Worte erfolgen: „Alle Menschen sind gleich“. Bereits mit diesen schlichten Worten ist der Inhalt der Gleichheitsidee vollständig und ohne jede Mythologie ausgedrückt. Eine Artikulation unter Rückgriff auf die Mythologie könnte durch Erzählung der Geschichte von Adam und Eva erfolgen. Allerdings bliebe, wegen der grundsätzlichen Vieldeutigkeit des Mythos, die Gleichheitsbotschaft dann möglicherweise undeutlich. Dass man mit dem Hinweis auf den Mythos von Adam und Eva ebensogut die Ungleichheit begründen kann, führt uns z.B. Sir Robert Filmer vor Augen, der damit auf eine zu seiner Zeit durchaus übliche Weise das Gottesgnadentum der Könige rechtfertigte.203Vgl. Sir Robert Filmer: Patriarcha, or the Natural Power of Kings, England 1680. Analoges gilt für das Problem der Vermittlung des Gleichheitswertes. Zu der Zeit, als Voegelin den Aufsatz „Zur Theorie des Bewußtseins“ niederschrieb, war das Mythologische einigermaßen in Mode. Nicht zuletzt durch die faschistischen Bewegungen wurde die Berufung auf den Mythos weidlich missbraucht, weshalb es aufgeklärten Autoren wie Thomas Mann notwendig erscheinen mochte, dass man den totalitären Mythen aufgeklärte Mythen entgegen stellen müsse, um das Verständnis für die Urwahrheiten des menschlichen Zusammenlebens wiederzuerwecken.204Den zeitgeschichtlichen Bezug seiner Josephs-Romane hat Thomas Mann in einer späteren Selbstdeutung auf die Formel gebracht, dass der „Mythos .. in diesem Buch dem Fascismus aus den Händen genommen“ wurde. (Thomas Mann: Joseph und Seine Brüder (Vortrag in der Library of Congress am 17.11.1942), in: Thomas Mann: Essays. Band 5: Deutschland und die Deutschen 1938-1945. (Hrsg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski), Frankfurt am Main 1996, S. 185-200 (S. 189).) – Neben den Josephs-Romanen wäre in diesem Zusammenhang auch Thomas Manns biblische Erzählung „Das Gesetz“ zu nennen. Voegelin klingt freilich wesentlich weniger aufgeklärt, wenn er wortwörtlich schreibt, dass der Ordnungswille „nur aktiv sein kann, wo er seinen Sinn in der Ordnung des Gemeinschaftsmythos hat“.205Voegelin, Anamnesis, S. 50. Hier scheint eher noch ein Rest von dem faschistischen Gedankengut durchzuklingen, das Voegelin in seiner autoritären Phase in den 30er Jahren absorbiert hatte.206Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, a.a.O. Aus heutiger Sicht muss ein Ordnungswille, der im „Gemeinschaftsmythos“ wurzelt, in höchstem Maße suspekt erscheinen.
Wie man sieht, ist also der Rückgriff auf die Mythengeschichte für die Begründung und Artikulation des Gleichheitsideals in Wirklichkeit keineswegs erforderlich und höchstens mit Einschränkungen nützlich. Voegelins Argument dafür, das er im Gegenteil unerlässlich sei, ist historischer Art und besteht – wie zuvor ausgeführt – in der Behauptung, dass alle Gleichheitsideen Derivate jener beiden Urmythen der Abstammung von einer Mutter oder der Prägung durch einen Vater sind.207Dass sich – so das andere Argument, das aus Voegelins Text extrahiert werden kann – aus dem von Voegelin behaupteten Ausdruckskonflikt bei der Artikulation unendlicher Prozesse für diesen Fall kein notwendiger Grund für den Gebrauch der Mythensymbolik ableiten lässt, wurde bereits erwähnt. Inwieweit dies historisch richtig und zwingend ist, sei dahingestellt. Für Voegelin war diese Vorstellung wohlmöglich deswegen attraktiv, weil sie ihm erlaubte, eine Analogie zum Leib-Geist-Dualismus herzustellen, indem der eine Mythos ein leiblicher und der andere ein geistiger ist. Aber selbst wenn Voegelins historische These richtig sein sollte, so folgt daraus nicht, dass die Gleichheitsidee niemals etwas anderes sein kann als ein Derivat dieser Urmythen. Insbesondere kommt es bei der moralphilosophischen Diskussion der Gleichheitsidee nur auf den Inhalt und die Begründung dieser Idee an. Diese sind aber von der Entstehungsgeschichte unabhängig, so dass die Diskussion darüber unbekümmert um die Geschichte der Mythologie geführt werden kann.
Nicht nur Voegelins Ausführungen zur Mythensymbolik sondern auch seine Interpretation der Prozesstheologie wirft einige Fragen auf. Vor allem Voegelins Annahme, dass die Prozesstheologie einen Bereich von „ontologischen Erfahrungen“208Voegelin, Anamnesis, S. 54. auslegt, bedarf der Klärung. Denn der Begriff der Erfahrung wird mit dieser Annahme stark überstrapaziert. Das Wissen um die Stufen des Seins ist deskriptives Wissen, das sich bestenfalls auf die Erfahrung stützt, das aber über die unmittelbare Erfahrung weit hinaus geht. Auch dass die meditative Erfahrung ein Wissen vom Seinsgrund vermittelt, muss als höchst zweifelhaft angesehen werden, sofern „Seinsgrund“ ein ontologischer Begriff ist und nicht nur ein Name für die meditative Erfahrung selbst, wie Voegelins spätere Theorie der „Indizes“ des Bewusstseins dies nahelegt.209Siehe Kapitel Im letzteren Fall bestünde dann allerdings auch keine „Nötigung“ mehr, sondern es wäre im Gegenteil sogar ganz und gar unmöglich, den ontologischen Seinsprozess in einem „Seinsgrund“ außerhab des Bewusstseins entspringen zu lassen. Wird jedoch auf diese Weise in Zweifel gezogen, dass es eine privilegierte Klasse ontologischer Erfahrungen gibt, dann bleibt auch die Prozesstheologie, die Voegelin skizziert, als eine bestimmte ontologische Theorie in vollem Umfang durch die Erkenntniskritik angreifbar.
Abgesehen von diesen Schwierigkeiten bleibt auch der Sinn und Zweck der Prozesstheologie im Unklaren. Voegelin zufolge geht die Prozesstheologie aus von der Frage: „ ‘Warum ist etwas, warum ist nicht Nichts?’ “210Voegelin, Anamnesis, S.51. – Vgl. Friedrich Schelling: Philosophie der Offenbarung, Zwölfte Vorlesung, in: Frank-Peter Hansen (Hrsg.): Philosophie von Platon bis Nietzsche, CD-ROM, Berlin 1998, S.37855 / S.72 (Konkordanz: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Auswahl in drei Bänden. Herausgegeben und eingeleitet von Otto Weiß. Leipzig 1907. Band 3, S. 781). Allerdings unternimmt die Prozesstheologie dann keinen ernsthaften Versuch, diese Frage zu beantworten. Eher scheint sie darauf hinauszulaufen, das Gefühl des Staunens bzw. der Verblüffung, das in jener Frage liegt, zu artikulieren. Wenn sich aber die überwiegende Mehrzahl der Menschen nicht mit dem erkenntnistheoretischen Befund der Unbeantwortbarkeit dieser Frage zufrieden geben will, wie Voegelin – nicht unplausibel – vermutet‚211Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 51. warum sollte sie sich dann mit der Prozesstheologie, die diese Frage auch nicht beantworten kann, abspeisen lassen?
Hinsichtlich der Einbettung der Bewusstseinsphilosophie in die Ontologie, wie sie Voegelin im letzten Abschnitt seines Aufsatzes vollzieht, sind vor allem die zwei Thesen zu prüfen, dass die ontologische Problematik die Voraussetzung der Erkenntnistheorie bzw. Bewusstseinsphilosophie bildet, und dass der Mensch sich auf sein Bewusstsein und sein Wesen nur orientierend besinnen aber es niemals zu einem Gegenstand äußerer Beschreibung machen kann.
Die erste dieser Thesen ist auch für Voegelins wissenssoziologische Erklärungen von Bedeutung, denn nur, wenn sie bejaht wird, kann der „Versuch einer ‘radikalen’ Bewusstseinsphilosophie aufklärungsbedürftig“212Voegelin, Anamnesis, S. 58. erscheinen. In einer bestimmten Hinsicht kann die Triftigkeit von Voegelins Einwand gegen die reine Bewusstseinsphilosophie kaum bestritten werden. Die Erklärung der meisten Bewusstseinsvorgänge dürfte nur schwer möglich sein, ohne auf die Tatsache zurückzugreifen, dass es sich um das Bewusstsein eines Menschen handelt, der in einer materiellen Außenwelt lebt. So ist etwa das gelegentliche Auftreten des Bewusstseinsphänomens „Hunger“ nur verständlich, wenn man die Selbstverständlichkeit berücksichtigt, dass das Bewusstsein, in dem es auftritt, das Bewusstsein eines Lebewesens ist, welches von Zeit zu Zeit der Speise und des Tranks bedarf. Auch darf wohl behauptet werden, dass ontologische Fragen insgesamt relevanter sind als nur rein bewusstseinsphilosophische Probleme, denn der Erhalt und die Wohlfahrt unseres Lebens hängt von dem ab, was in der Welt geschieht und nicht von dem, was sich davon im Bewusstsein spiegelt. Insofern spricht für Voegelins kritische Einstellung gegenüber der reinen Bewusstseinsphilosophie auch eine starke intuitive Plausibilität.
Aber ist damit auch die Möglichkeit einer reinen, d.h. ausschließlich introspektiven Beschreibung der Bewusstseinsvorgänge ausgeschlossen? Und muss die Erkenntnistheorie nun doch, trotz der drohenden Gefahr von Begründungszirkeln, ein Wissen um die Außenwelt voraussetzen? In dieser Hinsicht scheint Voegelins These unzureichend begründet zu sein. Auch wenn viele Bewusstseinsvorgänge losgelöst von der Außenwelt nur schwer zu deuten sein dürften, so bleibt doch die Möglichkeit, das Bewusstsein als reines Bewusstsein introspektiv zu beschreiben, immer noch bestehen. Sollte zur Beschreibung des reinen Bewusstseins als Prozess eine Form von Zeitlichkeit vorausgesetzt werden müssen, die nicht introspektiv erfahrbar ist, so genügt es, allein die Existenz dieser Form von Zeitlichkeit zu postulieren, ohne zugleich auch den Leib und die Geschichte vorauszusetzen. Eine solche Beschreibung des reinen Bewusstseins würde auch dann keine weiteren ontologischen Hypothesen voraussetzen, wenn es faktisch substanzidentisch mit seinem leiblichen Fundament (Gehirn) sein sollte. Dabei ist übrigens die Hypothese der Substanzidentität zum Verständnis „der Fundierung von Bewußtsein in Leib und Materie“213Voegelin, Anamnesis, S. 55. nicht einmal zwingend erforderlich, denn diese Fundierung könnte auch durch die Hypothese der kausalen Verursachung von Bewusstseinsphänomenen durch mit diesen nicht substanzidentische physische Phänomene erklärt werden. Die Erkenntnistheorie schließlich setzt schon deshalb nicht die Ontologie voraus, weil die erkenntnistheoretischen Probleme auf einer anderen Ebene, auf der Ebene der Gültigkeit, liegen als die ontologischen Probleme. Zwar ist das Faktum, dass es Erkenntnis und Wahrheit gibt, davon abhängig, dass es Lebewesen gibt, die erkennen können, aber die Gültigkeit von Erkenntnis und die Antwort auf die Frage, worin Wahrheit besteht und nach welchen Kriterien sie festgestellt werden kann, hängen nicht von diesen ontischen Voraussetzungen ab. Am leichtesten lässt sich dies an einem Beispiel verdeutlichen: Damit der Satz „Zwei mal zwei ist vier.“ existiert, muss es wenigstens ein intelligentes Wesen geben, welches ihn denkt oder äußert‚214Manche Philosophen glauben auch, dass Sätze wie dieser in einem platonischen Ideenhimmel existieren. Die Sätze würden dann auch existieren, wenn es keine Menschen oder nicht einmal eine Welt gäbe. und damit dieses Wesen existiert, müssen weitere ontische Voraussetzungen erfüllt sein. Die Wahrheit dieses Satzes hängt jedoch von keiner dieser Voraussetzungen ab.215Man könnte nun vermuten, dass nicht die Wahrheit aber die Bedeutung eines Satzes von ontischen Voraussetzungen, z.B. von der Bedeutungsgeschichte der in ihm verwendeten Wörter abhängt. Aber die Art und Weise, wie die Bedeutung eines Wortes entstanden ist, stellt keine Bedeutungsvoraussetzung des Wortes dar, sondern lediglich eine kausale Voraussetzung der Entstehung der Bedeutung des Wortes.
Wie verhält es sich mit Voegelins zweiter These, dass das Bewusstsein sich nicht selbst wie einen Gegenstand betrachten kann? Voegelin führt als Grund für diese These an, dass die Bewusstseinsphilosophie „ein spätes Ereignis in der Biographie des Philosophen ist“, welches wiederum ein Ereignis in der Geschichte seiner Gemeinschaft, in der Geschichte der Menschheit und in der Geschichte des Kosmos ist. Aber diese Begründung ist wenig stichhaltig und dürfte eher einer holistischen Überzeugung Voegelins geschuldet sein als auf rationaler Überlegung beruhen. Jeder noch so profane Gegenstand hat auch seine Vorgeschichte im Kosmos, und das Wissen über ihn hat eine Vorgeschichte in der Geschichte des menschlichen Wissens. Dennoch wird niemand bestreiten, dass es Gegenstände gibt, die vollständig erkannt werden können. Wenn irgendetwas nur historisch verstanden werden kann, so muss es dafür speziellere Gründe geben. Und außer dem Kosmos selbst gibt es vermutlich nichts, dessen Erkenntnis die Geschichte des gesamten Kosmos voraussetzt.
Problematisch ist auch jener Teil von Voegelins Aufsatz, in welchem er das Auftreten der Bewusstseinsphilosophie in der Neuzeit historisch zu deuten versucht.216Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 58ff. Wie bereits dargelegt, sind Erkenntnistheorie und mit gewissen Einschränkungen auch die Bewusstseinsphilosophie legitime Einzeldisziplinen der Philosophie, die nicht unbedingt als Teilgebiet einer allgemeinen Ontologie behandelt werden müssen. Ihr Auftreten ist daher bereits wesentlich weniger „aufklärungsbedürftig“ als Voegelin meint. Abgesehen davon bleibt es schleierhaft, woher Voegelin überhaupt die historische Aufgabe der Bewusstseinsphilosophie nimmt, eine neue Symbolik für religiöse Transzendenzerfahrungen zu suchen. Sofern Voegelin nicht wie Husserl die Existenz eines historischen Telos voraussetzen will, das jeden Philosophen verpflichtet, sich mit diesem Problem zu beschäftigen, kann er den Philosophen kein Versäumnis vorwerfen, wenn sie sich für andere Fragen als die der Symbolisierung von Transzendenzerfahrungen interessieren. Freilich hat Voegelin das Recht, den Ausschluss der Besinnung auf Transzendenzerfahrungen aus dem Themenkanon der Philosophie zu tadeln, wenn er selbst der Ansicht ist, dass dieses Thema in der Philosophie einen Platz haben sollte. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass andere Philosophen dies explizit ablehnen, und dass sie dazu mindestens ein ebensogutes Recht haben. Abgesehen davon existierten auch in der Neuzeit mit Religion und Theologie durchgängig geistige Disziplinen, die sich mit der Transzendenz beschäftigten und immer noch beschäftigen. Insofern ist es ein wenig voreilig, eine historische Krise der Symbole zu suggerieren. Schließlich ist anzumerken, dass gerade die Husserlsche Phänomenologie, welche sich noch am ehesten angeschickt hat, die Bewusstseinsphilosophie zum allumfassenden Universalparadigma auszuweiten, sich gegenüber dem religiösen Denken als sehr aufgeschlossen erwiesen hat.
Alles in allem leidet Voegelins Aufsatz „Zur Theorie des Bewußtseins“ an auffällig vielen argumentativen Schwächen. An haltbaren Resultaten ist der Text außerordentlich arm. Dies mag damit zusammenhängen, dass er eher den Charakter einer persönlichen Besinnung als den einer philosophischen Argumentation hat. Von Voegelin war das durchaus intendiert, denn die philosophische Tätigkeit bestand für ihn vor allem in der meditativen philosophischen Besinnung. Nur stellt sich dann dem Leser irgendwann die Frage, warum er sich für die persönlichen Besinnungen des Herrn Voegelin eigentlich interessieren sollte, eine Frage, die sich noch mehr aufdrängt, wenn er dann zu den im Folgenden zu besprechenden „anamnetischen Experimenten“ Voegelins weiterblättert.
C. Die „anamnetischen Experimente“ Voegelins
Den ersten Teil seines Werkes „Anamnesis“ schließt Voegelin mit der Wiedergabe einiger Kindheitserinnerungen ab. Es handelt sich um Schilderungen intellektueller Erlebnisse seiner Kindheit, in welchen zum erstenmal, in einer freilich dem zarten Alter entsprechenden Weise, die Fragen auftauchten, welche Voegelin sich später als Bewusstseinsphilosoph erneut stellte. Da diese Erinnerungen teilweise erst durch den Versuch wieder zu Tage traten, sich Rechenschaft über die ersten Anfänge jener Bewusstseinserlebnisse und Stimmungen abzulegen, die Voegelin später als erwachsener Philosoph untersuchte, spricht er von „anamnetischen Experimente[n]“‚217Voegelin, Anamnesis, S. 61. deren Resultate diese Erinnerungen sind. Unter den manchmal mit Augenzwinkern erzählten Episoden, die Voegelin aus seiner Kindheit mitteilt, finden sich Stücke wie jenes von dem Karnevalszug, der in dem Kind eine dunkle Angst erregte, weil sich der Zug, da ihn einzelne Jecken immer wieder verließen, um in den Seitenstraßen zu verschwinden, am Ende aufzulösen schien.218Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 64 (Nr. 3). In einer anderen Episode berichtet Eric Voegelin, der einen Teil seiner Kindheit in Königswinter bei Bonn nahe dem Siebengebirge verbrachte, von den drei Breibergen, die man vom Ölberg aus sehen kann. Dem Märchen zufolge muss man sich durch diese Breiberge hindurchfressen, um in das dahinter liegende Schlaraffenland zu gelangen. Die Angst des Kindes, dabei im Brei stecken zu bleiben, trübte sehr die Hoffnung auf das Schlaraffenland.219Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 65-66 (Nr. 5). Andere Episoden teilen ähnliche Gefühle der Zweifelhaftigkeit des vollkommenen Glückes mit.220Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 66 (Nr. 6), S. 73-64 (Nr.16). Voegelin selbst gibt keine Erläuterungen zu den erzählten Episoden, die ihre Bedeutung für sein späteres Denken erklären könnten.221Einige vorsichtige Deutungsversuche unternimmt Barry Cooper. Vgl. Barry Cooper: Eric Voegelin and the Foundations of Modern Political Science, Columbia and London 1999, S. 204-207. Womöglich betrachtete Voegelin diese frühen Erfahrungen als Vorboten der späteren Skepsis des Politikwissenschaftlers gegenüber der Utopie. In einer weiteren Episode schildert Voegelin den starken emotionalen Eindruck, den das Märchen vom Kaiser und der Nachtigall, die durch ihren Gesang den Tod dazu erweicht vom Kaiser abzulassen, in ihm hinterlassen hat. Später fand Voegelin diese Stimmung aus seiner Kindheit zwar nicht mehr im Märchen wohl aber beim Anhören mancher Musikstücke wieder: „Die Bedeutung, die ein Musikwerk für mich hat, ist bestimmt durch den Grad, in dem es diese süße Beklemmung zwischen Tod und Leben wieder erregt.“222Voegelin, Anamnesis, S. 75 (Nr. 18). Solcher und ähnlicher Art sind die von Voegelin wiedergegebenen Kindheitserinnerungen. Doch was soll mit ihrer Mitteilung bewiesen werden? In den einleitenden Vorbemerkungen zu seinen „anamnetischen Experimenten“ führt Voegelin die Thesen aus seinem vorangehenden Aufsatz noch einmal auf: Das Bewusstsein ist kein Strom, sondern es verfügt über vielfältige Transzendenzfähigkeiten. Die Besinnung über das Bewusstsein greift Bewusstseinserlebnisse des Philosophen auf, die bereits sehr viel früher in seinem Leben erstmals zu Tage getreten sind. Weiterhin sieht Voegelin in den frühen Bewusstseinserlebnissen „Erfahrungseinbrüche“ und „Erregungsquellen“, „aus denen es zu weiterer philosophischer Besinnung treibt“. Die Intensität und Emotionalität223Voegelin spricht wörtlich von der „Natur der Erfahrungseinbrüche“, der „Art der Erregungen“ und der „ ‘Stimmung’ “ des Bewusstseins. (Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 61.) solcher „Erfahrungseinbrüche“ bilden für Voegelin den Maßstab der Radikalität, d.i. der Breite und Tiefe einer philosophischen Besinnung.
Sind aber solche Erfahrungen, wie Voegelin sie erzählt, für die Behandlung bewusstseinsphilosophischer Probleme überhaupt relevant? Sicherlich ist nicht für jedes philosophische Problem der Rückgang auf die Erfahrung seines ersten Auftretens erforderlich. Für die Lösung des zenonschen Problems etwa, wie aus unendlich vielen Einzelschritten ein kontinuierlicher Übergang entstehen kann‚224Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 71/72 (Nr. 14: Der Laib Brot). spielt es sicherlich keine Rolle, wann und wie es zum erstenmal dem Philosophen, der es behandelt, begegnet ist. Auch wenn er es erst im Erwachsenenalter in einem Buch gelesen hat, hindert ihn nichts daran, dieses Problem angemessen zu erörtern. In welchem Falle ist es dann aber notwendig, auf die Problemerfahrungen zurückzugehen, und in welchem Fall nicht? Offensichtlich ist dies dann nicht erforderlich, wenn die Erfahrung nur den Anlass gibt, über ein philosophisches Problem nachzudenken. Außer wenn es um Fragen der Selbsterkenntnis geht, hat das Erlebnis eines philosophischen Problems jedoch keine andere philosophische Bedeutung als die, ein Anlass des Nachdenkens zu sein. Dies gilt auch für die Probleme der Bewusstseinsphilosophie. Für die Lösung beispielsweise des Problems der Konstitution von Gegenständen ist zwar möglicherweise der Bezug auf innere Erfahrungen, nicht aber der Rückgang auf die ersten Erfahrungen dieser Art oder auf das erstmalige Erlebnis, dass es sich hier um ein Problem handelt, erforderlich. Im übrigen stünde eine Philosophie, die sich nur auf die eigenen inneren Erlebnisse des Philosophen stützt, vor dem Problem, dass sie bloß subjektiv gültige Ergebnisse liefern könnte.
Es scheint also, dass Voegelin die Bedeutung von „Erfahrungseinbrüchen“ für die Philosophie erheblich überschätzt hat. Deshalb ist es auch ein zweifelhaftes Unterfangen, die Philosophie an den vermeintlich zu Grunde liegenden inneren Erlebnissen messen zu wollen, zumal dies die Gefahr birgt, dass dann in letzter Konsequenz die Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit des Denkens mehr wiegen als die Qualität der Argumente. Eingeräumt werden muss allerdings, dass die Tiefe einer philosophischen Untersuchung wahrscheinlich auch durch die Intensität der zur Philosophie motivierenden Erfahrungen mitbestimmt ist, nur ist die Intensität der Motivation nicht der Bewertungsmaßstab für philosophische Werke. Unter den zur Philosophie motivierenden Erlebnissen dürften für die meisten Menschen dabei wohl die „Erfahrungseinbrüche“ der Jugend eine größere Rolle spielen als die der Kindheit. Aber Voegelins „anamnetische Experimente“ sind vermutlich eher als Beispiele zu verstehen denn als eine vollzählige Auflistung.
Abgesehen davon bleiben Voegelins „anamnetische Experimente“ ein wenig hinter den Erwartungen zurück, die durch seine vorangegangenen Ausführungen geweckt werden. In den vorangegangenen beiden Abhandlungen kommt der mystischen Erfahrung des welttranszendenten Seinsgrundes eine zentrale Bedeutung zu. Für Voegelins These etwa, dass wir das Sein nur verstehen könnten als einen im welttranszendenten Seinsgrund entspringenden Prozess, ist diese Erfahrung eine unabdingbare Voraussetzung. Damit diese These glaubhaft wird, müsste es nämlich schon tatsächlich der Seinsgrund sein, der sich in dieser Erfahrung zeigt. Sollte es sich nur um irgendein überwältigendes Meditationserlebnis handeln, welches bloß vor lauter Begeisterung eine Erfahrung vom Seinsgrund genannt wird, so wäre die These noch unzureichend begründet, denn der Prozess des Seins kann – außer für einen philosophischen Solipsisten – nicht einer Erfahrung im Bewusstsein entspringen. Voegelins „anamnetische Experimente“ bilden einen der wenigen Anlässe für Voegelin, von eigenen Erfahrungen zu berichten. Ein glaubhaftes und unzweideutiges Transzendenzerlebnis fördern Voegelins „anamnetische Experimente“ jedoch nicht zu Tage. Zwar deutet Voegelin in seinen Einleitenden Bemerkungen zu den anamnetischen Experimenten noch an, dass die Bewusstseinstranszendenz, die in „finiter Erfahrung“ in die Welt hinein führt, nur eine Art von Transzendenz sei, und er führt unter den verschiedenen Transzendenzerfahrungen, die in der Biographie des Bewusstseins schon lange vor dem Einsetzen der philosophischen Besinnung vorgegeben sind, auch die Erfahrung der Transzendenz in den Seinsgrund auf‚225Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 61. aber in den Kindheitserlebnissen lässt sich dann nichts mehr davon wiederfinden. Dort ist zwar unter anderem von dem Schlaraffenland und auch von einer Wolkenburg die Rede, aber einen Hinweis auf irgendetwas, was auch nur annähernd als transzendente Seinsphäre oder gar als der Grund allen Seins gelten könnte, sucht man vergebens.
Endlich gibt es noch einen weiteren, mehr psychologischen Grund, der das Unterfangen, in Kindheitserinngerungen die „Erregunsquellen“ ausfindig zu machen, aus denen es im Erwachsenenleben „zu weiterer philosophischer Besinnung treibt“‚226Voegelin, Anamnesis, S.62. fragwürdig erscheinen lässt. Wenn wir im Erwachsenenalter rückblickend unsere Kindheit betrachten und uns dabei außerdem noch auf der Suche nach unseren eigenen geistigen Ursprüngen befinden, dann lässt es sich nicht immer vermeiden, dass wir in unsere Erinnerung etwas hineininterpretieren, was ursprünglich gar nicht vorhanden war. Die Gefahr einer Selbstmystifikation ist bei „anamnetischen Experimenten“ nur schwer zu umgehen. Es besteht hier übrigens eine Analogie zu jener größeren historischen „Anamnese“ der Wiedererweckung verschollenen Ordnungswissens aus den Quellen der antiken Philosophie und mittelalterlichen Theologie, wo ebenfalls gelegentlich der Eindruck entsteht, dass bei Voegelin eine durch und durch moderne existenzialistische Philosophie dem Denken der Alten aufgestülpt wird.
Voegelins Programm der „Anamnese“ scheitert im Ganzen also aus drei Gründen: Erstens ist die Genealogie eines Gedankens für den Gedanken selbst, d.h. für seinen Inhalt, seine Richtigkeit oder Falschheit, bedeutungslos. Zweitens führt das Verfahren der „Anamnese“ mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Verfälschung der Genealogie. Drittens gelangt man auf diesem Wege ebensowenig zu jener vermeintlich vorhandenen Transzendenz wie durch die philosophische Meditation.
„Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
Der Aufsatz „Was ist politische Realität?“, mit dem Voegelin sein Werk „Anamnesis“ beschließt, stellt eine umfassende Grundsatzarbeitet über das Wesen politischer Realität, so wie Voegelin es sah, und die Grundlagen einer diese Realität adäquat beschreibenden Politikwissenschaft dar. Der Aufbau und die Argumentation des Aufsatzes sind einigermaßen verwickelt, denn obwohl Voegelin im Vorwort zu „Anamnesis“ diesem Aufsatz „eine umfassende und vorerst befriedigende Neuformulierung der Philosophie des Bewußtseins“227Voegelin, Anamnesis, S. 8. attestiert, verraten häufige Wiederholungen, begriffliche Unklarheiten und gelegentliche Selbstkorrekturen innerhalb des Aufsatzes, dass sich Voegelin seiner Sache keineswegs sicher war. Daher gebe ich zunächst eine kurze Übersicht über die wichtigsten Themenkomplexe, die sich aus Voegelins Aufsatz extrahieren lassen, bevor dessen Inhalt im Einzelnen dargestellt und kritisiert wird.
Der wohl wichtigste Themenkomplex dieses Aufsatzes bezieht sich auf den Begriff der Realität. „Realität“ ist bei Voegelin ein Inbegriff absoluter metaphysischer Wahrheiten, die die Welt im Ganzen und die Stellung des Menschen in der Welt betreffen. Das Wissen um diese metaphysischen Wahrheiten („Ordnungswissen“) wird dem Menschen durch ein inneres Gefühl („Ordnungserfahrung“) vermittelt. Eine politische Ordnung kann nur dann eine gute politische Ordnung sein, wenn sie sich auf dieses Ordnungswissen gründet.
Der zweite Themenkomplex betrifft Voegelins sprachphilosophische Ausführungen. Voegelin war der Ansicht, dass die Wörter, mit denen die Ordnungserfahrung artikuliert wird, sich nicht wie gewöhnliche Wörter auf etwas Gegebenes beziehen, das ihre Bedeutung ist, sondern dass sie „Indizes“ sind, die etwas über die innere Verfassung und über besondere Erfahrungen des Bewusstseins vermelden.
Der dritte Themenkomplex behandelt die Beziehungen, die zwischen unterschiedlich niveauvollen Formen des Ordnungswissens bestehen. Voegelin zufolge können die Ordnungserfahrungen in einzelnen Fällen klarer oder weniger klar und damit das ihnen korrespondierende Ordnungswissen niveauvoller („differenzierter“) oder weniger niveauvoll („kompakter“) ausfallen.228Siehe auch die Ausführungen zu den Begriffen der Kompaktheit und Differenziertheit in Kapitel . Dennoch betreffen sie stets dieselbe Realität. Voegelin glaubt, dass es eine geschichtliche Entwicklung von einem kompakteren zu einem immer differenzierteren „Ordnungswissen“ gibt.
Der vierte Themenkomplex bezieht sich auf den Verlust und das tragische In-Vergessenheit-Geraten des Ordnungswissens. Voegelin unterscheidet nicht nur zwischen kompaktem und differenziertem Ordnungswissen, sondern auch zwischen Philosophien, die überhaupt Ausdruck von Ordnungserfahrungen sind, und solchen Philosophien, die lediglich aus dogmatischer Begriffsklauberei und leerer Spekulation bestehen. Zwar bleibt die Realität immer dieselbe, aber sie kann in Vergessenheit geraten und das Ordnungswissen schlimmstenfalls durch Ideologien verdrängt werden. Voegelin bezeichnet dieses Phänomen als „Realitätsverlust“, und er hält es für die Ursache von politischen Katastrophen wie z.B. den Totalitarismus.
A. Naturwissenschaft und Politikwissenschaft
Im einleitenden Teil seines Aufsatzes stellt Voegelin die Behauptung auf, dass die Politische Wissenschaft von einer fundamental anderen Art sei als die Naturwissenschaften, so dass die Politikwissenschaft nach Voegelins Ansicht nicht zu einem durchgängig logisch zusammenhängenden System von Aussagen ausgebaut werden kann. Die Gründe hierfür sind für Voegelin prinzipieller Natur: 1. Der Gegenstandsbereich der Politikwissenschaft ist bereits durch nicht-wissenschaftliche Interpretationen besetzt. 2. Der Gegenstand (Politik) wird durch Interpretationen des Gegenstandes selbst geformt. 3. Unterschiedliche Interpretationen der Politik, seien sie nun wissenschaftlicher oder unwissenschaftlicher Art, streiten einander ihren Wahrheitsanspruch ab und betrachten sich gegenseitig nur als Störfaktor innerhalb des Gegenstandsbereiches, indem sie beispielsweise gegen die jeweils andere Interpretation den Ideologievorwurf erheben.229Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 284-285.
Aus all dem schließt Voegelin, dass die Beziehung von Wissen und Gegenstand in der Politikwissenschaft von grundsätzlich anderer Art ist als in den Naturwissenschaften und dass daher die Politikwissenschaft auch eine besondere Art von Wissen hervorbringen muss, welches Voegelin als „noetische Interpretation“ bezeichnet.230Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 287.
Die Gründe, die Voegelin andeutet, legen jedoch nur sehr bedingt die Konsequenz der Wesensverschiedenheit von Politikwissenschaft und Naturwissenschaft nahe.231Ich untersuche hier nur die Gründe, die Voegelin für diese These anführt. Eine Untersuchung, ob diese These, für die gewiss bessere Argumente ins Feld geführt werden können, grundsätzlich richtig ist, würde an dieser Stelle zu weit führen. Für die jüngere Diskussion dazu vgl. Shapiro, Flight from Reality, a.a.O. Der erste Grund gibt eine Bedingung wieder, die in genau derselben Weise auch für die Naturwissenschaft gilt, stößt sie doch ebenfalls auf schon vorhandene Deutungen der Natur, bei denen es sich, je nachdem, um praktisch nützliche Kenntnisse oder um abergläubische Vorstellungen handeln kann. Der dritte Grund besagt lediglich, dass es bei den Deutungen der Politik anders als innerhalb der Naturwissenschaften nicht nur eine durch unterschiedliche wissenschaftliche Lager, sondern auch eine durch unterschiedliche politische Lager bestimmte Konkurrenz gibt. Zudem kann man wohl konstatieren, dass die Lagerkämpfe in den Gesellschaftswissenschaften zuweilen noch etwas unversöhnlicher ausgetragen werden als in den Naturwissenschaften, weil es in den Gesellschaftswissenschaften viel schwieriger ist, empirisch zwischen konkurrierenden Theorien zu entscheiden. Auch haben politikwissenschaftliche Theorien typischerweise einen weniger formalen und deduktiven Stil und Charakter als naturwissenschaftliche Theorien. Es würde jedoch zu weit gehen, aus diesen Unterschieden zu folgern, dass die Politikwissenschaft ein grundsätzlich anderer Typus von Wissenschaft ist als die Naturwissenschaften. Allein der zweite Grund könnte diese Konsequenz rechtfertigen. Allerdings erläutert Voegelin weder, ob und wie infolge dieser Selbstbezüglichkeit die konventionelle Theoriebildung Gefahr läuft zu scheitern, noch zeigt er, wie die „noetische Interpretation“ derartige Probleme vermeidet. Aus dem ersten Teil von Voegelins Aufsatz ergeben sich also keine stichhaltigen Gründe für die Vorteile oder die Notwendigkeit des noetischen Verfahrens.
B. Voegelins Begriff der Realität
Im zweiten Teil seines Aufsatzes beschäftigt sich Voegelin mit dem Wesen und der Rolle der noetischen Interpretation. Voegelin beginnt zunächst mit einigen dogmatischen Voraussetzungen über den Ursprung politischer Ordnung. Dann entwickelt er am Beispiel des Aristoteles den Begriff der „noetischen Exegese“ der Realitätserfahrung und versucht die komplizierte Beziehung zwischen der noetischen Exegese und der vergleichsweise primitiveren mythischen Auslegung zu bestimmen. Darauf geht Voegelin auf die Schwächen der aristotelischen Philosophie ein und leitet zu seiner eigenen Fortführung der aristotelischen Exegese über, in deren Zentrum ein höchst eigentümlicher Begriff der „Realität“ steht. Schließlich geht Voegelin auf das Thema des „Realitätsverlustes“ und der seiner Ansicht nach daraus resultierenden politischen Unordnung ein.
1. Die „Spannung zum Grund“ als Ursprung der Ordnung
Politische Ordnung entspringt Voegelin zufolge in letzter Instanz einer inneren Erfahrung des Menschen, der Erfahrung, geordnet zu sein „durch die Spannung zum göttlichen Grund seiner Existenz“.232Voegelin, Anamnesis, S. 287. Von dieser Erfahrung „strahlen“ in einer nicht näher spezifizierten Weise „die Interpretationen gesellschaftlicher Ordnung aus“.233Voegelin, Anamnesis, S. 287. Da diese Erfahrung nicht gegenständlich ist (ähnlich, vermutlich, wie auch eine Stimmung oder das Lebensgefühl eines Menschen nicht gegenständlich sind), kann es „kein sogenanntes intersubjektives Wissen“234Voegelin, Anamnesis, S. 287. von der richtigen Ordnung geben, was Voegelin später jedoch nicht im Geringsten daran hindert, strikt auf der intersubjektiven Verbindlichkeit dieser Ordnung zu bestehen.235Vgl. beispielsweise Voegelin, Anamnesis, S. 348-350. Im Ringen um einen angemessenen Ausdruck für diese innere Erfahrung, welches Anlass für die verschiedensten Interpretationen der richtigen Ordnung gibt, erblickt Voegelin den Ursprung von „Spannungen in der politischen Realität“.236Voegelin, Anamnesis, S. 288. So vielfältig die Interpretationen der Ordnung auch sind, so ist ihnen doch gemeinsam, dass sie alle nur von einem Grund der Ordnung ausgehen, selbst dann, wenn, wie zur Zeit des Aristoteles, das Faktum einer Interpretationsvielfalt schon bekannt ist. Daraus schließt Voegelin, dass es auch tatsächlich nur einen Ordnungsgrund gibt. Dieser Schluss ist jedoch aus mehreren Gründen fragwürdig: Erstens lässt sich der Befund des Glaubens an einen einzigen (transzendenten) Grund schwer mit polytheistischen Religionen oder mit naturphilosophischen Elementelehren, die mehr als ein Element annehmen (z.B. die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft bei Empedokles), vereinbaren.237Es kann berechtigterweise in Zweifel gezogen werden, ob es bei den Elementelehren der Vorsokratiker um die Bestimmung eines Ordnungs-grundes geht. Aber im Zusammenhang der Voegelinschen Interpretation der Philosophiegeschichte wäre diese Annahme konsequent. Zweitens unterscheiden sich die Interpretationen, die einen einzigen Grund annehmen, zum Teil sehr stark voneinander hinsichtlich der Eigenschaften dieses Grundes. Es bleibt daher sehr fraglich, ob in den unterschiedlichen Interpretionen derselbe Grund gemeint ist. Drittens folgt daraus, dass es den Glauben an einen einzigen Grund gibt, weder dass dieser Grund existiert, noch dass es auch in Wirklichkeit nur ein einziger ist.
2. Die „noetische“ Exegese bei Aristoteles
Voegelin geht nun in einiger Ausführlichkeit auf die Metaphysik des Aristoteles ein. Aristoteles hat nach Voegelins Auf\/fassung als einer der ersten Philosophen eine umfassende „noetische Exegese“ des Bewusstseins geliefert. Die „noetische Exegese“ folgt historisch auf die rein mythische Deutung der Ordnung. Sie entsteht, wenn das Bewusstsein des Menschen entdeckt und infolge dessen der Grund der Ordnung in der inneren Erfahrung und nicht mehr im Kosmos gesucht wird. Die Auslegung der Bewusstseinserfahrung ist es, was Voegelin „noetische Exegese“ nennt.238Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 288. Wörtlich spricht Voegelin davon, dass die „noetische Exegese“ den „Logos“ des Bewusstseins auslegt. Woraus entspringt das Bedürfnis nach einer noetischen Exegese? Voegelins Aristoteles-Interpretation zufolge lebt der Mensch, der den Grund seiner Existenz nicht kennt, in einem Zustand der Angst.239Dass Aristoteles nicht eigentlich von „Angst“ spricht, erklärt Voegelin kurzerhand damit, dass es in der griechischen Sprache kein entsprechendes Wort gegeben habe. (Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 288.) An dieser Stelle lässt sich der Eindruck schwer vermeiden, dass Voegelin in anachronistischer Weise einen Schlüsselbegriff des modernen Existentialismus in die Deutung der klassischen Philosophie hineinträgt. Diese Angst ist zugleich eine metaphysisch sehr informative Angst, denn sie enthält „das Wissen des Menschen um seine Existenz aus einem Seinsgrund, der nicht der Mensch selbst ist.“240Voegelin, Anamnesis, S. 289. Nun möchte der Mensch diesen Seinsgrund verständlicherweise näher kennenlernen. Deshalb strebt er nach Wissen. Dieses Streben hat die Form eines suchenden Begehrens, es hat die Richtung auf den Seinsgrund hin, und es wird am anderen Ende vom Seinsgrund durch eine eigenständige Anziehungskraft – über die dieser gemäß Aristoteles verfügt – unterstützt. Die Richtung dieser Suche bezeichnet Voegelin als „Ratio“. Unter „rational“ versteht Voegelin daher völlig abweichend vom üblichen Wortgebrauch in etwa das, was Bergson (nach Voegelins Interpretation) mit der „Offenheit der Seele“ meint, also eine besonders ausgeprägte spirituelle Sensibilität.241 Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 289. – Vgl. auch Eric Voegelin: In Search of the Ground, in: Conversations with Eric Voegelin. (ed. R. Eric O’Connor), Montreal 1980, S. 1-20 (S. 4-5). – Hier führt Voegelin anhand von Aristoteles aus, dass von Rationalität nur die Rede sein kann, wenn nicht bloß das Mittel in Bezug auf den Zweck sondern auch der Zweck selbst rational ist, wozu die Zweck-Mittel-Ketten irgendwann einmal zum Nous (göttlicher Geist) als dem höchsten Zweck führen müssen. Dieses Argument liefert zwar eine Definition von Nous, beweist aber weder dessen Existenz noch die Identität des so definierten Nous mit dem transzendenten Seinsgrund, der sich (mutmaßlich) in mystischen Erfahrungen zeigt. – Auf das Grundproblem, welches die legitime Bedeutung umstrittener Ausdrücke wie z.B. „Ratio“ ist, kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden. Zwei Anmerkungen erscheinen mir jedoch angesichts der von Voegelin verfolgten semantischen Strategie notwendig: 1. Die legitime Wortbedeutung ist nicht notwendigerweise die historisch ursprünglichste Bedeutung dieses Wortes, da sich auch Wörter und Begriffe entwickeln können. Daher wäre es falsch zu sagen: Aristoteles hat als erster von „Ratio“ gesprochen, also müssen wir uns an das halten, was Aristoteles damit gemeint hat. 2. Wenn man ein Wort in einer anderen als der üblichen Bedeutung verwenden will, so muss man entweder darauf achten, die neue Bedeutung so zu wählen, dass das semantische Feld des Wortes erhalten bleibt (z.B. rational ist immer etwas, was jedermann durch Nachdenken einsichtig werden kann), oder man muss das gesamte semantische Feld abändern, was möglicherweise eine Lawine von Redefinitionen nach sich zieht. Bei beiden Punkten spielt es keine Rolle, wie fehlgeleitet der herrschende Sprachgebrauch ist. Im übrigen ist immer Abhilfe durch die Einführung neuer Begriffe möglich. Voegelin führt nun noch weiter aus, wie sich bei Aristoteles die Beziehung zwischen menschlichem Wissen und göttlichem Seinsgrund als eine Form von „Partizipation“, d.i. der Teilhabe des Menschen am göttlichen Seinsgrund, darstellt. Obwohl Voegelin den Begriff der Partizipation im folgenden für seine eigenen Überlegungen übernimmt, werden weder die genaue Bedeutung dieses Begriffes noch die Bedingungen der Möglichkeit eines derartigen Vorgangs von Voegelin näher bestimmt. Der Verzicht auf die Klärung dieses Begriffes ist um so verwunderlicher, als Voegelin feststellt, dass in Aristoteles’ Überlegungen an dieser Stelle noch sehr massiv mythische Denkweisen Eingang gefunden haben. Diese Feststellung führt Voegelin zu einem neuen Thema, nämlich der grundsätzlichen Frage nach der Beziehung von Mythos und noetischer Exegese. Voegelin zufolge beruht der Mythos auf einem eigenen Typ von Welterfahrung, den er im Gegensatz zur noetischen Erfahrung als „Primärerfahrung“ bezeichnet. Für gewöhnlich ersetzt bzw. „differenziert“ die noetische Erfahrung die Primärerfahrung. Aber es gibt eine Ausnahme, bei der dies, wie Voegelin meint, nicht möglich ist: Die Erfahrung der Wesensgleichheit aller Menschen. Diese Ausnahme berührt zugleich eines der Fundamentalprobleme der gesamten philosophischen Konzeption Voegelins, nämlich das Problem, wie die noetischen Erfahrungen, obwohl sie kein intersubjektives Wissen zulassen‚242Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 287. dennoch für alle Menschen gültig sein können. Nach Voegelins Ansicht geht die universelle Gültigkeit noetischer Erfahrung aus der Wesensgleichheit aller Menschen hervor, welche ihrerseits Gegenstand der mythischen Primärerfahrung ist. Offensichtlich ist die Ersetzung dieser Primärerfahrung durch eine noetische Erfahrung nicht möglich, denn dies würde zu einem Begründungszirkel führen. Voegelin übersieht, wenn er so argumentiert, jedoch mehrere Schwierigkeiten: Erstens würde das Problem der Universalität der noetischen Erfahrung nur auf das Problem der Universalität des Mythos verschoben werden, so dass sich auf einer anderen Ebene genau dasselbe Gültigkeitsproblem wieder stellt. Zweitens folgt aus der grundsätzlichen Wesensgleichheit aller Menschen nicht, dass die Menschen auch hinsichtlich ihrer religiösen Erfahrungen gleich sind, oder dass die religiöse Erfahrung eines Menschen verbindlich für einen anderen Menschen sein kann. Drittens lässt sich die Wesensgleichheit aller Menschen prinzipiell nicht mythisch begründen, denn Mythen können höchstens etwas veranschaulichen aber niemals begründen. Doch damit ist noch nicht alles über den komplizierten Zusammenhang von noetischer Exegese und Mythos gesagt. Wird versucht, die tieferen Beziehungen dieser beiden Auslegungsweisen zu einander und zur Wirklichkeit zu ergründen, so findet man sich Voegelin zufolge zunächst vor einer Reihe von Aporien wieder, die aufgelöst werden müssen: Die erste Aporie beruht darauf, dass sowohl die noetische Erfahrung als auch andere Auslegungsweisen, seien sie nun mythischer oder dichterischer oder philosophischer Art, Formen der Partizipation darstellen. Gleichzeitig wird das Wort „Partizipation“ aber auch als Selbstbezeichnung allein der noetischen Erfahrung verwendet. Voegelin übersieht, dass hier offenbar ein Wort in zweierlei Bedeutung gebraucht wird. Anstatt durch die Einführung eines neuen Wortes oder durch ein qualifizierendes Adjektiv Klarheit zu schaffen‚243Dazu ist es keineswegs notwendig, wie Voegelin unter (2) (Anamnesis, S. 292.) sagt, „das Partizipieren des Philosophen ... von den anderen Fällen zu dissoziieren und ihm kognitive Qualität zuzuschreiben“. Zum „Dissoziieren“ genügt es hinsichtlich des von Voegelin aufgeworfenen logischen Problems, dass die Fälle überhaupt unterschieden werden können, was offenbar gegeben ist, denn wenn zwischen noetischer und nicht-noetischer Auslegung unterschieden werden kann, dann kann auch zwischen noetischer Auslegung und der Klasse unterschieden werden, die die noetische und nicht-noetische Auslegung (und möglicherweise noch weitere Übergangsformen) enthält. zieht Voegelin die falsche Schlussfolgerung, dass die Partizipation als Spezies unter sich selbst als Genus fiele. Voegelin krönt seinen logischen Fehler durch die kategorische Feststellung, dass „die Logik der Gegenstände und ihrer Klassifikation“244Voegelin, Anamnesis, S. 293. nicht auf den Realitätsbereich des Partizipierens anwendbar sei. Übrigens glaubte Voegelin auch sonst recht häufig, vor einem tieferen Rätsel zu stehen, wenn er in Wirklichkeit bloß mehrdeutige Ausdrücke vor sich hatte. Als ein Opfer seiner anti-nominalistischen Vorurteile erkannte er in diesen Vieldeutigkeiten nicht eine sprachliche Ungenauigkeit, wie sie durch eine saubere begriffliche Unterscheidung leicht bereinigt werden kann, sondern er vermutete in derartigen Vieldeutigkeiten oftmals einen tieferen Sinn und damit ein schwieriges philosophisches Problem‚245An prominenter Stelle liefert dafür die Diskussion des Begriffes der Geschichte in „Order and History I“ ein Beispiel. (Vgl. Voegelin, Order and History I, S. 126-133.) Voegelin hätte sich einen Großteil seiner mühevollen Erörterungen sparen können, wenn er von vornherein klar zwischen Geschichte und Geschichtsbewusstsein bzw. zwischen Geschichte und religiöser Heilsgeschichte unterschieden hätte. Denn es ist durchaus nichts Absurdes daran zu sagen, dass die alten Ägypter, wie jedes Volk, eine Geschichte hatten aber keine Heilsgeschichte wie das Volk Israel, während es in der Tat falsch wäre zu behaupten, Israel habe eine Geschichte, Ägypten aber nicht. während es sich in Wirklichkeit bloß um den klassischen Fall eines philosophischen Scheinproblems handelt.
Trotz der völlig misslungenen Herleitung seines Gedankens lässt sich aus Voegelins Worten immerhin entnehmen, worauf er hinaus will. Im Folgenden versteht Voegelin das Wort „vergegenständlichen“ nicht mehr im Sinne von „klassifizieren“, sondern im Sinne von „zum Gegenstand einer Untersuchung machen“. Diese Form von Vergegenständlichung ist eine Voraussetzung wissenschaftlicher Erkenntnis, aber sie schneidet gleichzeitig die Möglichkeit eines existentiellen Verstehens ab.246Voegelin scheint hier einen Verstehensbegriff zu Grunde zu legen, wie er sich z.B. auch bei Karl Jaspers als Begriff der „existenziellen Kommunikation“ findet. Vgl. Jaspers, Philosophie II, S. 51, S. 58. – Vgl. auch Jeanne Hersch: Karl Jaspers. Eine Einführung in sein Werk, 4. Aufl., München 1990, S. 31-35. – Es gibt zahlreiche Berührungspunkte zwischen dem Denken Voegelins und der Philosophie Jaspers’, auf die hier jedoch nicht ausführlich eingegangen werden kann. Einige Bemerkungen über die nicht weniger gravierenden Unterschiede sind jedoch dringend angebracht: Bei Voegelin wird die Existenzphilosophie um eine politische Militanz verschärft, die geeignet ist, einige ihrer Botschaften geradezu ins Gegenteil zu verkehren. So glaubt Voegelin, die Öffnung zur Transzendenz ebenso einfordern zu können wie die existentielle Kommunikation, die zudem auf Basis von Bedingungen zu erfolgen hat, welche Voegelin vorschreibt (Anerkennung der Existenz des und einer liebenden Beziehung zum transzendenten Sein). Das Scheitern der existenziellen Kommunikation auf Basis der geöffneten Seele bedeutet für Voegelin nicht bloß ein existenzielles Misslingen von individueller Tragik, sondern es begründet – wenn man Voegelins Polemik ernst nimmt, wie es u.a. Poirier tut (Vgl. Poirier, a.a.O.) – den Vorwurf eines schuldhaften Vergehens, welches in letzter Instanz die politische Untragbarkeit des Scheiternden nach sich zieht. Hieraus ergibt sich für Voegelin, dass die noetische und die nicht-noetische Auslegung sich nicht gegenseitig „vergegenständlichen“ können, ohne dass etwas dabei verloren ginge, weil beide Formen des Partizipierens und damit derselben existentiellen Betroffenheit sind, die aus der Berührung mit der Transzendenz hervorgeht. Aus dem Blickwinkel der noetischen Auslegung darf also anderen Auslegungsformen der Rang der Partizipation nicht abgesprochen werden. Aber auch wenn der Mythos daher nicht gänzlich der Unwahrheit verfällt, so wird doch, wie Voegelin meint, aus der noetischen Exegese heraus ein Wahrheitsgefälle sichtbar. Die Entwicklung von niederer Wahrheit zu höherer Wahrheit nennt Voegelin das „Feld der Geschichte“. Diese Entwicklung findet zunächst im Bewusstsein einzelner Menschen statt, die eine vollkommenere Ausdrucksform für die Partizipation und damit eine höhere Wahrheit finden. Da diese neue Ausdrucksform jedoch zur Infragestellung nicht bloß der bisherigen persönlichen Überzeugungen des Denkers, sondern auch der gesellschaftlich tradierten Ausdrucksformen führt, erlangt sie gesellschaftliche Bedeutung.247Vgl. Voegelin, S. 294. Diesen komplexen Beziehungen zwischen noetischer Exegese und anderen Auslegungsformen versucht Voegelin nun bei Aristoteles nachzuspüren. Aristoteles nimmt in seiner Metaphysik auf zwei geistige Traditionen Bezug: Auf die Mythologie und auf die Philosophie von den Vorsokratikern bis Platon. Üblicherweise werden diese beiden Traditionen als zwei unterschiedliche, ja gegensätzliche Diskurstypen innerhalb der hellenischen Geisteskultur betrachtet, wobei die Philosophie der Vorsokratiker demselben nicht-mythischen Diskurstyp zugehört wie die der späteren Philosophen einschließlich Platon und Aristoteles. Diese Sichtweise entspricht ja auch der Selbstwahrnehmung der antiken griechischen Philosophen einschließlich des Aristoteles.248Vgl. Luc Brisson: Einführung in die Philosophie des Mythos. Antike, Mittelalter und Renaissance. Band I, Darmstadt 1996, S. 13-19 / S. 52-53. Und Voegelin leugnet keineswegs, dass Aristoteles sich mit den Vorsokratikern auf einer argumentativ-diskursiven Ebene auseinandersetzt. Aber Voegelin glaubt, Aristoteles in diesem Punkt besser als dieser sich selbst zu verstehen, und hält ihm daher für sein „ ‘Sich-Einlassen’ “249Voegelin, Anamnesis, S. 296. auf eine argumentative Auseinandersetzung mit den Vorsoktratikern einen Mangel an Exaktheit vor. Für Voegelin hat Aristoteles nämlich nicht gebührend berücksichtigt, dass er selbst sich bereits auf einer höheren Stufe der „Bewußtseinshelle“ befand, während die Vorsokratiker nur über ein „Partizipationswissen geringerer Deutlichkeit“250Ebd. verfügten. Im Grunde hätte Aristoteles es nämlich gar nicht nötig gehabt, den Ansichten der Vorsokratiker Argumente entgegenzusetzen, da er ja „weiß .., daß in seiner noetischen Erfahrung der Nous das adäquate Symbol für den Grund ist, und .. sich diese Wahrheit daher nicht durch ein Argument zu beweisen [braucht].“251Ebd.
Während für Voegelin also Aristoteles (und Platon) von den Vorsokratikern durch eine Erfahrungsstufe getrennt sind, scheint ihm der Unterschied zwischen Philosophie und Mythos andererseits weniger fundamental. Auf allen Stufen, vom Mythos über die Vorsokratiker bis zu Aristoteles, geht es Voegelin zufolge um eine Erfahrung der „Partizipation“ und um deren Artikulation in Symbolen. Was sich von Stufe zu Stufe (also zunächst von der Stufe des Mythos zu der der vorsokratischen Philosophie und dann von dieser zur Platonisch-Aristotelischen) ändert, ist die Erfahrung, die von Mal zu Mal „differenzierter“ wird. Durch diese Steigerung entsteht die Geschichte. Und zwar entsteht dabei nicht, wie man denken könnte, irgendeine bestimmte Geschichte, etwa die Geschichte der religiösen oder philosophischen „Erfahrungen“, sondern es entsteht die Geschichte schlechthin, denn Geschichte wird „durch das Bewußtsein konstituiert, so daß der Logos des Bewußtseins darüber entscheidet, was geschichtlich relevant ist, und was nicht.“252Voegelin, Anamnesis, S. 299. Voegelin fügt hinzu, dass die Zeit, in der sich die Geschichte abspielt, keineswegs „die der Außenwelt ist, ... sondern die dem Bewußtsein immanente Dimension des Begehrens und Suchens nach dem Grund.“253Ebd. Da ferner alle Menschen nach dem Grund suchen, ist die solcherart durch das Bewusstsein konstituierte Geschichte „universell-menschlich“254Ebd.. Es fällt schwer, diese Äußerungen über die Geschichte nachzuvollziehen. Denn entweder man versteht sie als Aussagen über das, was konventionellerweise als Geschichte bezeichnet wird, also etwa über die politische Geschichte. Dann sind Voegelins Aussagen schlicht falsch, denn die politische Geschichte spielt sich natürlich in der äußeren Zeit ab, und der „Logos des Bewußtseins“ kann so wenig über das entscheiden, was geschichtlich relevant ist, wie er über das entscheiden kann, was geschehen ist. Oder man versteht Voegelins Äußerungen als Definition von „Geschichte“. Dann bleibt die so definierte Geschichte jedoch für alle, die nicht Anhänger der Voegelinschen oder einer ähnlichen Philosophie sind, völlig irrelevant. „Universell-menschlich“ ist diese Geschichte höchstens ihrem eigenen Anspruch nach, ähnlich, wie auch manche Religionen sich selbst als „universell-menschlich“ verstehen, ohne es jedoch, da es ihrer eine Vielzahl gibt, jemals wirklich zu sein.
3. Der Begriff der politischen Realität
Voegelin leitet nun mit einer Kritik an Aristoteles über zu seiner eigenen noetischen Exegese. Die größte Schwäche von Aristoteles’ noetischer Exegese erblickt Voegelin darin, dass Aristoteles an zentraler Stelle immer wieder auf den sehr missverständlichen Ausdruck „Ousia“ zurückgreift. Voegelin zufolge ist dieser Ausdruck noch der mythischen Primärerfahrung verhaftet und bezieht sich auf die „fraglos, selbstverständlich und überzeugend uns entgegentretende Wirklichkeit der ‘Dinge’ “.255Voegelin, Anamnesis, S. 301. Dieser mythische Überhang, den Voegelin in diesem Falle offenbar nicht wie im Falle der mythisch begründeten Wesensgleichheit aller Menschen für sachlich notwendig hält, rächte sich historisch, indem spätere Philosophen, bei welchen die noetische Erfahrung so weit in den Vordergrund gerückt war, dass die mythische Primärerfahrung fast völlig verblassen musste, die aristotelische „Ousia“ als Gegenstandsbezeichnung missverstanden und begrifflich-philosophische Spekulationen daran knüpften. Das Missverständnis des Aristoteles ist Voegelin zufolge die Ursache für den theologischen und philosophischen Dogmenstreit über Fragen wie die der Unsterblichkeit der Seele, der Beweisbarkeit der Existenz Gottes oder der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt. Das historische Unheil vollendet sich für Voegelin mit der Aufklärung und dem Positivismus, die nicht nur, was noch zu rechtfertigen wäre, die dogmatischen Argumente der mittelalterlichen Philosophie angreifen, sondern die auch die höhere Realität des Partizipierens des Menschen am transzendenten Seinsgrund leugnen. Dies zieht nach Voegelins Überzeugung auf individueller Ebene die psychopathologische Erscheinung des „realitätslosen Existierens“ und auf gesellschaftlicher Ebene den Totalitarismus nach sich. Voegelin illustriert diese Zusammenhänge mit einzelnen Beispielen aus der schönen Literatur, worin Wirklichkeitsverlust und Sprachlosigkeit thematisiert werden.256Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 302-303.
Wenn die noetische Exegese des Aristoteles also in einigen Punkten noch unvollkommen oder wenigstens missverständlich ist, dann stellt sich natürlich die Frage, wie sie besser durchgeführt werden kann. Voegelin versucht dies, indem er statt der problematischen „Ousia“ des Aristoteles den Begriff der Realität in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt. „Realität“ wird gewöhnlicherweise als der Inbegriff all dessen verstanden, was tatsächlich vorhanden ist, im Gegensatz zu dem, was bloß in der Vorstellung oder der Phantasie existiert. Voegelin gebraucht dieses Wort in einem anderen Sinne. Für ihn ist „Realität“ ein Inbegriff bestimmter metaphysischer Seinszusammenhänge, die er in dem Satz zusammenfasst: „Eine Realität, genannt Mensch, bezieht sich, innerhalb eines umgreifend Realen, durch die Realität des Partizipierens, genannt Bewusstsein, erfahrungs- und bildhaft auf die Termini des Partizipierens als Realitäten“.257Voegelin, Anamnesis, S. 304. Der wesentliche Teil dieser Aussage liegt in dem Wort „Partizipieren“ und darin, dass zu den „Termini des Partizipierens“ (denjenigen Dingen, die aneinander partizipieren) auch der „göttliche Grund“ gehört, dessen Existenz Voegelin, wie üblich, ohne weitere Begründung als vermeintliches Erfahrungsfaktum voraussetzt. Weiterhin spielt es für Voegelin eine große Rolle, dass der Vorgang der Partizipation und die partizipierenden Bestandteile („Termini des Partizipierens“) einen untrennbaren Gesamtzusammenhang bilden. Wollte man also beispielsweise nur von Gott bzw. dem göttlichen Grund reden, ohne auch auf die Beziehung des Menschen zu Gott einzugehen, so würde man sich aus Voegelins Perspektive wohl eines gedanklichen Fehlers oder wenigstens einer Ungenauigkeit schuldig machen. Voegelin ist um die Wahrung dieses Gesamtzusammenhangs so ängstlich besorgt, dass er es sogar für unumgänglich hält, das Wort „Realität“ vieldeutig zu gebrauchen, derart dass es zugleich sowohl den Gesamtzusammenhang als auch jeden einzelnen Bestandteil des Zusammenhanges und darüber hinaus auch noch die „Symbole“ bezeichnet, die zur Artikulation des Gesamtzusammenhanges oder seiner Bestandteile gebraucht werden.258Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 305, S. 307. – Dass Voegelin die Vieldeutigkeit des Wortes „Realität“ für notwendig erklärt, verwundert umso mehr, als er sie selber durch den Gebrauch unterschiedlicher und sich auf jeweils andere Aspekte beziehende Ausdrücke („Realität“, „Partizipation“, „Termini des Partizipierens“) zu umgehen weiß. (Vgl. auch: Voegelin, Order and History V, S.16-18. Hier tritt an die Stelle des vieldeutigen Realitätsbegriffs der Komplex von Bewusstsein-Realität-Sprache, dessen einzelne Elemente ebenfalls terminologisch eindeutig gekennzeichnet sind.) Vermutlich haben wir es hier wieder mit dem sprachlichen Problem der vieldeutigen Ausdrücke zu tun, welches Voegelin so viel unnötiges Kopfzerbrechen bereitete. Die „Realität“ des Partizipierens und seiner „Termini“ ist immer und in gleichbleibender Weise vorhanden, unabhängig davon, auf welchem Niveau (noetisch oder prä-noetisch) sie erlebt und artikuliert wird. Sie bleibt als Realität selbst dann noch gegenwärtig, wenn sie geleugnet wird. Etwas irritierend wirkt es auf den ersten Blick, dass Voegelin trotz dieser ausdrücklichen Erklärung wenige Zeilen weiter nicht mehr von der Konstanz der Realität ausgeht, sondern davon spricht, dass die „Realität“ zugleich konstant und veränderlich ist.259Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 306. Vielleicht muss man sich das Partizipieren ähnlich der Beziehung der Verwandtschaft zwischen verwandten Menschen vorstellen, die auch dann noch vorhanden ist, wenn die Verwandten kein Wort miteinander reden, die aber dadurch stark intensiviert werden kann, dass die Verwandten wieder anfangen, miteinander zu kommunizieren, indem sie beispielsweise Geburtstagsgrüße oder Weihnachtskarten austauschen. Auch die Partizipation kann intensiviert werden, wenn sich die Menschen ihrer bewusst werden und sie auf das Niveau „noetischer Erfahrung“ heben. Einen derartigen Zusammenhang scheint Voegelin im Auge zu haben, wenn er von der gleichzeitigen Konstanz und Veränderlichkeit der Partizipation spricht. Im ganzen repräsentiert der Begriff der Realität in Voegelins Gedankengebäude jedoch das Unveränderliche gegenüber den sich wandelnden Erfahrungen und ihren unterschiedlichen Artikulationen.260Vgl. auch Vgl. Eric Voegelin: Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte, in: Eric Voegelin, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte, Späte Schriften (Hrsg. von Peter J. Opitz), Stuttgart 1988, S. 99-126 (S. 107-108 / S. 111-112.). Ein schwerwiegendes Missverständnis ist es Voegelin zufolge, wenn auf Grund einer plötzlichen und sehr intensiven Steigerung der Partizipationserfahrung irrtümlich geglaubt wird, der Mensch und die Welt selbst hätten sich nun in ihrem Wesen verwandelt. In diesem Missverständnis glaubt Voegelin die Ursache sowohl der aufklärerischen Fortschrittsidee als auch von apokalyptischen Visionen und Endzeithoffnungen entdecken zu können.261Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 307. Die Behauptung, dass eine plötzlich intensivierte Partizipationserfahrung die Ursache dieser Phänomene sei, verblüfft ein wenig, da Voegelin unmittelbar zuvor noch das politische Unheil aus der Leugnung der metaphysischen Seinsrealität abgeleitet hat.262Vgl. Anamnesis, S. 302/303. Besonders deutlich wird diese Unstimmigkeit bei Voegelins Deutung der aufklärerischen Fortschrittsidee: Wenn die Aufklärung die Leugnung der metaphysischen Realitätserfahrung par exellence verkörpert, wie kann dann die aufklärerische Fortschrittsidee zugleich Ausdruck des Überschießens dieser Realitätserfahrung sein? Der Überschwang durchbrechender neuer Realitätserfahrung kann weiterhin dazu führen, dass Bewusstsein und Realität, die nach Voegelins Auffassung im Verhältnis eines Teils zum Ganzen stehen, irrtümlich für vollidentisch gehalten werden. Diese Gefahr deutet sich schon bei Aristoteles an, wenn er, an Parmenides anknüpfend, Denken und Gedachtes miteinander identifiziert. Bei Hegel, der wiederum auf Aristoteles zurückgreift, wird dann der göttliche Grund in das Bewusstsein hineingezogen, womit für Voegelin der schwerwiegende Tatbestand gnostischer Spekulation erfüllt ist.263Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 307-309. Ausgehend von seiner Vorstellung davon, was Realität in Wahrheit ist, stellt Voegelin nun einige methodologische Grundsätze hinsichtlich der Interpretation von unterschiedlichen Deutungen der Realität („Realitätsbildern“) auf. Selbstredend scheint Voegelin auch hier wieder vorauszusetzen, dass Mythologie, Religion und Philosophie samt und sonders solche „Realitätsbilder“ verkörpern. Zunächst müssen daher die „Realitätsbilder“ als Ausdruck jener von Voegelin als wahr und gültig erkannten „Realitätsform des Partizipierens“264Voegelin, Anamnesis, S. 309. verstanden werden. Wenn alle „Realitätsbilder“ als Ausdruck jener einen „Realitätsform“ verstanden werden, so hat dies Voegelin zufolge den wissenschaftsökonomischen Vorteil, dass sich daraus unmittelbar eine Erklärung für die oft überraschende Übereinstimmung räumlich und zeitlich unabhängig voneinander entstandener „Realitätsbilder“ ergibt, ohne dass „okkasionelle Theorien“265Voegelin, Anamnesis, S. 310. zur Deutung solcher Übereinstimmungen gefunden werden müssen. Dies ist ein für Voegelins Verhältnisse überraschend einleuchtendes Argument. Voegelin unterschlägt dabei jedoch, dass jener wissenschaftsökonomische Vorteil dadurch wieder aufgehoben wird, dass nun „okkasionelle Theorien“ zur Erklärung von Abweichungen zwischen „Realitätsbildern“, die es ja auch gibt, erfunden werden müssen. Ein weiterer methodologischer Grundsatz, den Voegelin in diesem Zusammenhang aufstellt, besteht darin, dass „Realitätsentwürfe, die sich als Systeme geben“266Ebd. am Maßstab der Realität, mit welcher selbstredend die von Voegelin als wahr und richtig erkannte Realität des Partizipierens gemeint ist, untersucht werden müssen. Es genügt nicht, sie nur auf Grundlage ihrer eigenen Voraussetzungen zu verstehen. Voegelin vertritt also wenigstens in Bezug auf bestimmte „Realitätsentwürfe“ inzwischen genau den gegenteiligen Grundsatz zu der in seinem Brief über Husserl aufgestellten Forderung, die Selbstzeugnisse eines Denkers zur strikten Grundlage der Interpretation seiner Philosophie zu nehmen.267Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 32. – Siehe auch Seite in diesem Buch. Nachdem Voegelin noch einmal kurz das Thema des „Realitätsverlustes“ gestreift hat, kommt er auf auf die Möglichkeit der „periagogé“, der inneren Umkehr, zu sprechen, durch die sich jeder Mensch auch in realitätsverlassener Zeit von falschen „Ersatzrealitäten“ reinigen kann. Als Beispiel zieht Voegelin hier die Entwicklung von Albert Camus heran, in dessen intellektuellem Werdegang er vorbildhaft die inneren Kämpfe verkörpert sieht, die nach Voegelins Ansicht ein Mensch in der heutigen Zeit durchleben muss, „der im Widerstand gegen die Zeit seine Wirklichkeit als Mensch gewinnen will.“268Voegelin, Anamnesis, S. 313.
C. Kritik von Voegelins Realitätsbegriff
Wie überzeugend ist nun Voegelins Vorstellung von Realität, von der Notwendigkeit ihrer Anerkennung und von den Gefahren ihres Verlustes? Hier stellt sich erstens die Frage der metaphysischen Wahrheit von Voegelins Realitätsvorstellung: Gibt es wirklich ein transzendentes Sein, und beugt es sich tatsächlich gnädig zum liebend hingerissenen Menschen hinab? Zweitens stellt sich die Frage der Begründbarkeit von Voegelins Realitätsbild: Woher wissen wir, dass die Realität so beschaffen ist, wie Voegelin es sagt? Kann die Übereinstimmung mit der inneren Erfahrung auch dann noch ein hinreichendes Kriterium für die Wahrheit des Voegelinschen Realitätsbildes sein, wenn man wie Voegelin zugibt, dass es in Bezug auf diesen Gegenstand von einander abweichende innere Erfahrungen gibt? Drittens stellt sich die Frage, ob der Realitätsverlust, so wie ihn Voegelin versteht, in der Tat mit Notwendigkeit oder wenigstens Wahrscheinlichkeit politische Unordnung nach sich zieht, und ob umgekehrt die Anerkennung der Voegelinschen Seinsrealität für die Errichtung politischer Ordnung in irgendeiner Weise vorteilhaft ist. Es empfiehlt sich, die letzte dieser Fragen zuerst zu untersuchen, denn von der Beantwortung dieser Frage hängt es ab, ob den anderen Fragen nur eine theoretische Bedeutung oder auch eine praktisch-politische Dringlichkeit zukommt.
1. Die Verwechselung von gewöhnlichem und spirituellem Realitätsverlust
Auf die Unklarheiten, die sich durch die unterschiedlichen Formen von Realitätsverlust, von denen Voegelin spricht, ergeben, wurde bereits hingewiesen. An dieser Stelle ist daher vor allem die grundsätzliche Frage zu stellen, ob Realitätsverlust im Voegelinschen Sinne das politische Chaos nach sich zieht? Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man geneigt sein, diese Frage ohne jedes Zögern zu bejahen. Wenn die Bürger und insbesondere die Politiker das Gefühl für die Grenzen ihrer Möglichkeiten verlieren, vollkommen unrealistische Wünsche hegen oder gar utopisch-weltfremde Vorstellungen davon haben, was überhaupt möglich ist, dann steht allerdings zu befürchten, dass eine chaotische Politik dabei herauskommt. Nach genauerer Untersuchung von Voegelins Äußerungen stellt sich jedoch heraus, dass es gar nicht dies ist, was er mit Realitätsverlust meint. Unter Realitätsverlust versteht Voegelin vielmehr die Nicht-Anerkennung einer bestimmten metaphysischen Seinsrealität und insbesondere des „Partizipierens“ des Menschen am transzendenten göttlichen Seinsgrund. Zur besseren Unterscheidung kann das, was Voegelin unter Realitätsverlust versteht, als spiritueller Realitätsverlust bezeichnet werden. Wie vehält sich nun der spirituelle Realitätsverlust zum gewöhnlichen Realitätsverlust? Zieht ein spiritueller Realitätsverlust auch einen Realitätsverlust auf pragmatischer Ebene nach sich? Diese Annahme ist wenig einleuchtend. Warum sollte denn beispielsweise ein Mensch, der nicht an die Existenz eines transzendenten Seins glaubt, weniger als andere Menschen dazu in der Lage sein, die Grenzen des Möglichen zutreffend einzuschätzen? Interessanterweise findet sich in Voegelins gesamten Werk kein einziger stichhaltiger empirischer Beleg, der diese Annahme stützen könnte. Umgekehrt spricht ebensowenig dafür, dass jemand, der über ein hohes Maß an spirituellem Realitätssinn verfügt, bessere Voraussetzungen für das Verständnis oder die Gestaltung der politischen Wirklichkeit mitbringt. Voegelin leugnet auch keineswegs, dass die richtige Gesinnung und eine erfolgreiche pragmatische Politik nicht ein- und dasselbe sind. Wozu ist dann aber der richtige spirituelle Realitätssinn überhaupt wichtig? Wenn Voegelin im Zusammenhang mit dem Thema „Realitätsverlust“ immer wieder auf die totalitären Herrschaften anspielt, so liegt der Grund wohl darin, dass Voegelin sich von einer Verbreitung des Empfindens für die spirituelle Realität eine besondere immunisierende Wirkung gegen den Totalitarismus und totalitäre Demagogie erhoffte. Womöglich ging Voegelin davon aus, dass die in der „Spannung zum Grund“ lebenden Menschen schon deshalb nicht auf den Totalitarismus hereinfallen würden, weil die totalitäre Propaganda, der durch politische Bildung und Aufklärung auf der Sachebene so schwer beizukommen ist, dann ihrem innersten Lebensgefühl widersprechen würde. Eine oberflächliche Plausibilität kann man Voegelins Überlegung nicht absprechen. Nur vernachlässigt Voegelin völlig, dass auch andere Existenzweisen als nur die Existenz in der „Spannung zum Grund“ oder ihre kompakten Vorstufen dies leisten können. Hier wäre etwa an die Existenzweise eines Atheisten mit humanen moralischen Grundsätzen zu denken. Voegelins Menschenkenntnis und psychologisches Einfühlungsvermögen erweisen sich hier als außerordentlich engstirnig. Die Schwierigkeiten, die bei Voegelin entstehen, wenn er die Notwendigkeit und Geeignetheit spirituellen Wahrheitsbesitzes zur Bewältigung der pragmatisch-politischen Realität begründen will, können auch als ein theologisches Problem seines mystischen Gottesverständnisses gedeutet werden. Denn dass das Leben nach den Gesetzen Gottes auch das pragmatisch klügste bzw. richtigste ist, ergibt sich aus der konventionellen christlichen Gottesauffassung zwanglos dadurch, dass Gott als allmächtiges Wesen die Unterwerfung des Menschen honorieren kann, und dass er als gütiges und allwissendes Wesen von vornherein vom Menschen nur fordert, was gut für ihn ist. In Voegelins mystisch ausgedünntem Gottesverständnis bleibt von Gott jedoch nur ein transzendentes Sein übrig (welches zudem bloß uneigenständiger Pol einer Beziehung ist). Die Attribute der Allmacht und Allwissenheit sind dadurch keineswegs mehr selbstverständlich gegeben. Lediglich die Güte ist – der von Voegelin beschriebenen Erfahrung des Hingezogenseins nach zu urteilen – noch vorhanden (wenn sie sich auch als Sirenengesang erweisen kann, wie es die transzendente Variante der Gnosis vor Augen führt, die sich bei Voegelin nicht auf einen falschen Gott sondern auf das richtige transzendente Sein in der falschen Weise bezieht). Es fehlt bei diesem ohnmächtigen transzendenten Sein aber jede Gewähr, dass die spirituell richtige, nach der „Spannung zum Seinsgrund“ ausgerichtete Existenzweise auch in pragmatischer Hinsicht die richtige ist. Sie könnte ja auch genau das Gegenteil davon sein.
2. Die Zirkularität der Begründung von Voegelins Realitätsbegriff
Als nicht weniger problematisch als der Zusammenhang von spirituellem Realitätsverlust und politischem Chaos erweist sich die Begründungsproblematik von Voegelins Realitätsbegriff. Woher kann man wissen, dass das, was Voegelin über die metaphysische Seinsrealität sagt, wahr ist? Aus Voegelins Gedankengang heraus müsste darauf die Antwort gegeben werden, dass sich diese Wahrheit aus der Erfahrung ergibt, wobei unter Erfahrung nicht die Sinneserfahrung sondern entweder jenes innere Erleben der „noetischen“ Erfahrung oder die mythische „Primärerfahrung“ zu verstehen ist. Hier stellt sich jedoch ein unlösbares Problem: Indem Voegelin zugibt, dass es unterschiedliche Erfahrungen gibt, denen unterschiedliche Realitätsbilder entsprechen, wie kann dann die Erfahrung noch ein Kriterium für die Wahrheit (oder größere „Differenziertheit“) einer bestimmten Auf\/fassung der „Realität“ abgeben? Auf diese Frage gibt Voegelins Bewusstseinsphilosophie keine Antwort.
An anderer Stelle, in seinem Aufsatz „Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte“, behauptet Voegelin, dass sich seine Aussagen über das Wesen der Realität geschichtlich überprüfen lassen.269Eric Voegelin: Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte, in: Eric Voegelin, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte, Späte Schriften (Hrsg. von Peter J. Optiz), Stuttgart 1988, S. 99-126 (S. 109). Die Aussagen dürfen nach Voegelins Ansicht dann als gültig angesehen werden, wenn sie sich auf die Geschichte beziehen, ohne „einen erheblichen Teil des geschichtlichen Feldes ignorieren oder im Dunkeln lassen“270Ebd. zu müssen, und wenn sie „erkennbar äquivalent mit den Symbolen [sind], die unsere Vorgänger in der Suche nach der Wahrheit der menschlichen Existenz geschaffen haben“.271Ebd. Dieses Prüfungskriterium ist offensichtlich zirkulär, weil bereits zuvor bekannt sein müsste, welche Symbole der „Vorgänger“ echte Erfahrungssymbole sind, welche allein in die Prüfung einbezogen werden dürfen.272Zur Zirkularität von Voegelins Begründung der Wahrheit bestimmter Symbolismen besonders deutlich: Vgl. Eugene Webb: Philosophers of Consciousness. Polanyi, Lonergan, Voegelin, Ricoeur, Girard, Kierkegaard, Seattle and London 1988, S. 126ff. Dieser Zirkelschluss lässt sich auch nicht zu einem hermeneutischen Verstehenszirkel erweitern, denn abgesehen davon, dass der hermeneutische Zirkel höchstens die innere Folgerichtigkeit der schrittweise verfeinerten Deutung gewährleistet, treten in Voegelins Geschichtsbild zwei Symboltraditionen auf (die Tradition der echten Symbole und die Tradition der Entgleisungen), die höchstwahrscheinlich beide die Grundlage eines hermeneutischen Zirkels mit jeweils symmetrischen Stärken und Schwächen bilden können. Darüber hinaus sind die Kriterien, die Voegelin anführt, nur dann ihrem Zweck angemessen, wenn bereits zuvor als metaphysisches Postulat vorausgesetzt wird, dass die Geschichte der Ausdruck des Prozesses der Realität des Partizipierens ist, und dass die Symbole Ausdruck der menschlichen Erfahrung des Partizipierens sind. Am Schluss des Aufsatzes über die „Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte“ gibt Voegelin dies auch ganz ungeniert zu.273Vgl. Eric Voegelin: Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte, a.a.O., S. 126. Damit kann aber von einer historischen Prüfbarkeit seiner Aussagen über die Realität keine Rede mehr sein.
Im Ergebnis stellt sich also heraus, dass es bereits innerhalb der Voegelinschen Theorie weder möglich ist, die Realitätsadäquatheit von Erfahrungen festzustellen, noch die Richtigkeit von Realitätsauf\/fassungen, einschließlich der Realitätsauf\/fassung, die Voegelin selbst vertritt, zu beurteilen.
3. Die Fragwürdigkeit von Voegelins Seinserfahrung
Es bleibt schließlich zu überlegen, ob Voegelins Vorstellung von Realität überhaupt der Wahrheit entspricht. Die richtige Art, diese Frage anzugehen, bestünde zweifellos darin, zunächst zu untersuchen, ob ein transzendentes Sein überhaupt existiert, und dann zu klären, ob es sich in der von Voegelin behaupteten Beziehung zum Menschen befindet. Dieses Vorgehen würde jedoch genau auf das hinauslaufen, was Voegelin als dogmatisches Missverständnis von Symbolen, die Erfahrungen beschreiben, kritisiert. Da nun aber, unabhängig von der Berechtigung eines solchen Vorwurfs, die Frage von Interesse ist, ob Voegelin wenigstens nach seinen eigenen Maßstäben Recht behält, so empfiehlt sich der Versuch, Voegelins Ansatz einmal naiv nachzuvollziehen, und über die Frage zu meditieren, ob die Realität tatsächlich so erfahren wird, wie Voegelin sie beschreibt. Auf diese Weise lässt sich außerdem klären, ob die recht kritische Sicht von Voegelins Philosophie nur der in diesem Buch verwendeten rationalistischen Methode zuzuschreiben ist, oder ob auch eine dem Ideal der immanenten Kritik verpflichtete Herangehensweise zu kritischen Resultaten kommen könnte. Im Folgenden erlaube ich mir daher das Protokoll einer philosophischen Meditation über eine der Schlüsselpassagen aus Voegelins Werk „Anamnesis“ wiederzugeben.
Voegelin beschreibt die Erfahrung der Realität an einer Stelle seines Vortrages „Ewiges Sein in der Zeit“ mit den folgenden Worten:
Wie immer es um den Menschen als das Subjekt der Erfahrung bestellt sein möge, so erfährt er seelisch eine Spannung zwischen zwei Seinspolen, deren einer, genannt der zeitliche, in ihm selbst liegt, während der andere außerhalb seiner selbst liegt, jedoch nicht als Gegenstand im zeitlichen Sein identifiziert werden kann, sondern als ein Sein jenseits alles zeitlichen Seins der Welt erfahren wird. Vom zeitlichen Pol her wird die Spannung als ein liebendes und hoffendes Drängen zur Ewigkeit des Göttlichen erfahren; vom Pol des ewigen Seins her als ein gnadenhaftes Anrufen und Eindringen. Im Verlauf der Erfahrung wird weder das ewige Sein als ein Objekt in der Zeit gegenständlich, noch wird die erfahrende Seele aus ihrem zeitlichen in ewiges Sein transfiguriert; vielmehr ist der Verlauf zu charakterisieren als ein Sich-Ordnen und Sich-Ordnen-Lassen der Seele durch ihr liebendes Sich-Öffnen für das Eindringen des ewigen Seins.274Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 265. – Vgl. Peter J. Opitz: Rückkehr zur Realität: Grundzüge der politischen Philosophie Eric Voegelins, in: Peter J. Opitz / Gregor Sebba (Hrsg.): The Philosophy of Order. Essays on History, Consciousness and Politics, Stuttgart 1981, S. 57/58.
Wird die Realität tatsächlich in dieser Weise erfahren? Auf diese Frage ist natürlich nur eine subjektive Antwort möglich, aber für meinen Teil kann ich diese Frage doch ziemlich klar verneinen: Die Realität wird nicht als ein Partizipieren erfahren, in dessen Verlauf ein sich gnädig herabbeugendes transzendentes Sein in die liebend sich entgegendrängende Seele des Menschen eindringt. Die Welt fühlt sich einfach nicht so an, wie Voegelin es beschreibt! Schon die Zusammenstellung von Lieben und „Sich-Ordnen-Lassen“ mutet, wie ich finde, grotesk an, und die Rede vom „Eindringen des ewigen Seins“ in die sich öffnende und liebend entgegendrängende Seele kommt mir persönlich etwas geschmacklos vor. Kurzum, auch bei den intensivsten Meditationsbemühungen komme ich nicht dazu vom Pol des ewigen Seins her ein gnadenhaftes Anrufen und Eindringen zu erfahren. Und ehrlich gesagt bin ich dem ewigen Sein, respektive Gott recht dankbar dafür, dass es mir die Peinlichkeit solcher Begegnungen erspart.
Bei der Lektüre von Voegelin drängt sich mir häufig eine Frage auf, über die ich jedesmal den Kopf schütteln muss: Wollte Voegelin allen Ernstes den Menschen, die derartige Empfindungen nicht teilen, eine geschlossene Seele und eine existentielle Deformation ihrer selbst vorwerfen? Sind Menschen, die diese spezielle Art von Religiosität nicht für sich bejahen können, die sie vielleicht auch bewusst und explizit ablehnen tatsächlich politisch gefährlich und eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung? Kaum zu fassen, dass Voegelin dergleichen ernsthaft als Wissenschaft verkaufen konnte! Und ebensowenig zu fassen, dass es Leute zu geben scheint, die ihm das abkaufen.275Darüber hinaus kann man die Frage aufwerfen, ob derartige mystische Ergüsse wirklich ein Zeichen besonderer seelischer Sensitivität sind, zu der nur Wenige in vollem Maße fähig sind, wie Voegelin wohl meinte (Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 172-174), oder ob sie nicht eher eine gewisse Form intellektueller Einfalt zur Voraussetzung haben. Dem psychologischen Scharfblick Tolstojs ist die Einsicht zu verdanken, dass das mystische Denken nicht, wie man vielleicht voreilig vermuten möchte, eine besondere Tiefe und Empfänglichkeit des Geistes und der Vorstellungskraft voraussetzt, sondern im Gegenteil auch auf einer ausgeprägten Oberflächlichkeit derselben beruhen kann. So charakterisiert Tolstoj in „Anna Karenina“ die Hinwendung des betrogenen Alexej Karenin zu einer gerade in Mode gekommenen mystischen Richtung des Christentums mit folgenden Worten: „Es fehlte ihm, gleich Lydia Iwanowna und den anderen Leuten, die derselben neuen Auffassung huldigten, jegliche Tiefe der Vorstellungskraft, jener geistigen Fähigkeit, dank welcher die durch die Phantasie hervorgerufenen Bilder mit dem Vorstellungskomplex und zugleich mit der Wirklichkeit im Einklang bleiben. Er sah nichts unmögliches und Absurdes in dem Gedanken, daß der Tod, der nur für die Ungläubigen existierte, für ihn nicht vorhanden sei und daß, da er den vollkommenen Glauben besaß, dessen Maß er im übrigen selbst bestimmte, auch für die Sünde in seiner Seele kein Raum sei und er daher schon hier auf Erden des Heils teilhaftig werde.“ (Leo N. Tolstoi: Anna Karenina, München 1992, S. 511.) Besonderes der spätere Voegelin scheint mir eine ähnliche Entwicklung durchgemacht zu haben, wie Alexej Karenin in dem Roman (nur aus anderen Gründen, versteht sich). Natürlich geben die vorstehenden Bemerkungen nichts weiter als meine persönliche Einstellung zum Thema „Mystische Erfahrungen“ wieder. Der einzige Grund, aus dem ich sie hier anführe, besteht darin, dass für Voegelin im Zentrum der Philosophie immer eine persönliche Besinnung stehen sollte, bzw. wie Voegelin es selbst ausdrückte, dass die „Basis für die Behandlung der philosophischen Problematik .. selbstverständlich immer die Meditationspraxis sein“276Franz-Martin Schmölz (Hrsg.): Das Naturrecht in der politischen Theorie, Wien 1963, S. 137. – Der Band gibt die Vorträge und Diskussion einer Tagung zu dem Thema Naturrecht wieder. Die zitierte Äußerung Voegelins fällt in der Diskussion. müsse. Ich bin dieser Forderung Voegelins an dieser Stelle einmal gefolgt erstens, um mir nicht mangelnde hermeneutische Sensibilität vorwerfen lassen zu müssen und zweitens, um zu zeigen, dass selbst wenn man die „Meditationspraxis“ zur „Basis für die Behandlung der philosophischen Problematik“277Ebda. nimmt, man noch längst nicht zu denselben Ergebnissen kommen muss wie Eric Voegelin.
Voegelins intellektueller Kardinalfehler besteht darin, dass er nicht bereit ist, den rein religiösen Charakter seiner eigenen Vorstellung von der höchsten Realität einzugestehen und die Konsequenzen daraus zu ziehen. Er weigert sich zuzugeben, dass die Wahrheit seiner Auf\/fassung von der höchsten Realität wissenschaftlich nicht greifbar ist. Statt entsprechend behutsam damit umzugehen, setzt er die Wahrheit seiner Realitätsauf\/fassung absolut und zieht sie ohne Umstände als Verständnisgrundlage und als Bewertungsmaßstab aller anderen Weltanschauungen heran. Deutlich wird dies immer wieder an Urteilen wie diesem: „Unter den Erfahrungen des Partizipierens schließlich hat die noetische dadurch ihren besonderen Rang, daß sie die Spannung zum göttlichen Grund nicht nur als Sachstruktur des Bewußtseins, sondern als die Grundspannung aller Realität, die nicht selbst der göttliche Grund ist, zur Klarheit bringt.“278Voegelin, Anamnesis, S. 304. Sinnvoll ist ein solches Urteil nur, wenn als gegeben vorausgesetzt wird, dass „die Spannung zum göttlichen Grund“ in der Tat „die Grundspannung aller Realität“ ist, was aber, gerade weil es unterschiedlich erlebt wird, niemand mit Sicherheit behaupten kann. Unter der Hand gerät Voegelin daher auch seine eigene Philosophie zu einem jener geschlossenen Dogmensysteme, die sich mit Hilfe intellektueller Tricks gegen jede Kritik abschirmen. Zwar beschreibt Voegelin die Realität als offen, aber seine Beschreibung der Realität ist ihrerseits ganz und gar nicht offen. Zu den intellektuellen Tricks, mit denen Voegelin seine Philosophie zu einem geschlossenen System abriegelt, gehört unter anderem die im folgenden zu beschreibende Theorie der sprachlichen Indizes, mit der er seinen, wie schon festgestellt wurde, sehr eigenwilligen Sprachgebrauch rechtfertigt.
D. Die Theorie der sprachlichen Indizes
Die Theorie der sprachlichen Indizes beschreibt die sprachlichen Eigentümlichkeiten der verbalen Wiedergabe noetischer Erfahrungen. Es geht dabei um das Problem, die Besonderheit noetischer Beschreibungen zu erfassen, denn rein äußerlich unterscheidet sich die sprachliche Wiedergabe echter noetischer Erfahrungen durch nichts von der Sprache dogmatischer Metaphysik. Außerdem versucht Voegelin, mit seiner Theorie der sprachlichen Indizes seinen eigenen philosophischen Sprachgebrauch zu rechtfertigen und insbesondere das Definitionsrecht bestimmter Begriffe (Welt, Mensch, Geschichte etc.) für sich zu reklamieren.
Voegelin beginnt zunächst mit einer knappen Zusammenfassung der wichtigsten Züge seines Realitätsbegriffs. Daran anknüpfend stellt er seine Theorie der sprachlichen Indizes als eines Ausdruckes der (noetischen) Erfahrungen dieser Realität vor. Schließlich zieht Voegelin aus dieser Theorie eine Reihe von Schlussfolgerungen in Bezug auf die Politikwissenschaft, die menschliche Natur und die Deutung der Geschichte.
Realität ist für Voegelin eine komplexe Beziehung von Mensch, Dingen und Seinsgrund. Diese Beziehung wird vom Menschen nicht beobachtet, sondern „ ‘von innen’ “279Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 316. erfahren. Ungeachtet dessen bleiben der Mensch und sein Leben jedoch in äußere Zusammenhänge eingeordnet. Der Seinsgrund ragt durch das Bewusstsein des Menschen in die Welt hinein, aber der Mensch kann sich nicht durch das bewusste Partizipieren am Seinsgrund über die Welt hinausheben. (Voegelin baut hier dem „gnostischen“ Missverständnis der Möglichkeit einer Erlösung durch Wissen vor.) In der Erfahrung des Partizipierens gewinnen wir, Voegelin zufolge, gültige „Einsichten“ nicht nur in das Partizipieren selbst, sondern auch in die Termini des Partizipierens, also beispielsweise in das Wesen des Menschen und den Seinsgrund. Noetisches Wissen ist der unmittelbar den „Bewegungen“ des Partizipierens entspringende Ausdruck dieser Einsichten.280Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 315-316.
An diesem Punkt führt Voegelin seine Theorie der sprachlichen Indizes ein. Voegelin greift für diese Theorie eine Denkfigur auf, die er bereits in seinem Aufsatz über die Struktur des Bewusstseins herangezogen hat, in welchem er die These vertritt, dass das Bewusstsein nicht zeitlich, sondern durch Erhellungsdimensionen strukturiert sei, die dann als „Zukunft“ und „Vergangenheit“ sprachlich gekennzeichnet oder, wie Voegelin nun sagen würde, indiziert werden.281Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 44. – Auf die philosophiehistorischen Zusammenhänge von Voegelins Ausführungen gehe ich, da ich eine systematische Kritik von Voegelins Bewusstseinsphilosophie beabsichtige, in diesem Buch meist nicht weiter ein. Trotzdem sei an dieser Stelle eine Vermutung geäußert: Voegelins Index-Theorie scheint dem Modell der Husserlschen Phänomenologie nachgebildet zu sein. Nur will Voegelin dann gewissermaßen den phänomenologischen Charakter als exklusives Merkmal der Beschreibung noetischer Erfahrungen verstanden wissen, statt, wie in der Phänomenologie als einen besonderen Beschreibungsmodus aller Erfahrungen. Durch diesen eklektischen Rückgriff auf eine Denkfigur aus einer durchgearbeiteten philosophischen Theorie handelt sich Voegelin dann jede Menge Inkonsequenzen und Widersprüche ein. Siehe dazu meine Kritik von Voegelins Theorie der sprachlichen Indizes in Abschnitt weiter unten. Die Theorie der Indizes besagt, dass die sprachlichen Ausdrücke, mit denen die noetischen Erfahrungen artikuliert werden, nicht gegenständlich als Aussagen über etwas sondern als Kennzeichnung von inneren Erfahrungen bzw. Erlebnissen verstanden werden müssen. Dies gilt, obwohl diese sprachlichen Ausdrücke ihrer äußeren Form nach gegenstandsförmlich sind. So wäre also etwa der Satz: „In der noetischen Erfahrung dringt der transzendente Seinsgrund in das Bewußtsein ein“ nicht als Aussage über das transzendente Sein und das menschliche Bewusstsein zu verstehen, sondern als Kennzeichnung einer inneren Erfahrung des Eindringens, die offenbar von solcher Intensität und Eigenart ist, dass zu ihrem angemessenen Ausdruck vom „Eindringen des transzendenten Seins“ gesprochen werden muss. Warum aber müssen die noetischen Erfahrungen überhaupt gegenständlich ausgedrückt werden, wenn dies doch so missverständlich ist? Voegelin glaubt, dass es zum gegenständlichen Ausdruck keine Alternative gibt, „weil das Bewußtsein gegenstandsförmlich ist“.282Voegelin, Anamnesis, S. 316. Unter der Gegenstandsförmlichkeit des Bewusstseins versteht Voegelin dabei, dass „Bewußtsein [..] immer Bewußtsein-von-Etwas ist“283Voegelin, Anamnesis, S. 307.
Schwere Fehler und Missverständnisse ergeben sich nach Voegelins Ansicht, wenn Ausdrücke, die Indizes von Bewusstseinserfahrungen sind, unabhängig von diesen Erfahrungen als Begriffe für etwas eigenständig Seiendes verwendet werden. Voegelin illustriert dies an einer Reihe von Beispielen. So gibt es für Voegelin „weder eine immanente Welt noch ein transzendentes Sein als Entitäten“‚284Voegelin, Anamnesis, S. 316. vielmehr sind die Ausdrücke „immanent und „transzendent“ Indizes, welche Bereichen der Erfahrung zugeteilt werden. Nach Voegelins Überzeugung ist es daher unsinnig, über die Existenz von transzendentem oder immanentem Sein zu streiten. Weiterhin ist Voegelin der Ansicht, dass der Ausdruck Mensch wenigstens in bestimmter Hinsicht einen Index der Erfahrung darstellt, denn unter „Mensch“ ist auch „der immanente Pol der existenziellen Spannung zum Grund zu verstehen“.285Voegelin, Anamnesis, S. 317. Da außerdem nach Voegelins Ansicht auch der Ausdruck „Philosophie“ ein Index der Erfahrung ist, so glaubt Voegelin folgern zu können, dass es unmöglich ist, den Menschen im Rahmen einer philosophischen Anthropologie ausschließlich als welt-immanentes Wesen zu verstehen. In der Vernachlässigung dieses Grundsatzes in der Anthropologie erblickt Voegelin nicht bloß einen philosophischen Irrtum, wie er beim Nachdenken schon einmal unterlaufen könnte, sondern eine Form von Realitätsverlust.286Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 316-317.
Aus der Theorie der sprachlichen Indizes folgt für Voegelin eine Reihe von Konsequenzen, die überwiegend bereits gewonnene Einsichten bekräftigen und vertiefen. Die erste Konsequenz ergibt sich hinsichtlich des Begriffes der Wissenschaft. „Wissenschaft“ ist für Voegelin ebenfalls ein Index. Sie entdeckt „sich selbst als das Strukturwissen von Realität, wenn die Selbsterhellung des Bewußtseins und seiner Ratio sich historisch ereignet“‚287Voegelin, Anamnesis, S. 318. – Dass Wissenschaft ebenfalls ein Index sein soll, verblüfft auf den ersten Blick, denn Wissenschaft ist primär eine menschliche Tätigkeit und nicht etwas, das erfahren wird, so dass man an dieser Stelle einen Kategorienfehler Voegelins vermuten muss. Es sei denn, Voegelin wollte die recht abwegige Ansicht vertreten, dass Wissenschaft in erster Linie aus der Selbsterfahrung des wissenschaftlichen Denkens entsteht. wobei in Erinnerung zu rufen ist, dass Voegelin unter „Ratio“ die zum Seinsgrund hin geöffnete Seele versteht und nicht etwa Vernunft oder Verstand im gewöhnlichen Sinne. Dieses historische Ereignis hat, Voegelin zufolge, bei Platon und Aristoteles stattgefunden, deren Noese „die Indizes Wissenschaft (episteme) und Theorie (theoria) entwickelt hat.“288Voegelin, Anamnesis, S. 318. Selbst die moderne Naturwissenschaft verdankt nach Voegelins Ansicht ihren Wissenschaftscharakter weniger dem Erfolg ihrer Methoden als vielmehr der Tatsache, dass ihre Methoden mit der „Ratio der Noese verträglich sind.“289Voegelin, Anamnesis, S. 318. Erst die Noese legt nämlich die „Welt“, welche wiederum ein sprachlicher Index des Bewusstseins ist, als ein von mythischen und anderen Glaubenselementen gereinigtes Feld für die Bearbeitung durch die Naturwissenschaft frei.290Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 318.
Um über Partizipationserfahrungen angemessen reden zu können, genügen allerdings nicht allein die sprachlichen Indizes, welche diese Erfahrungen selbst ausdrücken. Es ist darüber hinaus eine Art von Begriffen notwendig, mit denen über diese Erfahrungen gesprochen werden kann. Diese Begriffe bezeichnet Voegelin als Typenbegriffe. Als historische Beispiele für Typenbegriffe führt Voegelin die Ausdrücke „philodoxos“ und „sophistes“ von Platon und die Ausdrücke „philosophos“ und „philomythos“ von Aristoteles an. Unter seinen eigenen Begriffen rechnet Voegelin unter anderem die Begriffe der „kompakten und differenzierten Erfahrungen“ und der „noetischen und revelatorischen Transzendenzerfahrungen“ zu den Typenbegriffen.291Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 319. Die Erforderlichkeit von Typenbegriffen wird besonders dann akut, wenn infolge geistesgeschichtlicher Differenzierungsprozesse die kompakteren Partizipationserfahrungen in eine Rolle relativer Unwahrheit gedrängt werden, so dass ihr symbolischer Selbstausdruck nicht mehr zählt und Begriffe gefunden werden müssen, um die kompakten Erfahrungen angemessen bezeichnen zu können.
Im Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung von Partizipationserfahrungen kommt Voegelin auf das Problem der Beziehung des überindividuellen Prozesses der Geschichte zum individuellen Bewusstsein zu sprechen, welches nach Voegelins Auffassung durch seine Transzendenzerfahrungen der Träger dieses Prozesses ist. Für Voegelin gibt es Bewusstsein ausschließlich in der Form des konkreten Bewusstseins einzelner Individuen. Es ist „diskret real“.292Voegelin, Anamnesis, S.320. Wie können aber die individuellen Transzendenzerfahrungen der vielen diskret realen Bewusstseine innerhalb eines sinnhaften historischen Prozesses oder Feldes der Geschichte verortet werden, von dessen Existenz Voegelin nach wie vor überzeugt ist?293Auch nachdem Voegelin die Auffassung einer linearen Geschichtsentwicklung aufgegeben hat (Vgl. Eric Voegelin: Historiogenesis, in: Voegelin, Anamnesis, S. 79-116.), hält er dennoch daran fest, dass das „Feld der Geschichte“ prozesshaft geordnet ist. (Vgl. Eric Voegelin: Ewiges Sein in der Zeit, in: Voegelin, Anamnesis, S. 254-280.) Voegelin beantwortet diese Frage damit, dass in den Transzendenzerfahrungen der vielen Bewusstseine stets ein und derselbe transzendente Seinsgrund erfahren wird: „Geschichte wird zu einem strukturell verstehbaren Feld der Realität durch die Präsenz des einen Grundes, an dem alle Menschen partizipieren...“.294Voegelin, Anamnesis, S. 320. Keinesfalls kann dagegen die Geschichte (wie etwa bei Hegel) als die Entfaltung eines kollektiv-überindividuellen oder gar absoluten Bewusstseins verstanden werden, da hierbei vollkommen ignoriert wird, dass Bewusstsein nur als das Bewusstsein einzelner Menschen vorkommt.295Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 320-321.
Schließlich weist Voegelin noch auf die problematischen Folgen hin, die aus dem unsachgemäßen Gebrauch von Typenbegriffen entstehen. Typenbegriffe dürfen, so scheint es Voegelin aufzufassen, legitimerweise nur dann eingesetzt werden, wenn ihr Gebrauch durch eine eigene noetische Erfahrung gedeckt ist, durch welche allein die weniger differenzierten Erfahrungen richtigerweise als Typen von relativ geringerem Wahrheitsgrad erkannt werden können. Dazu muss außerdem hinter jedem Typus die je eigene Erfahrungsgrundlage dieses Typus erkannt werden. (Voegelin greift hier auf das bereits in der „Neuen Wissenschaft der Politik“ entwickelte Prinzip zurück, dass die Erfahrungen und nicht die Ideen „die Substanz der Geschichte“ bilden.) Die Vernachlässigung dieser Prinzipien führt nach Voegelins Ansicht zu unersprießlichen Dogmenstreitereien zwischen sich gegenseitig typisierend einordnenden Meinungen, die bis zum allgemeinen Ideologieverdacht ausarten können, ohne dass jemals die entscheidende Ebene der Transzendenzerfahrungen auch nur in den Blick gerät.296Vgl. Voegelin, S. 321-323. Voegelin gesteht sich nicht ein, dass seine Theorie auch nur eine weitere Position in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung der Theorien darstellt (was auch dann der Fall wäre, wenn sie tatsächlich und als einzige von allen Theorien wahr wäre), und dass er durch seine polemischen Ausfälle selbst nicht wenig zum allgemeinen Ideologieverdacht beiträgt.
E. Kritik von Voegelins Sprachtheorie
Die Theorie der sprachlichen Indizes erweist sich in vielerlei Hinsicht als höchst unglaubwürdig und zweifelhaft. Dies beginnt schon mit den Voraussetzungen der Theorie: Voegelins Theorie der sprachlichen Indizes stellt eine Theorie über die Bedeutung bestimmter sprachlicher Ausdrücke dar. Sie besagt, dass bestimmte sprachliche Äußerungen, obwohl sie von ihrer Form her Aussagen über Gegenstände sind, dennoch eine andere Bedeutung haben, die Bedeutung eines reinen Ausdruckes von inneren Bewusstseinserfahrungen. Warum wird aber der Ausdruck von inneren Erlebnissen in die Form gegenständlicher Aussagen gepresst? Voegelins Antwort lautet: Das Bewusstsein ist gegenständlich, und weil das Bewusstsein gegenstandsförmlich ist, können Bewusstseinserfahrungen nicht anders als in der uneigentlichen Form gegenständlicher Aussagen artikuliert werden. Gegen diese Antwort liegen die Einwände jedoch auf der Hand: Ungeachtet der Gegenstandsförmlichlichkeit oder Nicht-Gegenstandsförmlichkeit des Bewusstseins ist es ohne Weiteres möglich, den Ausdruck von Erfahrungen als solchen sprachlich kenntlich zu machen und von Aussagen über Dinge zu unterscheiden, indem man z.B. Sätze von der Form „Ich hatte die Erfahrung, dass...“ oder „Ich hatte ein Gefühl, als ob...“ bildet. Voegelin macht es ja selber vor, wenn er in der weiter oben bereits zitierten Passage297Siehe Seite schreibt: „Vom zeitlichen Pol her wird die Spannung als ein liebendes und hoffendes Drängen zur Ewigkeit des Göttlichen erfahren“.298Voegelin, Anamnesis, S. 265. Niemand wird das als eine gegenständliche Aussage missverstehen. Wie dieses Beispiel gleichfalls vor Augen führt, wird die Möglichkeit, Erfahrungen als Erfahrungen sprachlich zu artikulieren, auch nicht durch die „gegenständliche“ Subjekt-Prädikats-Form eingeschränkt, welche die Grammatik den Sätzen unserer Sprache vorschreibt.299Derartiges deutet Voegelin in seinem Aufsatz „Ewiges Sein in der Zeit“ an, worin die Theorie der sprachlichen Indizes ebenfalls angesprochen wird. Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 266. Abgesehen von diesen Einwänden kann es gar nicht ohne Weiteres als ausgemacht gelten, dass das Bewusstsein in jeder Hinsicht als gegenstandsförmlich aufzufassen ist. Zwar haben die meisten Bewusstseinsvorgänge (z.B. Wahrnehmen, Denken, Fühlen) die Form intentionaler Akte, indem sich in ihnen ein Subjekt durch einen Bewusstseinsakt auf einen Gegenstand des Bewusstseins bezieht. Aber wie verhält es sich beispielsweise mit Stimmungen? Zudem wäre es auch gar nicht ausdenklich, wie ein rein gegenstandsförmliches Bewusstsein Transzendenzerfahrungen haben könnte, sofern diese Erfahrungen ungegenständlich sind.
Doch Voegelin geht nicht nur von falschen Voraussetzungen aus. Seine Theorie wirkt auch deshalb unglaubwürdig, weil er sich selbst nicht an die von ihm gezogenen Grenzen hält. So bestreitet Voegelin zwar entschieden, dass eine Diskussion über die Existenz von immanenter Welt und transzendentem Sein als Entitäten sinnvoll ist, aber wenn das transzendente Sein als reiner Index des Bewusstseins verstanden werden müsste, dann wäre Voegelins Realitätsbegriff in der zuvor von ihm beschriebenen Form kaum noch haltbar. Voegelin behauptet ja gerade, dass die Realität des Partizipierens (am transzendenten Seinsgrund) auch dann noch bestehen bleibt, wenn die Erfahrung des Partizipierens verlorengegangen ist oder geleugnet wird. Wenn aber der Seinsgrund nur Index des Bewusstseins wäre, dann würde es auch kein Partizipieren ohne die Bewusstseinserfahrung des Partizipierens geben können.
Schon von vornherein ließe sich gegen die Theorie der sprachlichen Indizes eben jener ontologische Vorbehalt geltend machen, den Voegelin am Ende seines Aufsatzes „Zur Struktur des Bewußtseins“ gegenüber der reinen Bewusstseinsphilosophie vertritt, dass es in erster Linie auf das Sein und nicht auf das Bewusstsein ankommt.300Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 56. Wie leicht sich Voegelins Theorie der sprachlichen Indizes aushebeln lässt, wenn man die Indizes als Kennzeichnung reiner Erfahrungsbereiche auf\/fasst, kann an Voegelins Behauptung demonstriert werden, dass man den Menschen innerhalb einer philosophischen Anthropologie nicht angemessen als welt-immanentes Wesen verstehen könne. Diese Behauptung stellt sich bei genauerem Hinsehen als weit anspruchsloser heraus, als sie auf den ersten Blick erscheint. Denn da „welt-immanent“ für Voegelin lediglich ein Index der Erfahrung ist, so beinhaltet diese Behauptung nur, dass nicht geleugnet werden darf, dass es Menschen gibt, die innere Erlebnisse haben, zu deren Ausdruck sie sich genötigt fühlen, Worte wie „immanent“ und „transzendent“ zu verwenden.301Für den Fall, dass Voegelin so interpretiert werden müsste, dass nach seiner Theorie alle Menschen Transzendenzerlebnisse hätten, kann statt „daß es Menschen gibt, die innere Erlebnisse haben‚...“ genausogut „daß alle Menschen innere Erlebnisse haben‚...“ eingesetzt werden. Das nachfolgende Argument bleibt dann immer noch gültig. Allerdings hätte dann auch der Materialist, der das transzendente Sein leugnet Transzendenzerlebnisse, was ihn jedoch nicht hindern muss ihre Wirklichkeit zu leugnen. Dies nicht zu leugnen dürfte allerdings auch dem hartgesottensten Materialisten keinerlei Sorgen bereiten, da er dadurch ja noch längst nicht genötigt ist zuzugeben, dass es ein transzendentes Sein tatsächlich gibt. Ja er könnte unter Berufung auf Voegelins Theorie der sprachlichen Indizes sogar ausdrücklich darauf verweisen, dass es illegitim sei, von einer inneren Erfahrung, die als Erfahrung von Transzendenz sprachlich indiziert wird, auf die Existenz eines transzendenten Seins zu schließen. Voegelins Theorie gleicht daher – um ein Bild von Schopenhauer zu entlehnen – einer Grenzfeste, die zwar uneinnehmbar ist, deren Besatzung aber auch nicht in der Lage ist auszubrechen, so dass man sie getrost im Hinterland zurücklassen kann.
Wenn die sprachlichen Indizes überhaupt irgendeinem Zweck dienen sollen, so sind wir also gezwungen, hinter ihnen die Existenz von Entitäten anzunehmen, auf welche sie verweisen. Voegelins Theorie der sprachlichen Indizes hätte dann immer noch dadurch ihren guten Sinn, dass sie es verbietet, sich bei der Diskussion über die Indizes von den Erfahrungen zu lösen, in denen diese Entitäten mutmaßlich zum Vorschein kommen. Zur erkenntnistheoretischen Rechtfertigung von Aussagen über die Transzendenz taugt die Theorie der sprachlichen Indizes dann allerdings nicht mehr.
Kaum noch rechtfertigen lässt sich Voegelins Theorie der sprachlichen Indizes jedoch dort, wo seine Indizes mit herkömmlichen Begriffen konkurrieren, wie dies bei dem Begriff der Wissenschaft der Fall ist. Zwar ist es erfreulich zu hören, dass die Methoden der modernen Naturwissenschaft „mit der Ratio der Noese verträglich sind“.302Voegelin, Anamnesis, S. 318. Aber da das Gelingen der Naturwissenschaft selbstverständlich in keiner Weise davon abhängt, ob ihre Methoden mit der bewusst gewordenen existentiellen Spannung zum Grund vereinbar sind, so ist es – jedenfalls soweit es um die Naturwissenschaften geht – wenig sinnvoll, die Definition des Begriffes Wissenschaft an die „Platonisch-Aristotelische Noese“ zu knüpfen, zumal sich die experimentelle Naturwissenschaft von der platonischen und aristotelischen episteme sehr erheblich unterscheidet. Nicht ganz unzweifelhaft erscheint auch die These, dass die Beseitigung „mythische[r], revelatorische[r] oder ideologische[r] Wahrheitshypotheken“303Voegelin, Anamnesis, S. 318. durch die Noese eine historische Ermöglichungsbedingung der Naturwissenschaft darstellt. Die Anfänge der Naturwissenschaft fallen bereits in prä-noetische Zeit. So wurde die Entwicklung der Astronomie durch das kosmologische Weltbild nicht etwa behindert, sondern eher noch gefördert. Und bereits am Beispiel des Thales lässt sich – stellvertretend für die Vorsokratiker insgesamt – veranschaulichen, dass die Entgöttlichung der Welt, anders als dies gelegentlich zu hören ist‚304Vgl. Eric Voegelin: Die geistige und politische Zukunft der westlichen Welt (Hrsg. von Peter J. Opitz und Dietmar Herz), München 1996, S. 26/27. keine notwendige Voraussetzung für die Entfaltung unbefangenen naturwissenschaftlichen Forschergeistes darstellt, denn Thales hinderte die Überzeugung, dass alles von Göttern erfüllt sei, nicht daran, dieser Deutung die materialistische Erklärung hinzuzufügen, dass alles auf und aus Wasser sei. Monotheismus oder Atheismus ist entgegen der Entgöttlichungsthese keinesfalls eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung von Wissenschaft.
Aber auch wenn man sich nicht auf die Naturwissenschaften beschränkt, so kann Voegelins Definitionsversuch, nach welchem Wissenschaft dasjenige ist, was sich als „das Strukturwissen von Realität“ infolge der sich historisch ereignenden „Selbsterhellung des Bewußtseins“ selbst entdeckt‚305Voegelin, Anamnesis, S. 318. nicht ohne Weiteres überzeugen. Ob irgendeine menschliche Erkenntnisaktitivität als Wissenschaft eingestuft werden kann oder nicht, hängt weder von dem Selbstverständnis derjenigen ab, die diese Aktivität ausüben (auch Alchemisten, Astrologen und Naturheiler hielten und halten sich schließlich für Wissenschaftler), noch hängt es von den historischen Rahmenbedingungen ab, unter denen diese Erkenntnisaktivität entstanden ist. Entscheidend ist einzig und allein die Frage, ob bei dieser Erkenntnisaktivität eine Welterkenntnis von objektiver und nachprüfbarer Gültigkeit herauskommt. Eine Vorentscheidung über ein bestimmtes, etwa mathematisch-naturwissenschaftliches Wissenschaftsmodell ist mit diesem Kriterium noch nicht getroffen, so dass Voegelins Vorbehalten gegenüber einer zu engen Wissenschaftsauf\/fassung Rechnung getragen werden kann. Nur wenn die historische episteme des Aristoteles nicht schon per definitionem mit Wissenschaft gleichgesetzt wird, lässt sich außerdem die wichtige wissenschaftshistorische Frage aufwerfen, ob und in welchem Maße die aristotelische episteme tatsächlich Wissenschaft ist.
Auf die Fragwürdigkeit der noetischen Definition von Voegelins Begriff der Geschichte wurde bereits im vorhergehenden Abschnitt hingewiesen. Voegelins Vorwurf gegen die hegelianischen Geschichtskonstruktionen, dass sie fälschlicherweise ein reales Kollektivbewusstseins zu Grunde legen würden, während Bewusstsein in Wirklichkeit nur „diskret real“ vorkomme, ist dagegen vollkommen berechtigt. Nur stellt sich die Frage, ob Voegelin nicht seinerseits auf einer anderen Ebene den hegelianischen Geschichtskonstruktionen nahekommt, wenn er darauf besteht, dass „Geschichte .. zu einem strukturell verstehbaren Feld der Realität durch die Präsenz des einen Grundes“306Voegelin, Anamnesis, S.320. – Vgl. auch Voegelin, Order and History IV, S.305. wird, welches sich nicht in Einzelvorstellungen auflösen ließe. Hier ist anzumerken, dass erstens nach wie vor jeder Anhaltspunkt für die Richtigkeit der Annahme fehlt, dass es einen transzendenten Seinsgrund gibt, und dass dieser ein einziger ist. Zweitens operiert Voegelin mit der falschen Alternative, dass entweder ein gemeinsamer Grund existieren müsse, oder nur „jeder ein privates – im klassischen Sinne von ‘idiotisches’ – Bewußtsein für sich selbst“307Voegelin, Anamnesis, S.320. hätte. Auch wenn es keinen gemeinsamen transzendenten Seinsgrund gibt, so können doch die diskret realen „Bewusstseine“ durch Miteinander-Reden, durch Einfühlung, Mitleid und teilnehmende Freude, durch gemeinsame Erlebnisse und gemeinsames Handeln auf das Schönste zu einander in Kontakt treten. Und drittens bleibt hinsichtlich der Bedeutung der Geschichte für den Menschen und die Menschheit anzumerken, dass, solange in der Geschichte nicht irgendeine Form religiöser Erbauung gesucht wird‚308Vgl. dazu Poppers an den Theologen Karl Barth anknüpfende Kritik der theogonischen Geschichtsdeutung, in: Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feine. Band II. Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen, 7.Aufl., Tübingen 1992, S. 316-328. niemandem etwas entgeht, wenn sich herausstellt, dass Geschichte kein „Feld der Realität [ist] ..., an dem alle Menschen partizipieren“.309Voegelin, Anamnesis, S. 320.
Im Ganzen stellt Voegelins Theorie der Indizes ein sehr fragwürdiges Unterfangen dar. Sie geht nicht nur von falschen Voraussetzungen bezüglich der Natur des menschlichen Bewusstseins und der Sprache aus, sondern sie führt als ein Verfahren der Begriffsklärung oft zu recht willkürlichen Definitionen zentraler Begriffe wie z.B. Wissenschaft, Geschichte, Rationalität, Realität. Es fällt nicht leicht, sich hierbei des Eindrucks zu erwehren, dass Voegelin versucht, höchst strittige Sachfragen (wie z.B. ob Rationalität in der Spannung zum Grund besteht, ob Realität in erster Linie spirituelle Realität ist, ob Geschichte sich nicht in der Zeit sondern in der Bewusstseinsdimension des Begehrens und der Suche nach dem Grund abspielt etc.) durch Definitionen vorzuentscheiden und ihre Diskussion dadurch zu verhindern, dass er von vornherein alle zentralen Begriffe für sich reklamiert, so dass die Formulierung von Kritik erheblich erschwert wird.
F. Die Stufen des Ordnungswissens
Im vierten, mit „Die Spannungen in der Wissensrealität“310Voegelin, Anamnesis, S. 323. betitelten Abschnitt seines Aufsatzes untersucht Voegelin die Beziehung zwischen den verschiedenen Stufen des Ordnungswissens, wozu die pränoetische, die noetische und die Verfallsstufe des Wissens von der richtigen Ordnung zählen.
Nachdem Voegelin in einer kurzen Einleitung noch einmal auf die Weisen des Ordnungswissens und ihre gegenseitige Beziehung im Prozess der noetischen Differenzierung eingegangen ist, stellt er zunächst in groben Zügen die historische Entwicklung von prä-noetischem über das noetische Ordnungswissen bis hin zur Entgleisung des Ordnungswissens in der Gegenwart dar. Daraufhin erörtert Voegelin ausführlich, wie seiner Ansicht nach das verlorengegangene Ordnungswissen in der Gegenwart wieder hergestellt werden kann. Als Letztes geht Voegelin mit dem mystischen Denken Jean Bodins und Henri Bergsons auf zwei mögliche historische Anknüpfungspunkte jüngeren Datums zur Wiedergewinnung des Ordnungswissens ein.
Wie bereits ausgeführt, tritt Ordnungswissen Voegelin zufolge zunächst in einer prä-noetischen, mythischen Form auf. Durch die Noese wird das prä-noetische Ordnungswissen ergänzt und vertieft. Erst auf der Stufe des noetischen Ordnungswissens wird sich der Mensch seiner Existenz in der „Spannung zum Grund“ bewusst, so dass das Ordnungswissen nun einer expliziten Kontrolle aus dem Wissen um die „Spannung zum Grund“ heraus unterliegt („explizit-rationale Kontrolle“311Voegelin, Anamnesis, S. 325. – Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass Voegelin in dieser Passage (S. 323-325.) den Ausdruck „rational“ doppeldeutig gebraucht: einmal im Sinne seiner Definition von "Ratio“ als „der Spannung des Bewußtseins zum Grund“ (S. 289.), dann aber auch in dem (dem gewöhnlichen Wortgebrauch näherkommenden) Sinn von „begriffliches Wissen“ bzw. „begriffliches Denken“.). Unter Rückgriff auf das bewusst gewordene Wissen von der „Spannung zum Grund“ ist es zwar möglich, das prä-noetische oder auch das entgleiste Ordnungswissen in Frage zu stellen. Dennoch bleibt das noetische Ordnungswissen auf die prä-noetischen Wissensbestände, die es erweitert aber nicht ersetzt, sachlich angewiesen. Auch auf der gesellschaftlichen Ebene, wo sich das noetische zum kompakten Ordnungswissen ähnlich wie die Theologie zum Volksglauben verhält, kann es das prä-noetische Wissen niemals gänzlich verdrängen.312Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 323-325.
Die historische Entwicklung des Ordnungswissens, die Voegelin im folgenden skizziert, kann als eine Bewegung in dialektischen Dreischritten gedeutet werden: Auf eine Phase heilen Ordnungswissens prä-noetischer oder noetischer Art folgt als deren Antithese eine dogmatische Entgleisung oder, wie Voegelin auch sagt, eine „Parekbasis“ falschen Ordnungswissens, welche dann durch die Noese aufgehoben wird. Aber auch das noetische Ordnungswissen entgleist zum Dogmatismus, so dass eine weitere Noese – denn ein höheres als das noetische Ordnungswissen gibt es nicht – vonnöten ist, die wiederum diese Entgleisung aufhebt.
In dieser Weise folgt nach Voegelins Geschichtsbild auf die griechische Mythologie und die „Parekbasis der Sophistik“ die „klassische Noese“313Voegelin, Anamnesis, S. 325. der nach-sokratischen Philosophie. Nicht zuletzt, weil sie politisch mit der Polisgesellschaft für das in den Eroberungszügen Alexanders des Großen unterlegene Modell optierte, war der klassischen Noese kein langfristiger Erfolg beschieden, und sie entgleiste ihrerseits „zur philosophischen Dogmatik der Schulen“.314Voegelin, Anamnesis, S. 326. Obwohl zur „Dogmatik der Schulen“ herabgesunken, taugte – wenn man Voegelins Worten Glauben schenken darf – das als „Parekbasis einer Noese ... charakterisierte Phänomen“315Voegelin, Anamnesis, S. 326. dennoch dazu, gegenüber der jüdisch-christlichen Offenbarungsreligion als „Repräsentant der Noese“316Voegelin, Anamnesis, S. 326. zu fungieren. Da im jüdisch-christlichen Kontext der Übergang von der vor-noetischen Offenbarungsweisheit zum noetischen Ordnungswissen weniger schroff verlief, kam es dabei nicht wie im antiken Griechenland zum radikalen Bruch mit dem traditionellen Ordnungswissen. Vielmehr verschmolz die Philosophie mit dem traditionellen Ordnungswissen der Offenbarung zur Theologie. In dieser Form hat die Noese zwar bei der Bekämpfung der Häresien (zu der Voegelin schon in früheren Schriften der katholischen Kirche das volle historische Recht zuerkennt317Vgl. Eric Voegelin: Das Volk Gottes. Sektenbewegungen und der Geist der Moderne (Hrsg. von Peter J. Opitz), München 1994, S. 31-34. – Voegelin setzt in dieser Schrift recht kritiklos voraus, dass die katholische Kirche objektiv die Wahrheit des Geistes verkörpert. Eine legitime Auflehnung gegen die katholische Kirche ist dann kaum noch denkbar. Allerdings hätte die katholische Kirche seiner Ansicht nach besser daran getan, sich die Häresien einzuverleiben, als sie gewaltsam zu bekämpfen.) Großes geleistet, aber zugleich stand sie der Entwicklung der Naturwissenschaften und einer von der religiösen Orthodoxie unabhängigen Geschichtsdeutung („Freilegung der Realitätsbereiche von Welt und Geschichte“318Voegelin, Anamnesis, S. 327.) im Wege. Dadurch hat sie nicht wenig dazu beigetragen, jene Revolte gegen den Grund heraufzubeschwören, welche in Voegelins Augen das charakteristische Merkmal der Neuzeit ist. Da bisher die neuzeitliche Auseinandersetzung mit der Theologie als „Spiel von dogmatischer Position und Opposition“319Voegelin, Anamnesis, S. 327. und somit auf einer reinen Parekbasis ohne mystischen Erfahrungsgehalt stattgefunden hat, ist nun der nächste historisch-dialektische Schritt zu leisten, durch welchen das noetische Ordnungswissen wiederhergestellt wird.
Die Wiederherstellung des noetischen Ordnungswissens gestaltet sich deshalb so schwierig, weil sie nicht auf der Ebene der Dogmatik in den Streit mit der „Revolte gegen den Grund“ eintreten darf, sondern sich durch die Neu-Erschließung des Bewusstseins als dem Ordnungszentrum über alle Dogmatik erheben muss. Zur „Revolte gegen den Grund“ rechnet Voegelin die verschiedensten philosophisch-weltanschaulichen Strömungen der Gegenwart. Wörtlich zählt er „die Ideologien des Positivismus, Marxismus, Historismus, Szientismus, Behaviorismus, .. Psychologisieren und Soziologisieren, .. welt-intentionale Methodologien und Phänomenologien“320Voegelin, Anamnesis, S. 328. auf. Alle diese geistigen Strömungen dienen seiner Ansicht nach vor allem einem Zweck: Das Empfinden für die existenzielle Spannung zum Grund im eigenen Inneren abzutöten, und durch die Entwicklung einer „Obsessivsprache“ zu verhindern, dass die Frage nach dem Grund überhaupt aufkommen kann. Nach Voegelins Überzeugung gibt es in diesen geistigen Strömungen nichts, woran es sich im Interesse des noetischen Ordnungsdenkens lohnt anzuknüpfen. Immerhin räumt Voegelin später ein, dass der „ideologische[n] Revolte“ historisch gesehen eine wertvolle Funktion im Kampf gegen den „Sozialterror der [theologischen] Orthodoxie“321Voegelin, Anamnesis, S. 329. zukam.
Die Abkehr von der „Revolte gegen den Grund“ wird nach Voegelins Einschätzung bislang überwiegend von diversen Traditionalismen und Konservativismen getragen. In einem weiteren großen Rundumschlag zählt Voegelin hier einen ganzen Reigen von rechts-liberalen bis konservativen Erneuerungsbewegungen seiner Zeit auf. Alle diese Erneuerungsbewegungen leiden nach Voegelins Ansicht allerdings darunter, dass sie versuchen, die „Revolte gegen den Grund“ auf der gleichen Ebene zu bekämpfen, weshalb Voegelin sie auch als „Sekundärideologien“ (zu den Primärideologien der „Revolte gegen den Grund“) bezeichnet. Ihr oberflächliches Vorgehen führt dazu, dass die Sekundärideologien lediglich zu älteren Dogmatiken zurückkehren. Aber nicht zuletzt deshalb, weil die Revolte sich teilweise zu Recht gegen die älteren Dogmatiken aufgelehnt hat, darf die Umkehr nicht bloß eine Rückkehr sein, sondern sie muss zur „Wissensrealität“ der bewusst gemachten existentiellen „Spannung zum Grund“ vordringen.322Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 329.
Woran soll man aber dann anknüpfen, wenn der Rückbezug auf die Tradition nur wieder in eine „Sekundärideologie“ mündet? Eine Möglichkeit besteht für Voegelin darin, sich am Vorgehen des schon einmal als Vorbild angeführten Albert Camus zu orientieren, der auf die griechische Mythologie zurückgeht.323Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 312-313. Nach Voegelins Interpretation bedient sich Camus deshalb des griechischen Mythos, weil im „ ‘Blödsinn’ der Zeit .. keine Heimat für den Menschen“324Voegelin, Anamnesis, S. 330. zu finden ist. Camus’ Lebensweg, der sich in Voegelins Deutung ein wenig wie das Gleichnis vom verlorenen Sohn ausnimmt, führt beispielhaft die Entwicklung von der Revolte „gegen die Präsenz des Lebens in der Spannung zum göttlichen Grund“325Voegelin, Anamnesis, S. 330. bis zur demütigen Wiedereinkehr in ein Leben, „geordnet durch die liebende Spannung der Existenz zum göttlichen Grund“326Voegelin, Anamnesis, S. 313. vor. Zwar hat Camus das letzte Stadium nicht mehr erreichen können (da er vorher durch einen Autounfall ums Leben kam), aber Voegelin glaubt dennoch den Tagebüchern von Camus mit einiger Sicherheit entnehmen zu können, welchen Fortgang dessen geistige Entwicklung genommen hätte.327Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 312, S. 330.
Nicht weniger schwierig als die individuelle Umkehr stellt sich das Problem dar, wie die Politische Wissenschaft wieder auf den richtigen Weg gebracht werden kann. Von der Politischen Wissenschaft, wie sie an den Universitäten überwiegend betrieben wird, ist nach Voegelins Auffassung wenig zu erwarten, da diese Politische Wissenschaft sich vorwiegend mit den verschiedenen politischen Institutionen der Gegenwart beschäftigt, welche nach Voegelins Ansicht sämtlich vom falschen Ordnungsverständnis durchseucht sind. Von welcher Seite dürfen dann aber Antworten auf die Fundamentalfragen politischer Ordnung erhofft werden? Voegelin glaubt, dass Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen noch am ehesten in der schönen Literatur bei Autoren wie z.B. Robert Musil und Hermann Broch oder, als Alternative und zur Ergänzung der schönen Literatur, in den Altertumswissenschaften zu finden sind, da sich die Altertumswissenschaften mit den noch unverdorbenen prä-dogmatischen Wissensrealitäten beschäftigen. Voegelin vertritt die Ansicht, dass die wissenschaftliche Untersuchung prä-dogmatischer Ordnungssymbole „eine Bewegung auf die Noese hin“328Voegelin, Anamnesis, S. 332. herbeiführt. Die florierenden Altertumswissenschaften künden daher nach seiner optimistischen Überzeugung von einer Gegenbewegung historischen Ausmaßes gegen die dogmatischen Scheinrealitäten. Voegelin räumt allerdings ein, dass „die Bewegung noch nicht bewußt zentriert ist.“329Ebd. Nichts desto trotz erwartet Voegelin für die Zukunft bedeutsame „Durchbrüche“ zur Noese, wenn er auch verständlicherweise keine genauen Vorhersagen darüber riskiert, wann genau und wo sich diese Durchbrüche ereignen werden.
Zu guter Letzt geht Voegelin noch auf die wichtigsten historischen Residuen der Noese ein. Diese sind seiner Ansicht nach im klassischen Altertum und in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Mystik zu finden.330Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 333. Hinsichtlich der klassischen Noese entwickelt Voegelin nur noch einmal die Genese ihres Missverständnisses als dogmatische Metaphysik, ohne die klassische Noese selbst ein weiteres Mal zu behandeln. Als bedeutsame Vertreter der Mystik erwähnt Voegelin Jean Bodin und Henri Bergson, wobei Voegelin jedoch nur auf Bodin ausführlich eingeht.
Das Verständnis der klassischen Philosophie wird nach Voegelins Ansicht erheblich durch die anti-metaphysische Einstellung der neuzeitlichen Philosophie getrübt. Die Anwendung der neuzeitlichen Metaphysikkritik auf die klassische Philosophie beruht jedoch auf einem Missverständnis. Nicht nur wurde das unter dem Titel „Metaphysik“ bekannte Werk des Aristoteles erst sehr viel später so genannt‚331Der Titel „Metaphysik“ stammt von Andronikus von Rhodos, der im 1. Jh. v. Chr. die Werke des Aristoteles herausgab. Er betitelte das Werk, in dem Aristoteles seine prima philosophia entwickelt, als „Metaphysik“, weil es auf das Buch der „Physik“ folgte. Vgl. den Artikel über Metaphysik von Th. Kobusch in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 5: L-Mn, Basel / Stuttgart 1980, S. 1186-1279 (S. 1188). auch die Entwicklung des Terminus „Metaphysik“ als eines philosophischen Fachbegriffs findet, Voegelins Darstellung zufolge, erst im Mittelalter statt. Den bedeutsamsten Beitrag zum dogmatischen Missverständnis der klassischen Philosophie hat Thomas von Aquin geleistet, der, obwohl er nach Voegelins Urteil ebenfalls von größter Offenheit der Seele war, in Aristoteles’ „Metaphysik“ offenbar nicht die Noese eines Co-Noetikers erkannte332Dies ist meine Interpretation. Voegelin geht nicht darauf ein, wie es zu diesem erstaunlichen Missverständnis kommen konnte, wo doch Thomas von Aquin erstens ein großer Kenner der aristotelischen Philosophie und zweitens, so wie Voegelin ihn sonst beurteilt, ein Denker von der gleichen noetischen Erfahrungshöhe wie Aristoteles war. und sie rein dogmatisch als „eine Wissenschaft von primae causae, von principia maxime universalia, und von Substanzen quae sunt maxime a materia speratae“333Voegelin, Anamnesis, S. 333. verstand, wofür der Aristoteles-Kenner Thomas von Aquin von Voegelin, ganz entgegen dessen sonstiger Hochschätzung für diesen mittelalterlichen Gelehrten, scharf kritisiert wird. Nachdem die Metaphysik einmal in dieser Form missverstanden worden war, wurde sie in der Folge als rein dogmatisches Geschäft weiterbetrieben. Es ist daher nach Voegelins Ansicht den aufgeklärten Kritikern der Metaphysik auch gar kein Vorwurf dafür zu machen, dass sie diese Form der Metaphysik angreifen. Nur muss bei der Rezeption der Metaphysikkritik darauf geachtet werden, dass sich die Metaphysikkritik des 18. Jahrhunderts lediglich gegen die dogmatische Metaphysik richten kann, nicht aber gegen die klassische Philosophie. So hatte Kant in erster Linie die Metaphysik Christian Wolffs im Visier, weshalb, wie Voegelin nahelegt, die klassische Philosophie von Kant eher irrtümlicherweise vernachlässigt wird und von seiner Metaphysikkritik in Wirklichkeit unberührt bleibt.334Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 335.
Die mystische Religionsauf\/fassung Jean Bodins geht, Voegelins Deutung zufolge, auf die Neoplatonisten der Renaissance und auf Dionysius Areopagita, insbesondere auf dessen Begriff der conversio, der Hinwendung zu Gott zurück. Im Kern besagt Bodins mystische Religionsauf\/fassung, dass die wahre Religion nicht irgendeine bestimmte religiöse Lehre sei, sondern allein in der Hinwendung zu Gott bestehe. Die Mystik kommt nach Voegelins Interpretation bei Bodin auf zweierlei Weise zum Tragen. Zum einen erlaubt sie ihm, die Geschichte zu verstehen. Zum anderen bildet die mystische Religionsauf\/fassung den Ausgangspunkt für Bodins Bekenntnis zur Toleranz. Nach dem Geschichtsbild, das Voegelin in Bodins „Lettre à Jean Bautru“ ausgesprochen findet, verläuft die Geschichte einzelner Gesellschaften zyklisch, indem zunächst ein von Gott auserwählter Prophet sein Volk durch die Vermittlung von Offenbarungswissen zu neuen Höhen geistiger Wahrheit führt, worauf jedoch, sofern sich das störrische Volk für die prophetische Botschaft überhaupt empfänglich gezeigt hat, im Laufe der Zeit die wahre Religion, die es gelehrt wurde, mehr und mehr zu einem Buchstabenglauben erstarrt. Ein ganz analoges Geschichtsbild findet Voegelin in Bergsons „Deux Sources de la Morale et de la Religion“ wieder.335Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 336-337. Freilich darf bezweifelt werden, ob jenes ein wenig romantische Geschichtsbild, nach welchem das Schicksal eines Volkes oder einer Zivilisation im wesentlichen von der Frische des religiösen Glaubens und der Führung durch erleuchtete Propheten abhängt, wirklich ein starkes Argument für die erkenntnisaufschließende Kraft der Noese darstellt.
Überzeugender wirken dagegen die Konsequenzen, die sich aus der mystischen Religionsauffassung für die Toleranz ergeben. Für Bodin stellt nach der Interpretation, die Voegelin aus dem „Lettre à Jean Bautru“ in Verbindung mit Bodins „Colloquium Heptaplomeres“ gewinnt, der Rückgang auf die Mystik eine Möglichkeit dar, religiöse Toleranz zu begründen. Die Wahrheit der Religion liegt in der mystischen Hinwendung zu Gott selbst. Die göttliche Wahrheit als solche ist unaussprechlich, und jeder sprachliche Ausdruck dieser Wahrheit trägt lediglich behelfsmäßigen Charakter. Da es unsinnig ist, sich im Namen religiöser Dogmen, die bloß sprachliche Notbehelfe sind, zu bekämpfen, ergibt sich aus der Unaussprechlichkeit der Wahrheit Gottes das Gebot der Toleranz.336Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.337. – Voegelins Text bedarf hier ein wenig der Interpretation, da nicht ganz deutlich wird, wie sich das „Wesen der Toleranz“ aus „einer Balance zwischen den Bereichen des Schweigens und des Ausdrucks in der Wissensrealität“ ergibt. Voegelin führt Bodins Gedanken des Unfassbaren (das „Ineffabile“) noch weiter aus, wobei er eine Übereinstimmung mit Thomas von Aquins tetragrammaton (nach Thomas der höchste und umfassendste Gottesname) und mit seiner eigenen Vorstellung von der „existenziellen Spannung zum Grund“ feststellt.337Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 337-338. Dieses Ergebnis verblüfft ein wenig, denn im Hinblick auf Voegelins im ersten Abschnitt seines Aufsatzes entwickelten Realitätsbegriff erscheint die Deckungsgleichtheit von Voegelins und Bodins Vorstellung der mystischen Realität eher fragwürdig: Während sich bei Bodin (nach Voegelins eigener Deutung) das „Ineffabile“ als das eigentlich Wahre von seinem sprachlichen Ausdruck als einem nur unbeholfenen Hinweis deutlich unterscheidet, hat Voegelin zuvor noch mit größtem Nachdruck darauf bestanden, dass die Symbole, die die Realität ausdrücken, den unabtrennbaren Teil eines Gesamtzusammenhanges von Realität bilden, der die Termini des Partizipierens, das Partizipieren selbst und ausdrücklich auch die Symbole umfasst.338Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 305-307.
Weiterhin führt Voegelin aus, dass die „Einsicht in das Wissen vom Ineffabile .. erhebliche Bedeutung für das Verständnis einer großen Klasse von Ordnungsphänomenen“339Voegelin, Anamnesis, S. 338. habe, die über das „Wesen der Toleranz“ noch hinausgehen. So sei es für die kompakte Erfahrung des „Ineffabilen“ charakteristisch, dass die symbolische Ausdrucksform Sakralcharakter gewinne, so dass weitere Differenzierungen der Erfahrungen nur noch als Kommentare zum Sakraltext auftreten könnten. Inwiefern die Feststellung dieses „Ordnungsphänomens“ aus der „Einsicht in das Wissen vom Ineffabile“ fließt, bleibt ein Rätsel, zumal Voegelin schon wenig später feststellt, dass es auch im Bereich der Ideologie das Phänomen ideologischer Klassiker mit „anschließender kommentatorischer und apologetischer Literatur“ gibt.340Vgl. Voegelin, S. 338-340.
G. Kritik von Voegelins Bodin- und Camus-Deutung
Da dies bereits im ersten Teil dieses Buches geschehen ist, erübrigt es sich, an dieser Stelle noch einmal ausführlich auf Voegelins Geschichtsbild und seine polemische Zeitkritik einzugehen. Auch Voegelins Empfehlung an die Politikwissenschaft, das Wissen von politischer Ordnung lieber durch die Lektüre der modernen Klassiker der schönen Literatur oder durch Vertiefung in das Altertum zu erweitern als durch das Studium der politischen Institutionen der Gegenwart, soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Ohnehin ist der Eintritt des von Voegelin prophezeiten großen noetischen Durchbruchs in den dreißig Jahren, die seit der Publikation seines Aufsatzes verflossen sind, bisher ausgeblieben, so dass diese Empfehlungen, die in Antizipation eines solchen Durchbruchs ausgesprochen wurden, nicht mehr allzu aktuell sind.
Ebenfalls keine besonders weittragende Bedeutung kommt Voegelins These zu, dass die Metaphysikkritik der aufklärerischen Philosophie auf einem Missverständnis beruht, soweit sie sich nicht nur gegen die neuzeitliche Metaphysik richtet, sondern auch gegen die klassische Philosophie gewendet wird. Es ist kaum anzunehmen, dass die antike Philosophie, wenn sie, wie Voegelin dies fordert, als Kryptomystik interpretiert worden wäre, in der aufklärerischen Kritik besser abgeschnitten hätte als die Leibniz-Wolffsche Metaphysik oder die Einsichten des „Geistersehers“ Swedenborg.341Vgl. Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, in: Frank-Peter Hansen (Hrsg.): Philosophie von Platon bis Nietzsche, CD-ROM, Berlin 1998, S. 23599ff. / S. 70ff. (Zweiter Teil, Zweites Hauptstück: Ekstatische Reise eines Schwärmers durch die Geisterwelt.) (Konkordanz: Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main 1977. Band 2, S. 970ff.). – Dass die aufklärerisch-positivistische Religionskritik nicht notwendigerweise auf dogmatischen Missverständnissen beruht und daher den Hinweis auf die religiöse Erfahrung keineswegs zu fürchten braucht, verdeutlicht Ayers erkenntnistheoretische Kritik der Berufung auf die religiöse Erfahrung. Vgl. Alfred J. Ayer: Language, Truth and Logic, New York [u.a.] 1982, S.157-158. – Zur Ersetzung der Religion durch die reine Religiosität in der modernen Religionsapologetik seit Schleiermacher: Vgl. Hans Albert: Kritischer Rationalismus. Vier Kapitel zur Kritik illusionären Denkens, Tübingen 2000, S. 147ff.
Lohnender erscheint es, auf Voegelins Deutung der Vorbilder Camus und Bodin einzugehen. Führt Camus’ Lebensweg tatsächlich jene Entwicklung von der Auflehnung gegen Gott bis zur demütigen Unterwerfung unter Gott vor, die Voegelin mit solchem Entzücken registriert? Liefert Bodins mystische Religiosität wirklich eine optimale Begründung der Toleranz?
Legt man für die Interpretation von Camus’ geistiger Entwicklung seine beiden großen Essays „Der Mythos von Sisyphos“342Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Hamburg 1998 (zuerst 1942), im folgenden zitiert als: Camus, Mythos von Sisyphos. und der „Mensch in der Revolte“343Albert Camus: Der Mensch in der Revolte. Essays, Hamburg 1997 (zuerst 1951), im folgenden zitiert als: Camus, Mensch in der Revolte. zu Grunde, so ergibt sich das Bild einer Entwicklung, die weniger dramatisch verläuft, als sie bei Voegelin erscheint. Die metaphysische Auflehnung, von der der „Mythos von Sisyphos“ handelt, richtet sich gegen die Absurdität der Welt, sie richtet sich nicht primär gegen Gott, und die Absurdität ist auch kein Resultat der Abwesenheit Gottes, die durch den Glauben behoben werden könnte. Gott ist ebenso eine Lüge wie all die falschen Tröstungen, bei denen die verschiedenen existenzialistischen Philosophien am Ende doch wieder herauskommen.344Vgl. Camus, Mythos von Sisyphos, S. 39ff. Der Glaube, so könnte man sagen, ist ein Beruhigungsmittel für den Geist, welches der am Leben Leidende stolz verschmäht. Nicht umsonst erwählt Camus den Empörer Sisyphos zum Helden seines Essays.
Welche Entwicklung findet nun im Übergang zu „Der Mensch in der Revolte statt“? Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Essays besteht darin, dass der „Mythos von Sisyphos“ ein rein metaphysisches Thema behandelt: den Menschen in der Auseinandersetzung mit der absurden Welt. „Der Mensch in der Revolte“ erweitert diese Thematik ins Politische, was natürlich Konsequenzen für die Deutung des Absurden nach sich zieht. Angesichts des philosophisch gerechtfertigten Massenmordes, wie er sich in den totalitären Staaten vollzog, war Camus seine Philosophie des Absurden, deren stolzer Individualismus auch eine Gleichgültigkeit gegen die Moral implizierte, offenbar nicht mehr geheuer.345Vgl. Camus, Mensch in der Revolte, S. 9-18 (Einleitung: Das Absurde und der Mord). Es kommt zwar nicht zu einer Revision, wohl aber zu einer Präzisierung seines früheren Standpunktes. Zu der Auflehnung tritt das Bewusstsein der humanen Verantwortlichkeit hinzu. Die Auflehnung ist nun nicht mehr eine Auflehnung gegen die metaphysische Unsinnigkeit der Welt, die sich aus Kontingenzerfahrungen speist, sondern sie wandelt sich zur Revolte gegen die Unsinnigkeit menschlichen Leidens, deren Ursprung recht konkrete moralische und politische Erfahrungen sind.
„Der Mensch in der Revolte“ stellt daher auch in erster Linie eine philosophische Auseinandersetzung mit der linksgerichteten Variante des Totalitarismus und eine scharfe Abrechnung mit dessen intellektuellen Verherrlichern im Westen dar. Den Kommunismus deutet Camus als Ausfluss von Nihilismus und Gottesmord.346Vgl. Camus, Mensch in der Revolte, S. 154ff. In diesen Punkten berührt sich Camus’ Deutung am stärksten mit der Theorie Voegelins und anderen christlichen-religiösen Erklärungen des Totalitarismus. Allerdings handelt es sich dabei um eine der weniger überzeugenden Passagen von Camus’ Essay. Kein Kommunist oder Sozialist muss sich getroffen fühlen, wenn Camus der kommunistischen Revolution eine Genealogie von Nihilisten und Dandys unterschiebt. Der Kommunismus war kein Nihilismus. Er trat mit handfesten materiellen Glücksversprechungen an, und es können kaum die Motive einer exklusiven künstlerischen Bohème gewesen sein, die ihm seine Massenunterstützung sicherten. Hier entsteht bei Camus ein politisches Weltbild, das zusammengesetzt ist aus literarischen Referenzen – ähnlich, wie zuweilen bei Voegelin. Trotz dieser Schwächen behält Camus in der Sache recht. Im Jahre 1951 konnte man unmöglich noch den Kommunismus (und gar den Kommunismus stalinscher Prägung) unterstützen, der seinen Kredit durch das Scheitern seiner Prophezeiung und noch mehr durch seine Verbrechen längst verspielt hatte, auch wenn es noch nicht jeder wahrhaben wollte.347Vgl. Camus, Mensch in der Revolte, S. 238ff. – Als Beispiel einer sehr weitgehenden intellektuellen Apologie des Kommunismus aus dieser Zeit: Vgl. Maurice Merlau-Ponty: Humanismus und Terror, Frankfurt am Main 1990 (entstanden 1946/47), besonders S. 68ff.
Zu welchem Ergebnis gelangt nun Camus? Bleibt, wenn der Gottesmord mit innerer Logik zum Terror führt, als die einzig akzeptable Haltung nur noch die „die liebende Spannung der Existenz zum göttlichen Grund“348Voegelin, Anamnesis, S. 313. übrig? War die metaphysische Auflehnung des „Mythos von Sisyphos“ nur ein dummer Jungenstreich eines unreifen Philosophen? Dies lässt sich kaum behaupten. „Der Mensch in der Revolte“ schließt mit dem Gegensatz von Revolte und Revolution. Beide sind Ausdruck einer Auflehnung, aber die Revolte anerkennt ein Gesetz des „Maßes“ und damit Grenzen der eigenen Unfehlbarkeit, des eigenen Rechtes, über andere zu verfügen, und besonders des eigenen Rechtes, für politische Zwecke Gewalt auszuüben. Die Revolution dagegen bedeutet die Entgleisung der Revolte in einen schrankenlosen Terror, der der Anmaßung entspringt, mit einer abstrakten Philosophie das menschliche Leben in seiner Totalität erfassen zu können, so dass keine humanen Vorbehalte mehr möglich sind, da durch die abstrakte Totalität schon alles berücksichtigt ist. Der Gedanke des Maßes, welcher, repräsentiert durch den Mythos von Nemesis, den dritten Teil des von Voegelin als Indiz für die Entwicklung Camus’ herangezogenen Werkprogramms bildet‚349Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 330. – Vgl. Albert Camus: Tagebücher 1935-1951, Hamburg 1997, S. 465. verweist zwar auf eine Realität, die sich – ganz im Sinne Voegelins – nicht uneingeschränkt und nicht ungestraft manipulieren lässt, aber dieser Gedanke hebt die Revolte nicht auf.350Vgl. Albert Camus: Tagebuch März 1951 - Dezember 1959, Hamburg 1997, S. 32. Dort schreibt Camus: „Maß. Sie halten es für die Lösung des Widerspruchs. Es kann nichts anderes sein als die Bestätigung des Widerspruchs und der heroische Entschluß, sich daran zu halten und ihn zu überleben.“ Die Anerkennung des christlichen Gottes, jenes Herren, dem man „Ja!“ und „Danke!“ sagen muss, ganz gleich, welches Leid den Menschen geschieht, hätte für Camus ebenso die Aufkündigung der Solidarität mit den Menschen bedeutet, wie das unkritische Lob der Revolution von Seiten der Intellektuellen.351Ebd., S. 263: „Nemesis. Wesentliche Komplizität von Marxismus und Christianismus (weiterentwickeln). Deswegen bin ich gegen beide.“ Hier liegt ein fundamentaler Gegensatz zu Voegelin vor. Während Voegelin die Menschenliebe ohne die Partizipation an ein und demselben göttlichen Grund für unmöglich hält‚352Vgl. Eric Voegelin: In Search of the Ground, in: Conversations with Eric Voegelin. (ed. R. Eric O’Connor), Montreal 1980, S. 1-20 (S. 10). schließt für Camus gerade die Menschenliebe die Liebe zum transzendenten Gott aus.
Hinsichtlich Voegelins Bodin-Interpretation ist zunächst einmal festzuhalten, dass Bodin die religiöse Toleranz fast ausschließlich mit politisch-pragmatischen Gründen rechtfertigt. In seinen „Six Livres de la République“ rät Bodin von der gewaltsamen Unterdrückung etablierter Religionen und Sekten ab, da dies kriegerische Auseinandersetzungen heraufbeschwören kann. Allenfalls durch sein eigenes Vorbild und durch Anreize soll der Herrscher die Untertanen zum Übertritt zur wahren Religion bewegen, mit welcher Bodin eine der konkreten Religionen meint, ohne sie jedoch zu nennen.353Vgl. Jean Bodin: Sechs Bücher über den Staat. Buch IV-VI. (Hrsg. von P.C. Mayer-Tasch), München 1986, S. 150-151. Auch im „Colloquium Heptaplomeres“ ändert sich an der im Wesentlichen pragmatischen Begründung der Toleranz nicht viel. Die Frage der Wahrheit der Religion bleibt im Streit der Sieben gänzlich unentschieden. Einigkeit herrscht am Ende der Diskussion lediglich darüber, dass jeder Mensch in eine religiöse Gemeinschaft eingebunden sein muss, und dass es das Beste ist, wenn die Existenz jeder bestehenden Glaubensgemeinschaft geduldet wird, sofern sie dazu bereit ist, den anderen ihren Glauben nicht streitig zu machen.354Vgl. Jean Bodin: Colloquium of the Seven about Secrets of the Sublime. Colloquium Heptaplomeres de Rerum Sublimium Arcanis Abditis, Princton 1975 (im folgenden zitiert als: Bodin, Heptaplomeres), S. 473. Kaum Anhaltspunkte bietet Bodin für eine Interpretation, nach welcher die Toleranz durch die Differenz zwischen der unaussprechlichen Wahrheit und dem symbolischen Ausdruck der Religion begründet wird. Zwar taucht im Gespräch der Sieben einmal der Vorschlag auf, auf die natürliche Religion als der ursprünglichen Religion zurückzugehen, doch wird dieser Vorschlag als nicht praktikabel abgelehnt.355Bodin, Heptaplomeres, S. 462f. Mit der natürlichen Religion meinte Bodin dabei den alt-israelischen Glauben, dem die unterschiedlichen monotheistischen Glaubensrichtungen entsprungen sind, die bei Bodin so schwer vermittelbar gegeneinander stehen. Auch hier ist also von einer konkreten Religion die Rede und nicht von einem mystischen Wahrheitskern als Grundlage aller Religionen.356Wollte man den Hinweis Bodins auf die ursprüngliche Religion weiter ausbauen, so käme man wohl zu einer deistischen Begründung der Toleranz, wie sie im Denken der Aufklärung (z.B. in Lessings „Nathan der Weise“) zu finden ist. Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 380 (Anmerkung 19). Dass bei Bodin die Forderung der Toleranz weit eher einer Einsicht in die politischen Notwendigkeiten als einer tiefen Überzeugung entspringt, geht auch aus dem Schönheitsfehler hervor, dass Bodin nur die bestehenden Konfessionen einbezieht und von einer Glaubens- und Gewissensfreiheit im heutigen Sinne bei ihm keine Rede sein kann.357Vgl. Georg Roellenbleck: Der Schluß des „Heptaplomeres“ und die Begründung der Toleranz bei Bodin, in: Horst Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München, München 1973, S. 53-67 (S. 66.). – Nach Roellenblecks Deutung ist die Toleranzbegründung im „Heptaplomeres“ allerdings nicht nur Ausdruck politischen Kalküls, sondern sie steht auch in Zusammenhang mit einem tieferen Harmoniegedanken. Dennoch fällt es angesichts der Grenzen von Bodins Toleranzbegriff und angesichts der rein politisch begründeten Toleranz in den „Six Livres de la République“ schwer, hierin mehr als nur eine nachträgliche ideologische Verschönung (die subjektiv ehrlich gemeint sein mag) zu sehen.
Unabhängig davon, wie treffend Voegelins Interpretation die Überlegungen Bodins wiedergibt, kann die Frage aufgeworfen werden, ob Voegelins Bodin-Interpretation ihrerseits einen gangbaren Weg zur Begründung der Toleranz aufzeigt. Der Hinweis auf die unaussprechliche Wahrheit, die hinter jedem symbolischen Ausdruck liegt, begründet einerseits eine überaus starke Form religiöser Toleranz, indem jede andere religiöse Überzeugung als gleichwertvoll wie die eigene anzusehen ist, da sie sich auf dieselbe Wahrheit bezieht. Andererseits enthält Voegelins Begründung der Toleranz zum Teil ähnliche Schönheitsfehler wie die Überlegungen von Bodin, indem Atheisten von der Toleranz auch bei Voegelin ausgenommen zu sein scheinen.358Ähnlich ernüchternd wirken Voegelins an anderer Stelle geäußerte Bemerkungen darüber, dass ein fruchtbarer Dialog mit Indern oder Chinesen nur denkbar wäre, wenn diese Völker sich zuvor bereit dazu finden, fleißig die Philosophie von Platon und Aristoteles zu studieren, damit eine Grundlage für das Gespräch vorhanden ist. Vgl. Conversations with Eric Voegelin. (ed. R. Eric O’Connor), Montreal 1980, S. 70/71. Abgesehen davon stellt sich das Problem der Toleranz in vollem Maße erst dann, wenn es nicht gelingt, in irgendeiner Weise eine Übereinstimmung zu einer fremden Auffassung herzustellen. Beispielsweise stellt es sich dann, wenn man sich mit einer Anschauung oder Lebensweise konfrontiert sieht, die einem (auch wenn sie einen gar nicht tangiert) in jeder Hinsicht verkehrt und widerwärtig vorkommt. Gerade in einer solchen Situation ist Toleranz gefragt, während es ein Leichtes ist, tolerant zu sein, wenn man feststellt, dass man im Grunde einer Meinung ist.
H. Der Leib-Geist-Dualismus in der Theorie der Politik
Im vorletzten Abschnitt seines umfangreichen Aufsatzes untersucht Voegelin verschiedene Grundsatzfragen einer Theorie der Geschichte und der Politik. Zunächst klärt Voegelin, dass ein vernünftiger Ansatz in der politischen Theorie beide Seiten der menschlichen Natur, die leibliche und die geistige berücksichtigen muss. Im Anschluss daran entwickelt Voegelin den Begriff des Sozialfeldes, welcher im Wesentlichen ein etwas allgemeinerer Begriff von Gemeinschaft ist, und stellt schließlich einige grundsätzliche Überlegungen zu dem Zusammenhang von Sozialfeldern und geschichtlicher Entwicklung an.
Der Mensch ist ein Wesen, das ein Bewusstsein und einen Leib hat. Dies gilt natürlich nicht nur für den Menschen als Einzelwesen, sondern auch für die „soziale Existenz“359Voegelin, Anamnesis, S. 340. des Menschen. Nach Voegelins Ansicht ist es die Leiblichkeit des Menschen, die bedingt, dass jede Gesellschaft über Herrschaftsinstitutionen verfügen muss, die Ordnung im Inneren und Sicherheit nach Außen schaffen. Die Untersuchung der pragmatischen Probleme muss daher in der Politischen Wissenschaft einen breiten Raum einnehmen. Aber Ordnung kann zugleich nur vom Bewusstsein ausgehen, weshalb diese Seite der menschlichen Natur in der Politischen Wissenschaft nicht vernachlässigt werden darf.
Voegelin glaubt nun spezifische Irrtümer verschiedener Ansätze des politischen Denkens aus der Vernachlässigung jeweils eines Teils der menschlichen Natur erklären zu können. Diese Vernachlässigung scheint für Voegelin nicht bloß ein theoretisch-wissenschaftlicher Fehler zu sein, sondern er erblickt darin „Krankheitsbilder, an denen das pneumopathische Phänomen des Realitätsverlustes, der Verdunkelung von Sektoren der Realität“360Voegelin, Anamnesis, S. 341. zu erkennen ist.
Aus der Vernachlässigung der Leiblichkeit resultieren nach Voegelins Überzeugung alle Formen von Utopien, wobei Voegelin mit feinen Unterscheidungen nicht allzu kleinlich verfährt, so dass in diese Kategorie alles von der aufklärerischen Fortschrittsidee bis zum Dritten Reich fällt, und auch Karl Marx sich anscheinend wieder einmal für Nietzsches Übermenschen verantworten muss.361Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 341. – Zwar spricht Voegelin nur allgemein vom Übermenschen („sei es der von Marx oder von Nietzsche“), aber die Frage stellt sich, wo Marx denn jemals den Übermenschen gepredigt hat.
Auf die Vernachlässigung der Geistnatur des Menschen sind nach Voegelins Ansicht die Gesellschaftsvertragstheorien zurückzuführen. Voegelin unternimmt jedoch nicht den geringsten Versuch, zu erklären, inwiefern sich die Vertragstheorien allein auf die Leiblichkeit des Menschen beschränken. Sein lapidarer Verweis auf Platons Staat hilft nicht wirklich weiter, da Platon im Staat zwar die sophistische Vertragstheorie skizziert aber nicht eigens widerlegt.362Vgl. Platon: Der Staat, Stuttgart 1997, S. 126 (359a). - Die Vertragstheorie wird dort im Zusammenhang einer umfassenden Wiedergabe sophistischer Lehren über die Gerechtigkeit aufgeführt. Allerdings widerlegt Sokrates diese Lehren nicht im Einzelnen, sondern er geht statt dessen sogleich zur Konstruktion des idealen Staates über. Wir erfahren daher nicht die Gründe, die gegen die Vetragstheorie sprechen. Allenfalls könnte man aus dem Bau des idealen Staates indirekt solche Gründe ableiten.
Schon zuvor hat Voegelin darauf hingewiesen, dass es kein Kollektivbewusstsein gibt. Sofern man sich jedoch im Klaren darüber bleibt, dass sich gesellschaftliches Handeln oder Denken stets aus den Handlungen und Gedanken einzelner Individuen zusammensetzt, ist es im Sinne einer abkürzenden Ausdrucksweise legitim, davon zu sprechen, dass „jede Gesellschaft die Symbole hervorbringt, durch die sie ihre Erfahrung von Ordnung ausdrückt.“363Voegelin, Anamnesis, S. 342. Werden bestimmte Ordnungserfahrungen und -symbole von einer Gruppe von Menschen geteilt und zur Grundlage ihrer Handlungsweisen gemacht, so spricht Voegelin von einem „sozialen Feld“. Soziale Felder können dauerhaft und institutionell verfestigt sein. Dann handelt es sich um „Gesellschaften“. Sie können aber auch rein ideeller Natur sein, wie z.B. die „ideologischen Sozialfelder“.364Voegelin, Anamnesis, S. 342. Darüber hinaus schließen sich die Zugehörigkeiten zu manchen Sozialfeldern gegenseitig aus, andere nicht. Voegelin bringt die Exklusivität von Sozialfeldern irrtümlich mit der Frage in Zusammenhang, ob die Sozialfelder in der Leiblichkeit oder nur im Bewusstsein fundiert sind. So glaubt Voegelin, dass die organisierten Gesellschaften (Staaten) auf Grund ihres Fundamentes in der Leiblichkeit wechselseitig exklusiv sein müssen. Aber in Wirklichkeit hängt dies von der Gestaltung des Staatsbürgerschaftrechtes ab, das eine Doppelstaatsbürgerschaft zulassen kann oder nicht. Umgekehrt schließen viele Religionen die gleichzeitige Zugehörigkeit zu einer anderen Religion aus, obwohl eine Religion doch gewiss eher ein „Feld des Bewußtseins“ ist. Das Leibfundament spielt für die Exklusivität also keine Rolle.365Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 342-343. Probleme befürchtet Voegelin, wenn es innerhalb einer Gesellschaft mehr als nur das eine tragende Sozialfeld gibt. Die pluralistische Demokratie erscheint ihm daher als ein „prekäre[r] Kompromiß“.366Voegelin, Anamnesis, S. 342.
Ein weiteres wissenschaftliches Problem, das Voegelin in diesem Zusammenhang aufwirft, ist die Frage, welches die Sozialfelder sind, innerhalb derer historische Prozesse stattfinden. Die Nationalstaaten sind als Einheiten offenbar zu klein, da die geschichtlichen Entwicklungsprozesse meist weit über den Rahmen einzelner Nationalstaaten hinausreichen. Arnold Toynbee betrachtete die Zivilisationen als diejenigen Einheiten, welche eine umfassende geschichtliche Betrachtung in den Blick nehmen muss. Dagegen wendet Voegelin jedoch ein, dass es auch multizivilisatorische Reiche gibt, die auf diese Weise nicht erfasst werden können. Voegelin bezeichnet solche zivilisationsübergreifenden Sozialfelder mit dem von Herodot übernommenen Begriff der Oikoumene. Weiterhin vertritt Voegelin die These, dass (in der Zeit, als er den Aufsatz verfasste) die Oikoumene global geworden sei, und er befürchtet, dass diese global gewordene Oikoumene das „potentielle Organisationsfeld für ideologische Imperien“ sei.367Voegelin, Anamnesis, S. 344.
Von dem Thema „Oikoumene“ dazu angeregt, kommt Voegelin noch einmal auf die Themen Menschheit und Geschichte zu sprechen. Im Wesentlichen wiederholt Voegelin allerdings nur, was er zu diesen Themen bereits zuvor geäußert hat. Mensch und Menschheit sind „nicht Gegenstände der Außenwelt, über die man selbst-gewisse, empirische Aussagen machen könnte; vielmehr sind sie Symbole, die von konkreten Menschen ... als Ausdruck für den menschlich-repräsentativen Charakter ihrer Erfahrung vom Grund gefunden wurden“.368Voegelin, Anamnesis, S. 344. Die Symbole „Mensch“ und „Menschheit“ legen das „Wissen von der Menschenwesentlichkeit“ aus, welches erfahren wird, „Wenn das Bewußtsein von Ordnung durch die existentielle Spannung zum Grund die Helle der noetischen und pneumatischen Erfahrungen erreicht“.369Voegelin, Anamnesis, S. 344. Es fällt nicht leicht, dies mit Voegelins vorheriger Behauptung zu vereinbaren, dass die noetische Erfahrung ihren repräsentativen Charakter nur unter der Voraussetzung einer ausschließlich durch die kosmische Primärerfahrung begründbaren Wesensgleichheit aller Menschen erhält.370Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 291. Eine konsistente Interpretation beider Textstellen ist nur möglich, wenn man annimmt, dass der „menschlich-repräsentative Charakter“ der Erfahrung allein durch Rekurs auf die kosmische Primärerfahrung gegeben ist, dass er aber, sobald sich die noetische Erfahrung eingestellt hat, durch dieselben Symbole („Mensch“ und „Menschheit“) zum Ausdruck gebracht wird wie die „Menschenwesentlichkeit“ (Existenz des Menschen in der „Spannung zum Grund“ als dem Wesen des Menschen), ohne dass jedoch die „Menschenwesentlichkeit“ die Primärerfahrung in ihrer Funktion der Begründung des repräsentativen Charakters der Erfahrung ablösen könnte (weshalb es sich in diesem Falle auch nicht um eine Differenzierung von Erfahrung handelt). – Wie auch immer man die beiden Textstellen (S. 290/291, S. 344/345) in ihrer Beziehung zueinander deuten mag, falsch ist Voegelins Ansicht aus den bereits genannten Gründen in jedem Fall. Geschichte ist für Voegelin die Geschichte der auf den transzendenten Seinsgrund bezogenen Menschheit. Weiterhin unterscheidet Voegelin die „universale Menschheit“371Voegelin, Anamnesis, S. 345., zu der auch alle schon gestorbenen und noch zukünftig lebenden Menschen gehören, von der „kontemporanen Kulturmenschheit“‚372Voegelin, Anamnesis, S. 344. die nur die in der Gegenwart lebenden Menschen umfasst. Trivialerweise ist nur die kontemporane Kulturmenschheit ein Feld möglicher Organisation, während die universale Menschheit lediglich im „Interpretationsfeld“ Geschichte auftaucht. Voegelin weist außerdem noch einmal nachdrücklich daraufhin, dass das „Bewußtsein von der existentiellen Spannung zum Grund ... ontisch über alle immanent-zeitlichen Prozesse der Geschichte hinaus[ragt].“373Voegelin, Anamnesis, S. 345 Vermutlich, weil die Spannung zum Grund zur Selbsterfahrung des Menschen gehört, schließt Voegelin im folgenden, dass das Symbol „Geschichte“ (so wie Voegelin es versteht) aus dem Wissen von der Spannung zum Grund stammt‚374Voegelin spricht an der entsprechenden Stelle (S. 345 unter (8)) von „Menschwesentlichkeit“, doch scheint dies lediglich ein weiteres Synonym Voegelins für die Spannung zum Grund zu sein, welches sich dadurch erklärt, dass für Voegelin die existentielle Spannung zum Grund das Wesens des Menschen ausmacht. und dass eine Interpretation der Ordnung der Existenz einer Gesellschaft zunächst auf die „Akte des Selbstverständnisses“ eingehen muss, „um von diesem Zentrum her die Ramifikationen in die Ordnung der Gesamtexistenz zu verfolgen.“375Voegelin, Anamnesis, S. 345. Weiterhin stellt Voegelin fest, dass nur die vergangene Geschichte interpretiert werden kann, dass es aber unmöglich ist, den „Sinn der Geschichte“ in die unvorhersagbare Zukunft hinein zu verfolgen. Eschatologien können daher auch nur als mythisch-symbolischer Ausdruck der „Spannung zur Ewigkeit des Grundes“376Voegelin, Anamnesis, S. 346. einen Sinn beanspruchen. Sie dürfen nicht als noetische Analyse oder empirische Aussage missverstanden werden.
I. Kritik: Die Unerheblichkeit des Leib-Geist Dualismus
Es ist ziemlich offensichtlich und bedarf daher keiner ausführlichen Erörterungen, dass der Versuch, mit Hilfe des Leib-Geist Dualismus politisches Denken und soziale Gebilde zu charakterisieren, nicht gerade einen Glücksgriff theoretisch-wissenschaftlicher Erklärungskunst darstellt. Voegelin scheint sich nicht recht im Klaren darüber zu sein, dass die Ausdrücke „Leiblichkeit“ und „Leibfundament“ in den Zusammenhängen, in denen er sie verwendet, kaum mehr als Metaphern sind, die er zudem in einer recht willkürlichen und kaum nachvollziehbaren Weise mit verschiedenen politischen Theorieansätzen und Denkweisen assoziiert. Zwar mag es sein, dass Voegelin die politischen Utopien zu Recht für bedenklich erachtet. Aber mit Hinweis darauf, dass in der Utopie „das Bewußtsein von seiner Leiblichkeit frei[gesetzt]“377Voegelin, Anamnesis, S. 341. werde, lässt sich das utopische Denken ebensowenig erledigen, wie man dem Faschismus einen entscheidenden Schlag versetzt hat, wenn es einem gelingt, die Gnosis philosophisch zu widerlegen. Dass andererseits die Gesellschaftsvertragstheorien als Folge der Reduktion des Menschen auf seine Leiblichkeit und ihre Begierden zu betrachten sind, leuchtet schon deshalb nicht ein, weil der Abschluss eines Vertrages Vernunft und damit Geist und Bewusstsein voraussetzt. Voegelin hoffte wohl, mit Hilfe der ontologischen Unterscheidung Theorieansätze und Ideologien, die ihm missfielen, bereits bei einem besonders elementaren Fehlschluss ertappen zu können (so wie man manchmal insgeheim hofft, bei einem Philosophen, dessen Ansichten man verabscheut, irgendwo einen offensichtlichen Widerspruch anzutreffen). Aber aus dem Leib-Geist Dualismus lassen sich keinerlei gültige Kriterien zur Beurteilung politischer Theorien ableiten.
Auf Voegelins wissenschaftliche Programmatik, die er in diesem Abschnitt seines Aufsatzes entwickelt, und auf die Begriffe Menschheit und Geschichte braucht an dieser Stelle kein weiteres Mal eingegangen zu werden, da Voegelin kaum etwas Neues zu seinen bisherigen Begriffsbestimmungen hinzufügt. Lediglich in Bezug auf den Geschichtsbegriff ist festzuhalten, dass Voegelin offenbar versucht, sein methodisches Prinzip, dass „sich jede Untersuchung von Ordnung auf die Akte des Selbsverständnisses [einer Gesellschaft] zu konzentrieren“378Voegelin, Anamnesis, S. 345. – Dass Voegelin mit diesem Prinzip in Schwierigkeiten gerät, wenn sich herausstellt, dass die „Akte des Selbsverständnisses“ sich einmal nicht, wie Voegelin es wollte, auf die Spannung zum Seinsgrund beziehen, und das er es in diesem Fall vorzog, sich über die „Akte des Selbstverständnisses“ großzügig hinweg zu setzen, wurde bereits zuvor angedeutet (siehe Seite ). – Einen besonders krassen Fall, in dem Voegelin sich über die „Akte des Selbstverständnisses“ der von ihm behandelten Philosophen hinwegsetzt, weist Hans Kelsen hinsichtlich von Voegelins Beurteilung der Absichten der französischen Enzyklopädisten in der „Neuen Wissenschaft der Politik“ nach. Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, S. 95/96. habe, bereits aus dem Begriff der Geschichte als eines universalen Interpretationsfeldes, welches die gesamte vergangene und zukünftige Menschheit in ihrer Beziehung zum Seinsgrund umfasst, herzuleiten. Wenn jener methodische Grundsatz auch als regulatives Prinzip der Forschung mit Einschränkungen hilfreich sein kann, so erscheint dennoch der Versuch, diesen Grundsatz a priori abzuleiten und damit zum Dogma zu erheben, als überaus fragwürdig.
J. „Common Sense“ als kompaktes Ordnungswissen
Im Schlussteil seines Aufsatzes fasst Voegelin nach einer weiteren ausführlichen Wiederholung seiner bisherigen Ergebnisse seine Ansichten von politischer Ordnung und politischer Ordnungswissenschaft in Form eines knappen Modells zusammen. Außerdem knüpft Voegelin noch einmal an sein Ausgangsproblem des Unterschiedes zwischen politikwissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Methode an, wobei er zu dem Ergebnis kommt, dass die Politikwissenschaft, soweit es nicht um die noetische Ergründung der Seinsrealität geht, lediglich aus „Common Sense“-Einsichten bestehen kann. In diesem Zusammenhang stellt Voegelin auch die These auf, dass der „Common Sense“ eine kompakte Form noetischen Ordnungswissens darstelle.
Voegelins Modell politischer Ordnung gestaltet sich folgendermaßen: Ordnung existiert auf den drei Ebenen der Ordnung des Bewusstseins, der Ordnung der Gesellschaft und der Ordnung der Geschichte.379Als vierte Ebene spielt bei Voegelin häufig noch eine mehr oder weniger eigenständige Ebene der Ordnung des Seins eine Rolle, die hier jedoch nicht eigens aufgeführt wird. Es besteht jedoch (trotz der vergleichsweise idealistischen Tendenz dieses Aufsatzes) kein Zweifel daran, dass für Voegelin die Ordnung des Bewusstseins auf die Erfahrung einer objektive Ordnung des Seins zurückgeht. Diese drei Ebenen bilden eine Reihenfolge, die nicht verändert werden kann. So geht zwar die Geschichte aus der Abfolge gesellschaftlicher Ordnungen hervor, aber es wäre ein schwerer Fehler, die gesellschaftliche Ordnung nach Maßgabe einer Geschichtsphilosophie gestalten zu wollen. Als einen weiteren Grundsatz stellt Voegelin das Prinzip auf, dass keine dieser Ebenen unabhängig von den anderen ist (was genaugenommen so verstanden werden muss, dass die nachfolgenden Ebenen abhängig von den vorhergehenden sind, da andernfalls dieses Prinzip Voegelins Forderung der Unumkehrbarkeit der Reihenfolge der Ordnungsebenen widerspräche). Abgesehen von diesen Ordnungsebenen und ihrer Abfolge untereinander muss eine politische Theorie die Hierarchie der Seinsstufen vom materiellen Sein bis zum Bewusstsein berücksichtigen, nach welcher die höheren Seinsstufen in den niedrigeren fundiert sind, während die niedrigeren Seinsstufen durch die höheren organisiert werden.380Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 349-350. – Vgl. auch Eric Voegelin: Vernunft: Die klassische Erfahrung, in: Eric Voegelin: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte. Späte Schriften. (Hrsg. von Peter J. Optiz), Stuttgart 1988, S. 127-164 (S. 162).
Welchem Zweck dient dieses Modell, außer dass es in knapper Form die Essenz von Voegelins Ordnungsphilosophie zusammenfasst? Voegelin glaubt, dass irrige Theorien politischer Ordnung an Verstößen gegen die Prinzipien dieses Modells leicht erkannt werden können. Dies zeigt sich für Voegelin an manchen Geschichtsphilosophien, was Voegelin jedoch nicht an einem Beispiel, sondern nur unter Berufung auf einen anderen Kritiker (Paul Ricœur) der Geschichtsspekulationen demonstriert.381Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 350-351. Auch in der Auffassung, man könne in der Politikwissenschaft so wie in der Naturwissenschaft allgemeine Gesetze finden, erblickt Voegelin einen Verstoß gegen sein Modell, ohne dass er jedoch deutlich erklärt, weshalb hier ein Verstoß vorliegt. Jedenfalls vertritt Voegelin die Ansicht, dass die Politische Wissenschaft, sofern sie sich mit politischen Institutionen und nicht mit der Noese beschäftigt, lediglich „Common Sense“-Einsichten zu Tage fördern kann. Zu derartigen „Common Sense“-Einsichten gehört beispielsweise die Feststellung, „daß Macht die Tendenz hat, von ihrem Besitzer mißbraucht zu werden“, oder auch die Einsicht, „daß Kabinette nicht mehr als eine gewisse Zahl von Mitgliedern haben sollten, weil über eine Zahl von etwa zwanzig hinaus Beratungen und Entscheidungen schwierig werden.“382Voegelin, Anamnesis, S. 351.
Dabei stellt der „Common Sense“ für Voegelin weit mehr dar als bloß eine Ansammlung von Faustregeln des politischen Alltagsverstandes. Voegelin vertritt vielmehr die These, dass der „Common Sense“ eine kompakte Form des noetischen Ordnungswissens ist – nicht anders als dies auf seine Weise der Mythos ist, nur dass der „Common Sense“ die Noese voraussetzt, während der Mythos umgekehrt ihre Vorstufe bildet. Voegelin begründet seine These im Rückgriff auf den schottischen Philosophen Thomas Reid. Reid verstand unter „Common Sense“ den Teil der Vernunft („reason“), der, ausschließlich aus selbstevidenten Elementarwahrheiten zusammengesetzt, auch den ungebildetsten Menschen noch zu Gebote steht. Voegelin interpretiert dies dahingehend, dass für Thomas Reid der „Common Sense“ ein kompakter Typus von Rationalität sei (im Sinne der Spannung des Bewusstseins zum transzendenten Seinsgrund, von der Reid allerdings nirgendwo redet). Demnach unterscheiden sich der „Common Sense“ und die aristotelische Noese nur durch die „Bewußtseinshelle“ (das Wissen darum, dass das Bewusstsein sich in einer Spannung zum Grund befindet).
Voegelin glaubt weiterhin, dass der „Common Sense“, dessen Philosophie im 18. Jahrhundert „eben noch rechtzeitig, um nicht von der ideologischen Dogmatik gebrochen zu werden“‚383Voegelin, Anamnesis, S. 353. entstanden ist, ein „echtes Residuum der Noese“384Voegelin, Anamnesis, S. 354. darstellt. Daraus erklärt sich für Voegelin die „Widerstandskraft des anglo-amerikanischen Kulturbereiches gegen die Ideologien“. Langfristig jedoch reicht in Voegelins Augen die Widerstandskraft des „Common Sense“ gegen die Ideologien nicht aus, so dass die Wiedergewinnung der „Helle des noetischen Bewußtseins“385Voegelin, Anamnesis, S. 354. unerlässlich ist.
K. Kritik: „Common Sense“ ist kein Ordnungswissen
Da die Kritik an Voegelins Modell der Entstehung politischer Ordnung größtenteils bereits vorweggenommen wurde, genügt es, an dieser Stelle die wichtigsten Einwände kurz zusammenzufassen: Gegen Voegelins Forderung, dass die Ordnung der Gesellschaft stets aus einer durch besondere mystische Erfahrungen bestimmten Ordnung des Bewusstseins hervorzugehen hat, ist einzuwenden, dass es keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass dieser Weg (und nur dieser Weg) zu einer gerechten und erfolgreichen politischen Ordnung führt. Überzeugend erscheint dagegen Voegelins Ablehnung einer geschichtsphilosophischen Ableitung des gesellschaftlichen Ordnungsentwurfs, auch wenn Voegelins Argumentation in diesem Punkt ein wenig umständlich wirkt.386Wesentlich klarer argumentiert im Vergleich zu Voegelin sein Zeitgenosse Karl Popper gegen die Geschichtsphilosophien und insbesondere gegen die Vorhersagbarkeit der Geschichte: Vgl. Karl Popper: Das Elend der Historizismus, Tübingen 1987 (6. Aufl.), S. XI-XII. Als recht dogmatisch und theoretisch überaus fragwürdig erweist sich Voegelins Forderung nach der Berücksichtigung der ontologischen Stufenhierarchie in der politischen Theorie. Abgesehen davon, dass die Rechtfertigung ontologischer Stufentheorien viele schwierige philosophische Probleme aufwirft‚387Eine wesentliche Schwierigkeit ontologischer Stufentheorien besteht darin, dass häufig angenommen wird, dass die Gesetze, die auf den niederen Ebenen gelten, auf den höheren Ebenen außer Kraft gesetzt sind, so dass beispielsweise die körperliche Ebene deterministisch, der Geist aber frei gedacht wird. Gerade dies ist jedoch nicht möglich, denn wenn alle physischen Vorgänge deterministisch ablaufen, kann auch der Geist, dessen Wirken auf physischen Vorgängen beruht (bzw. der im Körper „fundiert“ ist), auch dann nicht frei sein, wenn sich das Geistige nicht im Physischen erschöpft: Grundsätzlich können auf den höheren Ebenen nur weitere Gesetze hinzukommen, aber nicht die auf den niederen Stufen bestehenden Gesetze aufgehoben werden. und die ontologischen Stufentheorien darüber hinaus jederzeit Gefahr laufen, durch neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse umgestoßen zu werden, ist es kaum ersichtlich (und auch Voegelin demonstriert es nirgendwo in einer einleuchtenden Weise), wie aus der ontologischen Stufenhierarchie heraus eine Kritik an einer politischen Theorie geübt werden kann. Da die ontologischen Zusammenhänge auf der Ebene der Politik keine unmittelbare Wirksamkeit entfalten, kann wahrscheinlich jede politische Theorie ohne Aufgabe ihrer zentralen Forderungen an irgendeine vorgegebene Ontologie angepasst werden. So dürfte es vermutlich keinem Marxisten Probleme bereiten, gegebenenfalls zuzugeben, dass der Mensch ein leiblich-geistiges Wesen ist, dessen Geist im Leib fundiert ist. Im Übrigen können gegen politische Ideologien wie den Faschismus oder den Kommunismus wahrlich bessere Vorwürfe erhoben werden als die Nicht-Berücksichtigung des Aufbaus des Seinsbereiches Mensch. Alles in allem erscheint Voegelins Modell zur Beurteilung politischer Ordnungsentwürfe und theoretischer Erklärungsansätze in der Politikwissenschaft wenig tauglich.
Ernstzunehmender als Voegelins Modell politischer Ordnung ist seine Behauptung, dass die Politische Wissenschaft lediglich „Common Sense“-Einsichten zu Tage fördern kann. Es kann in der Tat nicht bestritten werden, dass die politischen Wissenschaften in dem Bestreben, möglichst allgemeine Grundsätze zu finden, und prognosefähige Theorien aufzustellen, längst nicht dieselben Erfolge feiern können wie die Naturwissenschaften. Dies mag damit zusammenhängen, dass insbesondere bei historisch-politischen Untersuchungen die Allgemeinheit fast immer durch einen Verlust an Genauigkeit erkauft wird.388So verläuft beispielsweise die Transition von einer Diktatur zur Demokratie in unterschiedlichen Staaten trotz gewisser Ähnlichkeiten unterschiedlich, so dass eine allgemeine Transitionstheorie, je mehr Transitionen in unterschiedlichen Ländern sie beschreiben soll, desto größere Abweichungen zu den einzelnen Transitionen aufweisen wird. In den Naturwissenschaften verhält sich dies anders: Ein Stein, der in Moskau zu Boden fällt, fällt auf die gleiche Weise wie ein Stein in Budapest. Und aus der allgemeinen Gravitationstheorie lassen sich die Planetenbewegungen ebenso exakt ableiten wie die Fallgesetze. Die Gründe, die Voegelin gegen die Möglichkeit größerer Verallgemeinerungen in der Politikwissenschaft anführt, sind jedoch alles andere als überzeugend. Weshalb der „Bau des Seinsbereich Mensch“ es verbietet nach allgemeinen Gesetzen des menschlichen Verhaltens zu suchen, bleibt völlig im Dunkeln.389Abgesehen davon verwechselt Voegelin an der entsprechenden Stelle (Voegelin, Anamnesis, S. 352: „Jeder Versuch...Mensch“) offenbar Axiome mit Naturgesetzen. (Von der sauberen Unterscheidung zwischen normativen und deskriptiven Theorien und einer fairen Beurteilung der Absichten szientistischer Ansätze ganz zu schweigen.) Sicherlich führt der naive Versuch naturwissenschaftliche Herangehensweisen auf die Gesellschaftswissenschaften zu übertragen häufig dazu, dass viel Zeit und Energie für Ansätze verschwendet wird, die am Ende doch nicht funktionieren.390Vgl. Shapiro, Flight from Reality, S. 1ff. Aber ganz gewiss ist ein solcher Versuch nicht, wie Voegelin fürchtet, eine „potentielle Quelle gesellschaftlicher Unordnung, insofern er Störungen des rationalen Bewußtseins in anderen Menschen bewirken kann“.391Voegelin, Anamnesis, S. 352. Und auch wenn man zugibt, dass die Erkenntnisfortschritte der Politikwissenschaften verglichen mit denen der Naturwissenschaften von einer recht unspektakulären Art sind, so muss dies nicht unbedingt bedeuten, dass Gesetzmäßigkeiten, wie etwa jene vielzitierte Feststellung Lord Actons, dass Macht korrumpiert, nur Erkenntnisse des gesunden Menschenverstandes darstellen. Dies wörtlich zu behaupten, hieße zu verkennen, dass sich derartige Einsichten nicht selten erst als Folge des gedanklichen Bewusstwerdens langer und schmerzlicher historischer Erfahrungen durchsetzen.
Mehr als fragwürdig muss Voegelins Versuch genannt werden, den „Common Sense“ unter Rückgriff auf Thomas Reid als eine kompakte Form noetischen Ordnungswissens zu interpretieren. Als Thomas Reid den „Common Sense“ als einen Teil der Vernunft bestimmte, dachte er natürlich nicht im Traum an irgendetwas, was der Voegelinschen „Ratio“ (als „Sachstruktur“ des in der „existentiellen Spannung zum Grund“ stehenden Bewusstseins) auch nur in irgendeiner Weise nahegekommen wäre. Für Thomas Reid besteht der „Common Sense“ aus denjenigen elementaren Prinzipien des menschlichen Urteilsvermögens, die es erlauben, selbst-evidente Zusammenhänge zu beurteilen. Die Vernunft (reason) umfasst darüber alle Schlussfolgerungen, die mit Hilfe dieser selbstverständlichen Wahrheiten gezogen werden können.392Vgl. Thomas Reid: Essays on the intellectual powers of man. (Ed. A.D. Woozley), London 1941, S.329ff. – Zur Schule der Schottischen Philosophen vgl. James McCosh: The Schottish Philosophy, 1875 (ed. 1995 by James Fieser) auf: ""http:""//"ßocserv2""."ßocsci"".""mcmaster"".""ca""/""\~ econ""/"ügcm""/""3ll3""/""mccosh""/"ßcottishphilosophy.pdf"" (Archive for the history of economic thought, McMaster University, Hamilton, Canada; letzter Zugriff am: 30.3.2005). Zu Thomas Reid: Ebd., S. 178-209. Mystische Erfahrungen oder noetisches Ordnungswissen spielen bei Thomas Reid keine Rolle. Dementsprechend erscheint es auch recht fragwürdig, den „Common Sense“ Thomas Reids als eine kompakte Form der aristotelischen Noese einzustufen.393Mit seiner These, dass der „Common Sense“ eine kompakte Form der aristotelischen Noese sei, landet Voegelin allerdings insofern noch einen Zufallstreffer, als der Philosophie des Aristoteles tatsächlich vielfach eine gewisse Nähe zum „Common Sense“ eigen ist, was sich am deutlichsten in der Lehre von der goldenen Mitte darstellt. (Vgl. auch Russell, History of Western Philosophy, S. 176.) Mit der Noese hat dies jedoch nichts zu tun, denn sonst müsste eine ähnliche Nähe zum „Common Sense“ auch bei Platon, den Voegelin als Noetiker dem Aristoteles an die Seite stellt, zum Vorschein kommen. Eine Verwandtschaft mit dem „Common Sense“ kann der Philosophie Platons im Gegensatz zu der des Aristoteles jedoch kaum nachgesagt werden. Es stellt sich natürlich die Frage, wie Voegelin ein derartig grober Interpretationsfehler unterlaufen konnte. Möglicherweise hat Voegelin Gedanken, die ihm bei der Lektüre von Thomas Reid in den Sinn kamen, mit den Aussagen dieses Philosophen verwechselt. Vielleicht ist Voegelin an dieser Stelle aber auch das Opfer seiner eigenen Definitionswillkür geworden, indem er zuerst den Ausdruck „Ratio“ ganz entgegen der üblichen Wortbedeutung definiert hat, und er dann offenbar vergisst, dass Thomas Reid als ein Philosoph des 18. Jahrhunderts den Ausdruck „reason“ natürlich noch in einem ganz gewöhnlichen Sinne gebraucht.
Als historischer Mythos muss auf Grund dieses Interpretationsfehlers die These Voegelins betrachtet werden, dass sich die Noese im 18. Jahrhundert in den „Common Sense“ geflüchtet habe, um auf diese Weise das Heraufkommen der Ideologien zu überwintern und den anglo-amerikanischen Kulturbereich gegen totalitäre Versuchungen zu immunisieren. Ohnehin hätte – um diese These einigermaßen glaubhaft zu begründen – der „Common Sense“ als soziales Phänomen näher eingegrenzt werden müssen, wofür der Hinweis auf eine philosophische Schule des 18. und frühen 19. Jahrhunderts nicht ausreicht.
L. Fazit
Insgesamt stellt Voegelins Aufsatz „Was ist politische Realität?“ zwar einen grandiosen Versuch dar, unter Rückgriff auf unterschiedliche philosophische Disziplinen von der politischen Philosophie bis zur Sprachphilosophie und unter breitem Einbezug der Tradition abendländischen politischen Denkens das Wesen der politischen Wirklichkeit zu bestimmen. Zugleich ist jedoch festzuhalten, dass dieser ambitionierte Versuch komplett gescheitert ist. Verantwortlich dafür sind vorwiegend die kaum zu übersehenden argumentativen Schwächen in Voegelins Aufsatz. Darüber hinaus entsteht im Vergleich zu den frühen Schriften aus dem ersten Teil von „Anamnesis“ der Eindruck, dass Voegelin sich inzwischen auf dem Weg zu einer zunehmenden dogmatischen Verhärtung seiner Position befand. Während Voegelins Aufsatz „Zur Theorie des Bewußtseins“ noch mit einem Reichtum an originellen Einfällen und Gedankenblitzen glänzt, wiederholt Voegelin in seinem Grundsatzreferat „Was ist politische Realität“ nurmehr gebetsmühlenartig dieselben Dogmen. Dabei steht die Schärfe von Voegelins immer wieder durchbrechender Polemik in einem eigentümlichen Kontrast zu dem Mangel an einer stichhaltigen Begründung seiner eigenen Ansichten.
Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
A. Die ungelösten Fundamentalprobleme von Voegelins Ansatz
Nach der bisherigen, sehr ins Detail gehenden Erörterung von Voegelins Bewusstseinsphilosophie soll nun auf einer wiederum etwas allgemeineren Ebene eine Gesamtbilanz dessen gezogen werden, was Voegelin mit seiner Bewusstseinsphilosophie erreicht hat. Zur Erinnerung werde ich zunächst noch einmal in aller Kürze Voegelins Modell politischer Ordnung zusammenfassen, um dann zu klären, ob aus Voegelins Bewusstseinsphilosophie heraus die Fragen, die zur Begründung dieses Modells hätten geklärt werden müssen, überzeugend beantwortet werden können.
Voegelins Modell politischer Ordnung lässt sich in der allerknappsten Form wie folgt zusammenfassen: Politische Ordnung beruht auf der existenziellen Grundkonstitution des Menschen. Diese existenzielle Grundkonstitution besteht in der Spannung zum transzendenten Seinsgrund. Das Wissen um die existenzielle Spannung zum transzendenten Seinsgrund wird dem Menschen durch mystische Erfahrung vermittelt. Die politische Ordnung muss aus diesem Wissen um die existenzielle Spannung zum transzendenten Seinsgrund heraus gestaltet werden. Dann, und nur dann, kann eine gute und dauerhafte politische Ordnung entstehen. Ohne auf die weiteren Einzelheiten von Voegelins Deutung der historischen Entwicklung der Ordnungserfahrung und der Ursachen politischer Unordnung näher einzugehen, kann bereits an dieser Stelle eine Reihe von Fragen formuliert werden, die als Prüfstein der Begründungsqualität von Voegelins Modell politischer Ordnung dienen können:
Die erste und wichtigste Frage, die sich stellt, ist die, ob es einen transzendenten Seinsgrund überhaupt gibt. Wenn behauptet wird, dass der Mensch in der Spannung zum Seinsgrund existiert, dann sollte zunächst geklärt werden, ob ein solcher transzendenter Seinsgrund auch nachweislich vorhanden ist. Zur Begründung der Annahme der Existenz eines transzendenten Seinsgrundes beruft sich Voegelin auf die mystische Erfahrung. Diese Begründung bleibt nicht zuletzt deshalb recht dürftig, weil Voegelin nie genau klärt, was mystische Erfahrungen sind, und wie man sie machen kann. Über das Wesen mystischer Erfahrungen wird im nächsten Unterkapitel (Kapitel ) noch einiges zu sagen sein. Aber bereits unabhängig davon, was mystische Erfahrungen nun eigentlich sind und ob es sich tatsächlich um Erfahrungen von etwas Transzendentem handelt, werfen sie eine Vielzahl von Fragen auf. So stellt sich z.B. die Frage, wie zwischen richtigen und falschen Erfahrungen unterschieden werden kann. Diese Frage ist besonders deshalb prekär, weil offenbar nicht jeder Mensch mystische Erfahrungen hat. Wie können dann aber die mystischen Erfahrungen des einen Menschen für einen anderen maßgeblich sein? Dass sie es sein können ist Voegelins feste Überzeugung, denn er sagt ausdrücklich, dass alle anderen Menschen zum Zuhören verpflichtet sind, wenn einem Propheten oder Philosophen eine Erleuchtung zuteil wird.394Vgl. Voegelin, Order and History II, S. 6. Aber wie können diese Menschen, die selbst keine Erleuchtung hatten, zwischen echten und falschen Propheten unterscheiden? Dieses Problem hat bereits Thomas Hobbes aufgeworfen, und Hobbes war – anders als Voegelin – der Ansicht, dass die Weigerung, einem Propheten zu folgen, niemandem als Verstocktheit ausgelegt werden darf, denn der Betreffende leugnet durch diese Weigerung nicht Gott, sondern er zweifelt lediglich die Glaubwürdigkeit eines Menschen, nämlich des Propheten an.395Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt am Main 1998 (erste Auflage 1984), S. 51 (7. Kapitel) / S. 218-219 (26. Kapitel). Voegelin besteht dagegen darauf, dass echte Transzendenzerfahrungen eines Menschen für alle Menschen autoritativ sind, aber er zeigt nicht, wie das möglich ist, wenn es doch kein Mittel gibt, um ihre Echtheit zu prüfen.396Nicht dass Voegelin diese Probleme nicht bemerkt hätte, aber er weicht einer Antwort in der Regel durch Weitschweifigkeit oder stillschweigenden Themawechsel aus. (Vgl. z.B. Voegelin, Order and History III, S. 299-303.) – Noch unzulänglicher: Voegelin, Order and History V, S. 26. – Ebenfalls unbefriedigend: Conversations with Eric Voegelin. (ed. R. Eric O’Connor), Montreal 1980, S. 23/24.
Mit diesen die Echtheit der Transzendenzerfahrungen betreffenden Fragen sind die Probleme von Voegelins Konzeption jedoch noch keineswegs erschöpft. Nicht weniger problematisch sind die Zusammenhänge zwischen der mystischen Erfahrung und der konkreten politischen Ordnung. Am auf\/fälligsten erscheint hierbei, dass zwischen diesen beiden Bereichen augenscheinlich überhaupt kein Zusammenhang besteht. Wenn die mystische Erfahrung, so wie Voegelin dies unablässig beteuert, eine unerlässliche Grundlage guter politischer Ordnung ist, so müsste es doch möglich sein, aus der mystischen Erfahrung heraus Kriterien zu formulieren, die es erlauben, irgendein konkretes Ensemble politischer Institutionen zu beurteilen. Warum sind die Institutionen der amerikanischen Demokratie eher mit der Noese zu vereinbaren als die Institutionen eines faschistischen Staates wie Spanien unter der Herrschaft Francos? Es dürfte sehr schwer fallen, hier aus Voegelins metaphysischer Theorie heraus ein Urteil zu fällen. Zwar hat Voegelin es nicht an (oft sehr einseitigen) politischen Lagebeurteilungen fehlen lassen, aber selten wird dabei deutlich, wie diese sich aus den Grundsätzen seiner politischen Philosophie ergeben. Voegelin hat noch nicht einmal versucht, aus der Noese irgendwelche moralischen Prinzipien oder Tugenden herzuleiten. Dergleichen wäre ihm wohlmöglich bereits als eine dogmatische Entgleisung erschienen.397Siehe dazu die Naturrechtskritik, die Voegelin unter Rückgriff auf Aristoteles’ Begriff der „phronesis“ in seinem Aufsatz „Das Rechte von Natur“ übt. (Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 128.) – Zur ethischen Theorie Voegelins vgl. Julian Nida-Rümelin: Das Begründungsproblem bei Eric Voegelin. (Typoskript eines Vortrages beim Internationalen Eric-Voegelin Symposium in München August 1998, Eric Voegelin-Archiv in München). Aber wie kann mit Hilfe der Noese die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit gestaltet werden, wenn es noch nicht einmal möglich ist, bestimmte sittliche Prinzipien aus der Noese abzuleiten?398Hans Kelsen legt den Finger auf die Wunde, wenn er feststellt, dass die metaphysischen Begriffe, die in der Vergangenheit zur Rechtfertigung bestimmter Gerechtigkeitsvorstellungen herangezogen wurden und auf die sich auch Voegelin beruft (wie u.a. das platonische agathon, der aristotelische nous, die thomistische ratio aeterna), lediglich Leerformeln sind, die zur Rechtfertigung jeder beliebigen Sozialordnung dienen können. Vgl. Kelsen, A New Science, S. 15/16. – Vgl. auch Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?, 2. Auflage, Wien 1975.
Vor allem aber stellt sich die Frage, woraus hervorgeht, dass eine auf die Noese gegründete Politik moralisch gut und den Erfordernissen des menschlichen Zusammenlebens angemessen ist. Sofern das moralisch Gute nicht gerade durch die Noese definiert wird, was zu einer Tautologie führen würde, ist es keineswegs selbstverständlich, dass das noetisch Wahre mit dem moralisch Guten zusammenfällt. Umgekehrt liefert Voegelin keinerlei stichhaltige Gründe für seine These, dass eine gute politische Ordnung ohne die Noese ausgeschlossen ist. Voegelin scheint hier die anthropologische Annahme zu Grunde zu legen, dass ein Mensch, dessen Existenz nicht durch das noetische Wissen oder eine kompakte Vorstufe desselben geordnet ist, notwendigerweise ein Chaot sein muss. Aber Voegelin unternimmt nicht einmal ansatzweise den Versuch, die Richtigkeit dieser willkürlichen und gegenüber ungläubigen Menschen auch sehr ungerechten Annahme zu demonstrieren.
All die soeben aufgeworfenen Fragen sind nun nicht bloß irgendwelche Einzelfragen, die sich im Rahmen von Voegelins politischer Theorie nebenbei auch noch stellen. Vielmehr handelt es sich um Fundamentalprobleme, mit deren Lösung der gesamte Ansatz von Voegelin steht und fällt. Die Tatsache, dass Voegelin auf keine dieser Fragen auch nur eine halbwegs schlüssige Antwort geben kann, erlaubt daher nur eine einzige Schlussfolgerung: Voegelin ist mit seinem Versuch, die Voraussetzungen politischer Ordnung bewusstseinsphilosophisch zu begründen, auf der ganzen Linie gescheitert.
B. Was sind Transzendenzerfahrungen?
In seinen bewusstseinsphilosophischen Schriften beruft Voegelin sich immer wieder auf Transzendenzerfahrungen. Leider versäumt Voegelin dabei zu klären, was Transzendenzerfahrungen sind, wie man sie erlangen kann, und ob sie ihren Namen zu Recht tragen. Will man sich über diesen Zentralbegriff der Voegelinschen Philosophie Rechenschaft ablegen, so bleibt kein anderer Ausweg, als ein wenig über das Wesen dieser Erfahrungen zu spekulieren, indem man verschiedene Möglichkeiten zu ihrer Erklärung gedanklich durchspielt. Im Wesentlichen sind drei Erklärungsmöglichkeiten zu erwägen: 1) Es gibt tatsächlich Transzendenzerfahrungen, aber sie sind nur wenigen auserwählten Individuen zugänglich. 2) Hinter den Transzendenzerfahrungen verbergen sich bestimmte innere Erlebnisse, die jeder Mensch wenigstens gelegentlich hat. Nur messen verschiedene Menschen diesen Erlebnissen eine unterschiedliche Bedeutung für ihr Leben bei. 3) Es gibt keine Transzendenzerfahrungen und alles, was über sie gesagt wird, ist lediglich leeres Gerede. Diese drei grundsätzlichen Erklärungsmöglichkeiten sollen nun im Einzelnen etwas näher beleuchtet werden.
1. Möglichkeit: Transzendenzerfahrungen in Form von Erleuchtungen einzelner Individuen. Denkbar ist, dass es sich bei den Transzendenzerfahrungen um besondere Erlebnisse handelt, die nur ganz bestimmten, man könnte sagen „religiös privilegierten“ Menschen widerfahren. Es stellt sich dann die Frage, ob diese Erlebnisse tatsächlich die Folge des Eindringens eines transzendenten Seins in die Immanenz sind, oder ob es sich dabei bloß um ein psychisches Phänomen ähnlich einer Geisteskrankheit handelt. Die erste Variante ist eher unwahrscheinlich, da es für die Existenz einer transzendenten Seinsphäre keine anderen Anhaltspunkte gibt als eben diese Erfahrungen selbst, die einer Geisteskrankheit oder einem Drogenrausch unter Umständen zum Verwechseln ähnlich sehen können.399Vgl. William James: The Varieties of Religious Experience, Cambridge, Massachusetts / London, England 1985 (zuerst 1902), S. 11-28. Aber selbst wenn es sich um „echte“ Transzendenzerfahrungen handeln sollte, steht auf Grund des schon erwähnten Problems der wahren und falschen Propheten außer Zweifel, dass diese Erfahrungen außer für den, dem sie widerfahren, für niemanden Autorität beanspruchen können. Ob Voegelin so interpretiert werden muss, dass die Transzendenzerfahrungen nur wenigen religiös privilegierten Individuen zukommen, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Voegelins historischer Ansatz, nach welchem die „Seinssprünge“ zunächst als Erleuchtungsereignisse in einzelnen Individuen stattfinden, legt diese Interpretation nahe.400Vgl. Conversations with Eric Voegelin. (ed. R. Eric O’Connor), Montreal 1980, S. 25. – Bereits in den „Politischen Religionen“ schreibt Voegelin: „Die Erneuerung kann in großem Maße nur von großen religiösen Persönlichkeiten ausgehen – aber jedem ist es möglich, bereit zu sein und das seine zu tun, um den Boden zu bereiten, aus dem sich der Widerstand gegen das Böse erhebt.“ (Eric Voegelin: Die politischen Religionen, München 1996 (zuerst 1938), S. 6.) Dem steht jedoch Voegelins bewusstseinsphilosophischer Ansatz entgegen, der, gerade weil dabei das Bewusstsein des Menschen untersucht wird, beinhaltet, dass die Transzendenzerfahrungen jedem Menschen zugänglich sind, wenn es auch von Mensch zu Mensch Unterschiede in der Intensität der Erfahrung geben kann.
2. Möglichkeit: Transzendenzerfahrungen als innere Erlebnisse. Es könnte auch der Fall sein, dass es sich bei den Transzendenzerfahrungen, die Voegelin meint, um innere Empfindungen und Erlebnisse handelt, welche im Seelenleben eines jeden Menschen vorfindlich sind, auch wenn diesen Empfindungen im bewussten Denken und Handeln nicht immer eine gleichermaßen bedeutsame Rolle eingeräumt wird. Zu diesen inneren Empfindungen gehören vermutlich alle Arten von Gefühlserlebnissen, die aus dem Alltäglichen herausfallen, eine starke emotionale Besetzung aufweisen und entweder nicht unmittelbar einem äußeren Anlass zugerechnet werden können oder durch ihre Intensität über diesen Anlass hinauszuweisen scheinen. Dazu könnten beispielsweise Erinnerungen, Träume, Tagträume, Drogenerlebnisse, Sex, bestimmte durch Kunst oder Musik hervorgerufene Empfindungen sowie sich manchmal plötzlich einstellende und scheinbar grundlose Gefühle von großer Angst oder Freude zählen. Der Versuch, den Bereich der für Transzendenzerfahrungen in Frage kommenden seelischen Erlebnisse näher einzugrenzen, begegnet nicht zuletzt deshalb großen Schwierigkeiten, weil es auch eine Frage des Temperamentes ist, ob jemand sagt: „Ich habe eben ein wenig vor mich hingeträumt“, oder ob er erklärt: „Ich habe soeben in der Meditation für einige Sekunden das Eindringen der Transzendenz in mein Bewusstsein erfahren“, oder ob jemand mitteilt: „Ich hatte plötzlich ein unerklärliches Angstgefühl“, oder stattdessen vielmehr behauptet: „Mir sind gerade die Schauer des Numinosen über den Rücken gelaufen.“ Damit soll nicht gesagt werden, dass die jeweils letztere Form, die entsprechende Erfahrung in Worte zu fassen, reine Hochstapelei ist. Es ist nur der Tatbestand festzuhalten, dass derartige Erfahrungen nicht aus sich selbst heraus ihr Wesen offenbaren, sondern dass dies erst die Folge einer menschlichen Deutung ist.
Nun spricht nichts dagegen, das eigene Leben im Zeichen irgendwelcher dieser Erfahrungen zu führen, sofern man das Gefühl hat, dass dadurch das Leben reicher wird und einen höheren Wert bekommt. Auch mag es für den eigenen Seelenhaushalt von großer Wichtigkeit sein, auf derartige Erfahrungen achtzugeben. Aber gegenüber Voegelins Deutung muss, sofern er diese Art von Erfahrungen meint, zweierlei festgehalten werden: Erstens können derartige Erfahrungen zwar Sinn und Wert vermitteln, nicht jedoch Wahrheit. Wahrheit besteht in der Übereinstimmung von etwas Gemeintem mit der Wirklichkeit. Wahrheit kommt nicht bereits dadurch zustande, dass etwas als wahr empfunden oder als höchst real erfahren wird, denn auch Irrtümer werden, solange man von ihnen überzeugt ist, als wahr empfunden. Grundsätzlich sind innere Erfahrungen, Evidenzerlebnisse oder Erleuchtungen niemals eine unmittelbare Quelle von Wahrheit, sondern bestenfalls eine Quelle von Ideen, über deren Richtigkeit erst eine sorgfältige Prüfung – möglichst in einem nüchterneren Seelenzustand! – befinden muss. Mit anderen Worten: Man sollte sich eine gesunde Skepsis gerade und besonders auch gegenüber den eigenen Erleuchtungen bewahren. Zu den Wesensmerkmalen der Wahrheit gehört zudem ihre Objektivität oder zumindest Intersubjektivität. Gerade dies ist jedoch für die in Frage stehenden Erfahrungen nicht gegeben, welche zunächst einmal höchst individuelle und persönliche Erfahrungen sind. Daraus, dass diese Erfahrungen zunächst nur eine Meinung oder ein Wertempfinden, aber nicht zwangsläufig Wahrheit vermitteln, ergeben sich zwei gewichtige Konsequenzen: Zum einen sind Konflikte mit der Realität keineswegs ausgeschlossen, so dass es sehr voreilig ist, die Realität der inneren seelischen Erfahrungen mit der Realität schlechthin gleichzusetzen. Zum anderen kann aus der Erfahrung kein Gehorsamsanspruch abgeleitet werden, da dieser Art der Erfahrung die objektive Gültigkeit fehlt. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass die Erfahrungen eines Einzelnen auf der Basis freiwilliger Anerkennung für Andere Bedeutsamkeit erlangen können. Zudem kann sich ein Gehorsamsanspruch immer noch dann ergeben, wenn das Erfahrene aus anderen Gründen diesen Anspruch rechtfertigt. (Beispiel: Einem Propheten geht im Rahmen einer göttlichen Vision eine moralische Norm auf, welche sich auch bei anschließender nüchterner Betrachtung und unter Abwägung aller Eventualitäten als sinnvoll und akzeptabel erweist.) Zweitens muss gegenüber Voegelin festgehalten werden, dass jene emphatischen seelischen Erlebnisse – trotz gelegentlicher überraschender Übereinstimmungen zwischen unterschiedlichen Individuen – im Ganzen von einer solch irregulären Vielfalt sind, dass es unmöglich ist, sie allesamt auf eine Normerfahrung der existenziellen Spannung zum Grund zu beziehen. Manch einer empfindet eine existenzielle Spannung zum Grund, ein anderer wiederum fühlt sich in der Harmonie des Universums aufgehoben, wieder einer spürt vielleicht die Nähe Gottes in anderen Menschen. Dies sind ganz unterschiedliche Erfahrungen. Der Versuch, alle Erfahrungen je nach ihrer Nähe zur Normerfahrung der existenziellen Spannung zum transzendenten Seinsgrund in „kompaktere“ und „differenziertere“ Erfahrungen einzuteilen und so zwischen ihnen eine Rangfolge herzustellen, dürfte höchstens für sehr nahe verwandte Erfahrungen durchführbar sein.
3. Möglichkeit: Transzendenzerfahrungen als soziales Artefakt. Als letzte Möglichkeit muss in Erwägung gezogen werden, dass es Transzendenzerfahrungen überhaupt nicht gibt, und dass auch nicht jene eben beschriebenen außergewöhnlichen Seelenzustände damit gemeint sind, sondern dass es sich vielmehr um Einbildungen oder besser um soziale Artefakte handelt, die bloß geglaubt werden, weil so viele Menschen davon reden, als handele es sich um eine Selbstverständlichkeit. Der gesellschaftliche Mechanismus, der zu diesen Artefakten führt, wird sehr treffend durch das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern veranschaulicht, in welchem bekanntlich ein ganzer Hofstaat in den höchsten Tönen die Farbenpracht der Gewänder eines splitternackten Kaisers preist. Darauf, dass bei Voegelin die vermeintlichen Transzendenzerfahrungen nur ein solches Kunstprodukt der Einbildungskraft unter dem Einfluss der eifrigen Lektüre religiösen Schrifttums sind, deutet die auf\/fällige Tatsache hin, dass Voegelin niemals von einer eigenen Transzendenzerfahrung berichtet. Immer nur wird auf Platon, Aristoteles, den heiligen Thomas von Aquin, die Bibel und auf andere ehrwürdige Schriftstücke verwiesen, von denen Voegelin versichert, dass sie Ausdruck von echten und unverfälschten Transzendenzerfahrungen seien. Einen Bericht von eigenen Transzendenzerfahrungen liefert Voegelin nicht. Stattdessen müssen Kindheitserinnerungen als Lückenbüßer herhalten.401Vgl. Anamnesis, S. 62-76. Doch dies wirkt eher wie ein verzweifelter Versuch Voegelins, die Transzendenzerfahrungen, an deren Wirklichkeit er so gerne glauben wollte, in irgendeiner Weise auch bei sich selbst vorzufinden. Ohne eigene Transzendenzerfahrungen aber wird Voegelins Behauptung, dass sich die Richtigkeit der politischen Philosophien, die er befürwortete, „empirisch“ überprüfen ließe‚402Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 96. vollends unglaubwürdig.
Von den eben aufgeführten drei Deutungsmöglichkeiten erscheint – auch wenn es sich nicht mit Sicherheit sagen lässt – die zweite Deutungsmöglichkeit als die naheliegendste, da die erste Möglichkeit allzu unwahrscheinlich ist, und man andererseits auch ungern glauben möchte, dass jemand den größten Teil seines Lebenswerkes auf pure Einbildungen stützt. Von welcher Deutungsmöglichkeit man aber auch ausgeht, in keinem Fall lassen sich die weitreichenden Konsequenzen rechtfertigen, die Voegelin für die politische Ordnung und für die Politikwissenschaft aus den Transzendenzerfahrungen ziehen möchte.
Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
Nachdem im zweiten Teil dieses Buches Voegelins Bewusstseinsphilosophie überwiegend unter einer philosophischen Perspektive betrachtet wurde, soll nun wieder die Beziehung zur Politik hergestellt werden. Voegelin ging es mit seinen bewusstseinsphilosophischen Untersuchungen nicht bloß um die seelische Ordnung der menschlichen Einzelexistenz, sondern vor allem auch um die politische Ordnung der Gesellschaft. Nicht umsonst trägt die große bewusstseinsphilosophische Abhandlung, die den Schlussteil seines Werkes „Anamnesis“ bildet, die Frage nach der politischen Realität im Titel. Im folgenden wird zunächst versucht zu klären, inwiefern für Voegelin spirituelle Erfahrungen die Voraussetzung guter politischer Ordnung bilden und von welcher Gestalt eine politische Ordnung ist, die die spirituelle Erfahrung nach Voegelins Maßstäben in angemessener Weise berücksichtigt. Anschließend wird, losgelöst von Voegelins Theorie, in Bezug auf einige Grundfragen politischer Ordnung untersucht, ob politische Ordnung ohne eine spirituelle Grundlage auskommen kann.
A. Spirituelle Wahrheit und politische Ordnung bei Voegelin
Bereits bei der Untersuchung von Voegelins Bewusstseinsphilosophie fiel auf, dass die Zusammenhänge zwischen den spirituellen Erfahrungsgrundlagen politischer Ordnung und der politischen Ordnung selbst, die sich als rechtliche und institutionelle Ordnung einer Gesellschaft konkretisiert, merkwürdig im Dunkeln bleiben. Zwar lässt Voegelin keine Gelegenheit aus, um vor den verhängnisvollen Folgen zu warnen, die ein Verlust des Erfahrungskontakts zum transzendenten Seinsgrund nach seiner Überzeugung unweigerlich nach sich zieht, aber diese Warnungen sind wissenschaftlich kaum präziser, als es die pauschale Behauptung wäre, dass alles Unheil unserer Zeit eine Folge der menschlichen Gottlosigkeit sei. Alles läuft bei Voegelin letztlich auf die anthropologische These hinaus, dass der Mensch des Kontakts zum Seinsgrund bedarf, um seine Existenz zu ordnen, und dass keine politische Ordnung erzielt werden kann, wenn nicht sowohl auf der Seite der Herrschenden als auch auf der Seite der Beherrschten der in genau dieser Weise existentiell geordnete Menschentypus dominiert. Man mag einwenden, dass Voegelin im Rahmen seiner bewusstseinsphilosophischen Untersuchungen aus Gründen der thematischen Beschränkung diese Punkte nur habe andeuten können. Doch auch in seinen anderen Schriften beschäftigt sich Voegelin fast ausschließlich mit der geistigen Seite politischer Ordnung und fast nie mit dem Zusammenhang der geistigen Grundlagen und der konkreten Machtordnung, wiewohl er an der Ansicht, dass zwischen beiden Bereichen eine unmittelbare Beziehung besteht, offenbar keinerlei Zweifel hat.
Wie wenig erklärende Kraft Voegelins Theorie hat, wenn er tatsächlich einmal versucht, mit ihr die Ursachen gesellschaftlicher Unordnung zu beschreiben, lässt sich am besten an einem Beispiel nachvollziehen: In seinem 1959 gehaltenen Vortrag „Die geistige und politische Zukunft der westlichen Welt“ stellt Voegelin ein „Gesetz der westlichen Ordnung“ auf, welches besagt, dass es drei „Autoritätsquellen“ der Ordnung gibt, erstens die herrscherliche Macht, zweitens die Vernunftphilosophie und drittens die religiöse Offenbarung, und dass Ordnung herrscht, solange diese Autoritätsquellen relativ autonom voneinander bleiben, Unordnung aber dann, wenn sie zusammenfallen.403 Eric Voegelin: Die geistige und politische Zukunft der westlichen Welt. (Hrsg. von Peter J. Opitz und Dietmar Herz), München 1996, im folgenden zitiert als: Voegelin, Zukunft der westlichen Welt, S. 21-23. Verfolgt man nun Voegelins weitere Ausführungen zu diesem Gesetz, so springen einige Merkwürdigkeiten ins Auge: Zunächst einmal unternimmt Voegelin keinen Versuch zu erklären, weshalb aus dem Zusammenfallen der drei Autoritätsquellen gesellschaftliche oder politische Unordnung resultiert. Solange Voegelin dies nicht demonstriert, liefert sein Gesetz nur eine völlig willkürliche Definition von „Unordnung“, die mit innerem Unfrieden, chaotischen Zuständen oder tyrannischen Übergriffen des Staates gar nichts zu tun haben muss.404Dies gilt umso mehr, als nach Voegelins „Gesetz“ auch im Reich des Kaisers Justinian, anhand von dessen constitutio imperatoria majestas Voegelin sein „Gesetz“ entwickelt, größte Unordnung geherrscht haben müsste, da ja der Kaiser alle drei Autoritätsquellen in seiner Person vereinte. (Vgl. ebd.) Des weiteren stützt sich Voeglins folgende Argumentation nur marginal auf das gerade erst aufgestellte Gesetz. Es zeigt sich, dass es Voegelin keineswegs auf die Autonomie der Autoritätsquellen ankommt, – sonst müsste er ja auch die Trennung von Staat und Kirche und die Abspaltung der Naturwissenschaft von der Philosophie befürworten405Vgl. ebd., S. 31, S. 34.– sondern darauf, dass christlicher Glaube und Philosophie (mit der selbstverständlich nur die von Voegelin favorisierten Richtungen der Philosophie gemeint sind406Vgl. ebd., S. 35.) einen bestimmenden Einfluss auf Gesellschaft und Politik erlangen. Dafür ist Voegelin sogar bereit, bemerkenswerte Einschränkungen der demokratischen Rechte hinzunehmen. So fordert er „sehr energisch mit Parteiverboten“407Ebd., S. 33. – Nicht immer hat Voegelin derart drastische Forderungen aufgestellt. Aber wenn schon nicht mit Verboten, dann sollte zumindest durch starke informelle Mechanismen sichergestellt werden, dass religiös ungeeignete Leute von einer politischen Führungsrolle effektiv ausgeschlossen bleiben. gegen Parteien „antichristlicher oder antiphilosophischer Art“408Ebd. vorzugehen. Der Grund für diese radikale Forderung liegt dabei einzig in Voegelins vorgefasster Meinung, dass die westlichen Demokratien sich nur halten können, wenn die Regierung im christlichen Geiste über eine weitgehend christliche Bevölkerung regiert.409Vgl. ebd., S. 32-33. Warum sie nur unter dieser Bedingung funktionieren können, dafür liefert Voegelin trotz seiner historisch weitausholenden Erörterungen keinerlei Begründung.
Ob die Berücksichtigung der spirituellen Erfahrung für die Herstellung politischer Ordnung überhaupt irgendwelche Vorteile erbringt, lässt sich nicht zuletzt deshalb nur schwer klären, weil Voegelin niemals deutlich mitteilt, von welcher Gestalt eine optimal erfahrungsbegründete politische Ordnung sein würde.410Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, würde Voegelins Vorgaben am ehesten eine theokratische politische Ordnung, etwa so wie sie im heutigen Iran existiert, entsprechen. Vgl. Arnold, Nachwort zu Kelsens Voegelin-Kritik, S. 125-127. Versucht man sich hilfsweise an Voegelins historische Beispiele zu halten, dann erhält man ein recht irritierendes Bild. So ist für Voegelin beispielsweise im christlichen Mittelalter vor der Reformation mit der Trennung von geistlicher und weltlicher Autorität bei der gleichzeitigen Legitimation und Gestaltung der weltlichen Ordnung nach religiösen Prinzipien eine optimale Verwirklichung spirituell erfahrungsbegründeter politischer Ordnung gegeben. Dies gilt umso mehr, als nach Voegelins Einschätzung im mittelalterlichen Christentum die bislang größte Erfahrungshelle des Ordnungswissens erreicht worden ist. Gleichzeitig herrscht jedoch mit der hierarchischen Gesellschaftsform und dem feudalen Herrschaftssystem im Mittelalter eine politische Ordnung, die alles andere als human und gerecht ist. Ein weiteres irritierendes Beispiel stellt die politische Philosophie Platons dar. Für Voegelin war Platon ein Philosoph von größter Offenheit der Seele und höchster spiritueller Empfindsamkeit. Aber die politisch-institutionelle Ordnung, die Platon im „Staat“ entworfen hat, bildet geradezu das Musterbeispiel einer totalitären Schreckensutopie.411Vgl. dazu die bekannte Kritik in: Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I. Der Zauber Platons, 7.Aufl., Tübingen 1992, S. 104ff. – Poppers Deutung ist freilich nicht unumstritten. Außer einem in der Tat verfälschenden Platon-Zitat auf dem Umschlag (in der Taschenbuchausgabe: S. 9.) wird ihm unter anderem vorgeworfen, sich bei seiner Kritik an dem personenzentrierten Ansatz Platons zu sehr auf den „Staat“ zu konzentrieren, und den stärker institutionellen Ansatz der „Gesetze“ zu vernachlässigen. (Vgl. August Benz: Popper, Platon und das „Fundamentalproblem der politischen Theorie“: eine Kritik, in: Zeitschrift für Politik 1999.) Von dieser Kritik unberührt bleibt allerdings Poppers massiver Vorwurf der Inhumanität gegen Platon. Hält man sich diese Beispiele vor Augen, so erscheint es geradezu absurd, dass Voegelin der Wiedererlangung einer spirituellen Realitätserfahrung vermittels der Öffnung der Seele eine so große Bedeutung beimisst. Eher müsste man den Schluss ziehen, dass für gute politische Ordnung ein niedriges spirituelles Niveau von Vorteil ist. Gewiss, die soeben gegebenen Beispiele sind Extrembeispiele, denn Voegelin befürwortete auch die amerikanische Demokratie, die in der Tat eine sehr erfolgreiche Verwirklichung humaner und gerechter politischer Ordnung darstellt, und nach Voegelins Ansicht steht der politischen Philosophie Platons die des Aristoteles, welche wesentlich vernünftiger ist, in nichts nach. Aber immer noch stellt sich dann die Frage, ob empirisch überhaupt eine Korrelation zwischen dem Niveau der spirituellen Erfahrung und der Güte der politischen Ordnung festgestellt werden kann.
Dieser Frage, ob politische Ordnung überhaupt eine spirituelle Grundlage benötigt, um eine erfolgreiche und gerechte politische Ordnung zu sein, soll im folgenden nachgegangen werden.
B. Gibt es spirituelle Sachzwänge?
Dasjenige, was Voegelins Philosophie der politischen Ordnung so hoffnungslos anachronistisch erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass er spezifische religiöse Glaubensüberzeugungen als objektiv wahr voraussetzt. Voegelin hält es für eine unbestreitbare Tatsache, dass es einen transzendenten Seinsgrund gibt und dass wir zu diesem transzendenten Seinsgrund in einer Beziehung stehen, die er mit Ausdrücken wie „Spannung zum Grund“ beschreibt. Dass Voegelin seine religiösen Vorstellungen stets nur mit vagen und undeutlichen Worten umschreibt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ihre Wahrheit streng dogmatisch voraussetzt. Zudem bildet der Vorwurf der Ignoranz und der Fehldeutung dieser religiösen Wahrheiten seine beinahe einzige Erklärung für jede Art politischer Unordnung. Es ist daher nicht verkehrt zu sagen, dass Voegelin diese religiösen Wahrheiten für eine Art von spirituellen Sachzwängen hält, die die Politik berücksichtigen muss, z.B. indem sie – wie schon zitiert – „sehr energisch mit Parteiverboten“412Voegelin, Zukunft der westlichen Welt, S. 33. gegen Parteien „antichristlicher oder antiphilosophischer Art“413Ebd. durchgreift.
Die Vorstellung, dass die Politik spirituelle Sachzwänge berücksichtigen muss, mag nun heutzutage in der westlichen Welt vollkommen anachronistisch erscheinen. Die Tatsache aber, dass diese Vorstellung in dem sicherlich größten Teil der Menschheitsgeschichte als selbstverständlich galt, wenn nicht gar eine bestimmende Rolle gespielt hat, und dass ein Politikwissenschaftler wie Voegelin sie in der Gegenwart artikulieren und ernst genommen werden konnte, lässt es nicht ungeraten erscheinen, sie einmal ganz naiv als Frage zu formulieren und zu untersuchen, ob es nicht vielleicht tatsächlich spirituelle Sachzwänge der ein oder anderen Art gibt. Hierbei sind drei Varianten der These zu unterscheiden:
1. Der ersten denkbaren Variante zufolge gibt es objektive spirituelle Sachzwänge, soll heißen: Wenn die Menschen das transzendente Sein nicht in der gebührenden Weise berücksichtigen, so zieht dies ernste Konsequenzen seitens des transzendenten Seins nach sich. Sintfluten, Schwefelregen und andere Unbill, mit der zornige Götter die zuchtlose Menschenbrut zu strafen pflegen, sind dann mindestens die Folge. Da die Härte solcher Strafen nicht immer nur die jeweiligen Missetäter, sondern unter Umständen die gesamte Gemeinschaft trifft, wäre es auch eine Aufgabe der Politik, durch Maßnahmen, die dem Erhalt der spirituellen Volksgesundheit dienen, die Bevölkerung zu schützen.
Es gibt allerdings mindestens zwei starke Gründe, die dagegen sprechen, dass diese Art von objektiven spirituellen Sachzwängen tatsächlich existiert: 1) Naturkatastrophen haben natürliche Ursachen, über die wir dank der Wissenschaft inzwischen ziemlich gut bescheid wissen. Würden Naturkatastrophen tatsächlich eine Folge der Vernachlässigung der Transzendenz sein, dann müsste man dagegen erwarten, dass ihr Eintreten eher moralischen als natürlichen Gesetzmäßigkeiten folgt. 2) Unabhängig davon, welche religiösen Überzeugungen man für die wahren hält, werden Ungläubige von großen Katastrophen nicht deutlich häufiger getroffen als Gläubige. Das bedeutet aber, dass man sich durch die richtige Religionspolitik gar nicht vor derartigen Katastrophen schützen kann. Objektive spirituelle Sachzwänge der oben angedeuteten Art, denen die Politik Rechnung tragen könnte oder müsste, scheint es also nicht zu geben.
2. Von dieser, zugegeben recht abergläubischen Vorstellung, existiert eine modernere, psychologisierte Variante. Dieser Variante zufolge zieht eine gestörte Beziehung zum transzendenten Seinsgrund keine Konsequenzen seitens des transzendenten Seinsgrundes nach sich, sondern der Mensch macht sich dadurch das Leben selbst unerträglich, weil er einer gesunden Beziehung zur Transzendenz zutiefst bedarf. Ebenso wie bei der ersten Variante der These wird vorausgesetzt, dass es eine objektive Wahrheit bezüglich der Transzendenz gibt. Nur bilden nicht Naturkatastrophen die Folge der Vernachlässigung oder Fehlinterpretation dieser Wahrheit, sondern sie führt in den seelischen Wahnsinn. Zur Unterscheidung von der ersten Variante der These der Existenz spiritueller Sachzwänge könnte man in diesem Fall von subjektiven spirituellen Sachzwängen sprechen. Sehr eindrucksvoll ist die Vorstellung, dass es subjektive spirituelle Sachzwänge gibt, von Dostojewski literarisch gestaltet worden, z.B. in dem Roman „Die Dämonen“, wo sie – ein Gegenentwurf zu Turgenjews „Väter und Söhne“ – als Abwärtsbewegung von der Generation der Väter zu der der Söhne in Erscheinung tritt: Stepan Trofimowitsch Werchowenski, der Repräsentant der Vätergeneration, ist ein im Grunde genommen noch sehr liebenswerter, aber natürlich naiver und vertrottelter liberaler Romantiker. Die fatalen Konsequenzen des Verlustes der religiösen Bindungen treten erst in seinem gefühlskalten und skrupellosen Sohn Pjotr Stepanowitsch Werchowenski hervor, der sich von dem „dämonischen“ Nikolai Stawrogin zum Mord inspiriren lässt.414Vgl. Fjodor M. Dostojewski: Die Dämonen, 20.Aufl., München 1996. Neben dem Verlust religiöser Bindungen hat Dostojewski auch ihrer Fehlbesetzung literarisch eindrucksvoll in der Figur des Großinquisitors Gestalt verliehen. Den absoluten Tiefpunkt religiöser Abirrung verkörperte für Dostojewski nämlich die katholische Kirche, deren Prinzip der Großinquisitor vertritt, während Dostojeweski die sozialrevolutionären Bewegungen seiner Zeit im Vergleich dazu als verzeihliche Kindereien und nachgerade eine Folge der Zerstörung der Glaubenssubstanz durch die katholische Kirche zu entschuldigen bereit war. Konsequenterweise ist in der Legende vom Großinquisitor415Vgl. Fjodor Dostojewskij: Die Brüder Karamasow, Frankfurt am Main 2006, S. 397-427. ein dritter Weg zwischen dem richtigen Glauben, d.i. der Wahrheit und der Freiheit Jesu, und dem falschen Glauben der Inquisitionsgerichte nicht vorgesehen. Die aufklärerische Vorstellung des autonomen, sich und sein Schicksal selbst bestimmenden Menschen war für Dostojewski ein Unding. Wie wirkungsmächtig diese von Dostojeweski literarisch gestaltete Vorstellung war, sieht man daran, dass sie bei Voegelin in sehr ähnlicher Form wieder auftritt. Nur dass bei Voegelin die Rollen leicht vertauscht sind, nimmt doch bei Voegelin gerade das katholische Christentum vor der Reformation (also ausgerechnet jener Epoche, die das Wüten des Großinquisitors Torquemada, dem Vorbild von Dostojewskis Großinquisitor, gesehen hatte) den Platz authentischer Glaubenserfahrung ein, den Dostojewski dem orthodoxen Christentum vorbehalten hatte.
Gegen diese schwächere, psychologisierte Variante der These von den „spirituellen Sachzwängen“ gibt es ebenfalls gravierende Einwände, auch wenn die Situation hier schon ein wenig komplizierter ist. Ähnlich wie im Fall der Naturkatastrophen stimmt es einfach nicht, dass seelische Gesundheit ein Privileg nur von solchen Leuten ist, die über die richtige religiöse „Erfahrungsbasis“ verfügen. Seelisches Wohlbefinden kann sich bei den Anhängern der allerverschiedensten religiösen Überzeugungen mit entsprechend unterschiedlichen „Bewusstseinserfahrungen“ einstellen. Es kommt bei der Religion nur darauf an, was für wen passt. Und das kann für jeden etwas anderes sein. Etwas komplizierter liegt der Fall bei der psychologisierten Variante aber insofern, als die Existenz irgendwelcher Kausalzusammenhänge zwischen der Religiosität und dem seelischen Wohlbefinden sowie zwischen der Religiosität und dem moralischen und unter Umständen auch dem politischen Wohlverhalten sehr wohl anzunehmen ist. Nur, dass das persönliche Wohlbefinden und das sittliche Wohlverhalten von dem religiösen Wahrheitsgrad der weltanschaulichen Einstellung abhängen sollen, ist eine These, die die Wissenschaft unmöglich bestätigen kann, da sich wissenschaftlich nicht über religiöse Wahrheiten urteilen lässt. 3. Die dritte Variante der These trägt diesem Einwand Rechnung. Sie setzt daher auch nicht mehr irgendwelche religiösen Überzeugungen als wahr voraus oder spricht – im Sinne Voegelins – ganz spezifischen religiösen Erfahrungen eine höhere Adäquatheit zu als anderen. Behauptet wird lediglich, dass es kausale Beziehungen zwischen der religiösen Einstellung und dem politischen Verhalten von Menschen geben kann, denen die Politik Rechnung tragen sollte. Genaugenommen handelt es sich dann aber nicht mehr um „spirituelle Sachzwänge“, sondern lediglich um anthropologische Sachzwänge. Die Politik muss die Tatsache der Religiosität als einer wesentlichen Eigenschaft des Menschen berücksichtigen, nicht zuletzt deshalb, weil religiöse Institutionen einen erheblichen politischen Einfluss ausüben können. Das ist aber etwas ganz anderes, als wenn die Politik unmittelbar religiöse Glaubenssätze zu berücksichtigen hätte.
Fasst man das Verhältnis von Religion und Politik ausschließlich im Sinne dieser dritten Variante auf, so hat das bedeutende Konsequenzen für den Umgang mit potentiell gefährlichen religiösen oder weltanschaulichen Gruppierungen. Die Auseinandersetzung mit solchen Gruppierungen braucht nun nicht mehr um religiöse Wahrheitsansprüche geführt zu werden. Sie kann wesentlich pragmatischer als eine Auseinandersetzung um deren äußeres Verhalten und säkulare Einstellung (d.h. ihre Einstellung gegenüber dem Rest der Gesellschaft und ihre Haltung zum gesellschaftlichen Zusammenleben, nicht aber ihre Einstellung zu religiösen und metaphysischen Fragen im engeren Sinne) ausgetragen werden. Dementsprechend braucht, wenn überhaupt, auch erst dann „sehr energisch mit Parteiverboten zugegriffen werden“‚416Voegelin, Die geistige und politische Zukunft der westlichen Welt, a.a.O., S. 33. wenn derartige Gruppierungen sich verfassungsfeindlich betätigen und nicht bereits dann, wenn sie weltanschaulich nicht konform gehen. Dieser subtile Unterschied markiert, beiläufig bemerkt, die Grenze zwischen dem, was man die „wehrhafte Demokratie“ nennt, und einem autoritären Staat.
Welcher Art die kausalen Beziehungen zwischen religiöser Einstellung und politischem Verhalten sind, darüber kann man im Einzelnen sehr unterschiedliche Theorien aufstellen. Einer besonders unter Anhängern Voegelins populären Ansicht zufolge führt der Verlust religiöser Bindungen dazu, dass eine Art religiöses Vakuum entsteht, das dann von politischen Ideologien aufgefüllt werden kann. In diesem Sinne ist z.B. Voegelins Rede von der „positivistischen Destruktivität“417Eric Voegelin: The New Science of Politics. An Introduction, Chicago & London 1987 (zuerst: 1952), S. 4. zu verstehen, denn der Positivismus ist als solcher zwar keineswegs totalitär, bereitet aber nach Voegelins Verständnis den totalitären Ideologien geistig den Boden, indem er ein geistig-religiöses Vakuum hinterlässt, das derartige Ideologien dann widerstandslos besetzen können. Allerdings gibt es gute Gründe diese „Vakuumtheorie“ anzuzweifeln. Wäre sie wahr, dann hätten sich ja z.B. die religiös stark gebunden Bevölkerungskreise im 3. Reich in Deutschland durch eine auffällig große Resistenz gegenüber dem Nationalsozialismus auszeichnen müssen. Von Ausnahmen besonders in den katholischen Bevölkerungsteilen abgesehen, war das aber nicht unbedingt der Fall. Und was die „positivistische Destruktivität“ betrifft, so hätte man erwarten müssen, dass gerade die positivistischen Philosophenschulen wegen des von ihnen erzeugten geistig-religiösen Vakuums in besonderem Maße anfällig für totalitäre Ideologien gewesen sind. Ein flüchtiger Blick in die historisch-biographischen Materialien etwa zum Wiener Kreis418Vgl. Friedrich Stadler: Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, Frankfurt am Main 1997. legt aber viel eher die Vermutung nahe, dass die philosophische Strömung des Neupositivismus – von den kommunistischen Sympathien einzelner positivistischer Philosophen wie z.B. Otto Neurath abgesehen – ganz im Gegenteil außergewöhnlich resistent gegen die totalitäre Versuchung geblieben ist. Im Ganzen dürften die kausalen Beziehungen zwischen dem religiösen Hintergrund und der politischen Haltung also sehr viel komplizierter sein als dies die „Vakuumtheorie“ nahelegt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Spirituelle Sachzwänge im Sinne religiöser Wahrheiten oder Tatsachen, seien dies nun göttliche Strafen oder eine vermeintlich unleugbare „Spannung zum Grund“, die das politische Handeln berücksichtigen müsste, gibt es nicht. Was die Politik berücksichtigen muss ist allein das anthropologische Faktum, dass die meisten Menschen religiös sind. Je nachdem welche Vorstellung man von der Religiosität und insbesondere der Dominanz religiöser Motive für das menschliche Handeln hat, könnte damit aber immer noch die These vereinbar sein, dass die Politik es sich nicht erlauben kann, den religiösen Bereich unbesetzt zu lassen. Dass dem nicht so ist, dafür soll in den folgenden Abschnitten argumentiert werden.
C. Bedarf die Legitimation der politischen Ordnung einer religiösen Komponente?
Ein entscheidendes Problem einer jeden politischen Ordnung, bei welchem der Rückgriff auf religiöse Wahrheiten naheliegend erscheinen könnte, ist das Problem der Legitimation der politischen Ordnung. Die Legitimation erfüllt eine zweifache Funktion. Zum einen soll sie die grundsätzliche Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen zur Herrschaftsordnung sicherstellen. Zum anderen dient sie der Motivation von Einsatzbereitschaft für den eigenen Herrschaftsverband, was besonders im Kriegsfall von großer Bedeutung ist. Es stellt sich nun die Frage, ob eine Legitimation politischer Ordnung ohne Inanspruchnahme der menschlichen Religiosität möglich ist, und ob sie genügend Intensität erreicht, um die Stabilität des politischen Systems auch in Krisenzeiten zu gewährleisten.
Die heutzutage in der westlichen Welt übliche Form der Legitimation ist die einer Gesellschaftsvertragstheorie. Die Gesellschaftsvertragstheorie legitimiert dabei sowohl die Existenz eines Staates überhaupt als auch im besonderen die demokratische Herrschaftsform. Die Existenz des Staates wird dadurch legitimiert, dass ohne Staat der Einzelne vor Übergriffen von seinesgleichen auf sein Leben und Vermögen keinen Augenblick sicher ist, so dass die Menschen ohne Staat ohnehin nichts Besseres tun könnten, als durch Vertrag einen Staat zu gründen, der sie voreinander beschützt. Die demokratische Herrschaftsform wird dadurch legitimiert, dass sie diejenige Herrschaftsform ist, zu der die Menschen in einem auf Basis freier Zustimmung geschlossenen Vertrag am ehesten ihre Zustimmung geben könnten, da sie ihnen nicht nur vor den Übergriffen der Mitbürger sondern auch vor dem Machtmissbrauch des Herrschers die größte Sicherheit bietet.419Ich beziehe mich hier in erster Linie auf die Hobbessche Gesellschaftsvertragstheorie unter Berücksichtigung der Lockeschen Kritik dieses Modells.
Die Gesellschaftsvertragstheorien rechtfertigen die Existenz des Staates und die demokratische Herrschaftsform, indem sie sich rational einleuchtender Argumente bedienen. Der Sinn des Staates wird dabei hinreichend durch den Zweck der Schaffung innerer Sicherheit erklärt, ein Zweck der, so sollte man meinen, im Eigeninteresse eines jeden Menschen liegt. Eine zusätzliche Legitimation, etwa durch göttliche Autorität, könnte innerhalb dieses Gedankenganges sogar problematisch erscheinen, denn, wenn es nicht schon genügend rationale Gründe gäbe, um die Existenz des Staates zu legitimieren, dann hätte der Staat ohnehin kein Existenzrecht, und alle weiteren Rechtfertigungen seiner Existenz müssten als Ideologie verworfen werden.
Eine Legitimation politischer Ordnung ohne religiösen Bezug scheint also grundsätzlich möglich zu sein, wenn man voraussetzt, dass die Menschen vernünftig genug sind, um ihre eigenen Interessen zu erkennen. Erweist sich diese Art der Legitimation aber auch als krisenfest, wenn die politische Ordnung vor besonderen Herausforderungen steht? Sind die liberalen Demokratien im Falle eines Krieges in der Lage, ohne die Mobilisierung religiöser Energien in genügendem Maße Opferbereitschaft für sich zu motivieren? Und handeln sie sich bei der Auseinandersetzung mit ideologischen Bewegungen im Inneren nicht einen entscheidenden Nachteil dadurch ein, dass sie die religiösen Gefühle der Bürger unangetastet lassen müssen (und wollen)?420Vgl. Joachim Fest: Die schwierige Freiheit. Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft, Berlin 1993, S. 38ff.
Gegen die erste dieser Befürchtungen kann eingewandt werden, dass auch in den liberalen Demokratien angesichts äußerer Herausforderungen gesellschaftliche Mechanismen wirksam werden, die die Abwehrbereitschaft der demokratischen Gesellschaft erheblich stärken. So macht sich im Falle eines Krieges oft eine Art von innerem Zusammenrücken der Gesellschaft bemerkbar, das sich beispielsweise in einer schlagartigen Zunahme der Beliebtheitswerte der jeweiligen Regierung äußern kann. Auch haben sich beispielsweise im Zweiten Weltkrieg die Soldaten, die auf Seiten der liberalen Demokratien kämpften, nicht weniger tapfer geschlagen als die Armeen der totalitären Regime, was beweist, dass im Ernstfall durch quasi-religiöse Sinnversprechungen keine wesentlichen Vorteile zu erzielen sind. Weit entfernt davon, eine Schwachstelle der liberalen Ordnung zu offenbaren, können äußere Herausforderungen diese Ordnung sogar erheblich stärken.
Ebensowenig zwingend ist das Argument, dass ein rein rational legitimiertes System keine ausreichende Immunität gegen die verführerische Kraft chiliastischer politischer Bewegungen im Inneren entwickeln könnte. Zumindest ist nicht unmittelbar ersichtlich, wie eine spirituelle oder religiöse Legitimationskomponente hier Abhilfe schaffen könnte. Jede Form der Legitimation kann zusammenbrechen, wenn das politische System, das durch sie legitimiert wird, sich als erfolglos erweist oder wenn sie durch eine vom Geist der Zeit als überzeugender empfundene Legitimation herausgefordert wird. Dies würde auch für eine Legitimation auf Basis der existentiellen Spannung zum transzendenten Seinsgrund gelten, ganz gleich, welches Maß philosophischer Wahrheit diese Legitimation für sich beanspruchen dürfte. Zudem ließe sich die Überlegung anstellen, das gerade spirituelle Legitimationskomponenten ein Einfallstor für Ideologien darstellen könnten, da durch sie dem Irrationalismus bereits öffentlicher Glaubwürdigkeitskredit eingeräumt wird.
Auch wenn das Problem der hinreichenden Legitimation politischer Ordnung mit großen Unsicherheiten behaftet ist (da sich nicht bloß die Frage stellt, wodurch eine politische Ordnung philosophisch gerechtfertigt ist, sondern vor allem, wann eine politische Ordnung als gerechtfertigt empfunden wird) scheint der Rückgriff auf religiöse Überzeugungen oder spirituelle Erfahrungen für die Legitimation politischer Ordnung nicht unbedingt erforderlich zu sein.
D. Wertbegründung und -konsens in der pluralistischen Gesellschaft
Ein wichtiges Argument, welches für die Religion und besonders für eine stärkere Geltung der Religion im gesellschaftlichen Leben angeführt werden könnte, beruht auf dem philosophischen Problem der Letztbegründung ethischer Werte. Dieses Argument lautet in etwa wie folgt: Keine Gesellschaft, so könnte argumentiert werden, kann ohne einen Satz verbindlicher ethischer Grundwerte existieren. Es wäre aber absurd, diese Grundwerte, die absolut gelten müssen, zur Disposition eines Konsensfindungsverfahrens zu stellen, sei dies nun eine verfassungsgebende Versammlung oder auch nur ein gedachter Gesellschaftsvertrag, zumal dann immer noch die Gültigkeit des Verfahrens als Wertvoraussetzung übrig bliebe. Zugleich zeigt die Philosophiegeschichte, dass alle Versuche einer rein säkularen Letztbegründung ethischer Werte zum Scheitern verurteilt sind. Mit anderen Worten: Wenn es Gott nicht gäbe, dann wäre alles erlaubt. Also muss das religiöse Bewusstsein in der Gesellschaft mindestens noch so wach sein, dass die Verbindlichkeit der Grundwerte anerkannt wird.
Stimmt dieses Argument, und ist die Religiosität damit tatsächlich unverzichtbar? An diesem Ergebnis scheint kein Weg vorbeizuführen, denn wenn eine philosophische Letztbegründung der Ethik nicht möglich ist, dann bleibt als einzige Form der Wertbegründung ein ethischer Dezisionismus übrig, d.h. jeder wählt sich seine Werte selbst aus, und wenn jemand die Wahl trifft, überhaupt keine Werte zu beachten, dann ist dies genauso möglich. Diese theoretische Konsequenz ist gewiss sehr ernüchternd. Aber kann die Religion überhaupt Abhilfe schaffen? Das ist wiederum mehr als zweifelhaft, denn durch eine religiöse Wertbegründung würde das Begründungsproblem nicht gelöst, sondern nur auf die Religion verschoben werden. Dadurch dürfte das Begründungsproblem aber eher noch komplizierter werden, da außer den Werten nun auch die Wahrheit des religiösen Glaubens, der die Werte begründet, auf dem Prüfstand steht. Zwischen konkurrierenden religiösen Glaubensüberzeugungen objektiv zu entscheiden ist aber unmöglich. Die Anerkennung einer Religion beruht letzten Endes auf einem Glaubensakt und damit nicht weniger auf einer persönlichen Entscheidung als die sittlichen Werte nach der Theorie des ethischen Dezisionismus.
Eine Letztbegründung oder gar ein regelrechter Beweis ethischer Werte scheint also unmöglich zu sein. Die universelle Verbindlichkeit bestimmter Werte lässt sich daher bestenfalls auf Basis eines Konsenses erreichen, auch wenn dies dem Charakter ethischer Werte als unverfügbare Werte zu widersprechen scheint. Dabei dürfte es höchstwahrscheinlich sogar aussichtsreicher sein, den Konsens auf der Ebene der Werte als auf der Ebene der philosophischen oder religiösen Begründung der Werte zu suchen. Denn darüber, dass töten oder stehlen verwerflich ist, lässt sich gewiss leichter eine Einigung erzielen als über die Frage, ob Allah oder der liebe Gott oder die philosophische Vernunft der legitime moralische Gesetzgeber ist. Und dort, wo unversöhnliche Wertauffassungen aufeinanderprallen, würde es eine Einigung erst recht erschweren, wenn der Streit zuerst auf der metaphysischen bzw. existentiellen Ebene entschieden werden soll. Von großer Bedeutung ist dabei, dass die Akzeptanz von Werten nicht zwingend durch die existentielle Haltung eines Menschen bedingt ist, sondern dass sie auch auf der bloßen Einsicht in die Nützlichkeit eines Wertes für das gesellschaftliche Zusammenleben beruhen kann. Weiterhin können Werte auch deshalb akzeptiert werden, weil sie im Dialog mit anderen vereinbart worden sind. Ein Wertkonsens ist daher grundsätzlich auch ohne einen einheitlichen spirituellen Erfahrungshintergrund der Beteiligten denkbar.
Auch in der Frage der Wertbegründung und des gesellschaftlichen Konsenses über bestimmte Grundwerte lautet daher das Ergebnis, dass der Rückgriff auf die Spiritualität keinesfalls notwendig und in der Regel eher hinderlich als förderlich ist.
E. Sinngebung durch die politische Ordnung?
Aus Voegelins Sicht müsste ein ethischer Wertkonsens jedoch als ein höchst brüchiges Fundament der gesellschaftlichen Ordnung beurteilt werden, sofern er sich nicht auf einen einheitlichen spirituellen Erfahrungshintergrund stützen kann. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass Voegelin die Dialogmöglichkeiten zwischen Menschen mit unterschiedlichem spirituellem Erfahrungshintergrund überaus skeptisch beurteilt, was sogar soweit führt, dass Menschen ohne spirituelle Erfahrungen von Voegelin als potentielle Ordnungsstörer eingestuft werden. Ähnliche Auffassungen kehren auch bei manchen Anhängern Voegelins wieder. So wurde die Ansicht, dass die Gegensätze zwischen Menschen, die an die Existenz eines transzendenten Seins glauben, und Menschen, die sie bestreiten, weitgehend unversöhnlich bleiben müssen, solange über diese „Schlüsselfrage“ nicht Einigkeit erzielt worden ist, unlängst von Thomas J. Farrell bekräftigt, der in diesem Zusammenhang die Leugnung der Existenz eines transzendenten Seins unter Berufung auf prominente Psychologen wie C. G. Jung und ganz auf der Linie Voegelins als eine Art Geisteskrankheit deutet. Allerdings räumt auch Farrell ein, dass es Profanbereiche gibt, innerhalb derer ein fruchtbarer Dialog zwischen Menschen, die jene „Schlüsselfrage“ unterschiedlich beantworten, möglich ist.421Vgl. Thomas J. Farrell: The Key Question. A critique of professor Eugene Webbs recently published review essay on Michael Franz’s work entitled “Eric Voegelin and the Politics of Spiritual Revolt: The Roots of Modern Ideology“, in: Voegelin Research News, Volume III, No.2, April 1997, auf: http://alcor.concordia.ca/\~ vorenews/v-rnIII2.html (Host: Eric Voegelin Institute, Lousiana State University. Zugriff am: 1.8.2007). Die Frage stellt sich nun, ob die politische Ordnung zu diesen Profanbereichen des menschlichen Lebens gehört.
Damit ist zugleich eine Grundfrage des Wesens politischer Ordnung angeschnitten: Ist die (in der Neuzeit stets durch den Staat repräsentierte) politische Ordnung nur ein Mittel zu bestimmten Zwecken wie etwa der Schaffung innerer und äußerer Sicherheit, oder ist sie darüber hinaus Ausdruck einer historischen Suche nach Ordnung, die mit dem Sinn der Welt und dem Sinn des Lebens in Zusammenhang steht? Im ersteren Fall kann die politische Ordnung voll und ganz dem Profanbereich zugeordnet werden, so dass eine Einigung über alle wesentlichen Prinzipien der politischen Ordnung auch zwischen Menschen mit unterschiedlicher Offenheit der Seele im Bereich des Möglichen liegt. Nur im letzteren Fall müsste zunächst eine gesellschaftlich verbindliche Entscheidung über die metaphysische Schlüsselfrage der Existenz transzendenten Seins getroffen werden.
Welche dieser beiden grundverschiedenen Wesensauffassungen politischer Ordnung ist nun aber die richtigere? Um diese Frage zu beantworten, empfiehlt es sich, von unterschiedlichen Funktionen des Politischen auszugehen, einer Friedenssicherungsfunktion und einer spirituellen Funktion, und dann zu klären, in welcher Beziehung diese Funktionen zueinander stehen, d.h. insbesondere, ob die politische Ordnung die Friedenssicherungsfunktion nur erfüllen kann, wenn sie auch spirituelle Funktionen erfüllt. Sollte sich herausstellen, dass sich beide Funktionen trennen lassen, dann kann als Nächstes die Frage gestellt werden, welche der beiden Funktionen die für die politische Ordnung wesentlichere ist, und ob es nicht günstiger wäre, die andere Funktion innerhalb eines anderen Rahmens zu erfüllen, also etwa die spirituellen Ziele nicht auf der Ebene der politischen Ordnung sondern im Rahmen privater religiöser Vereinigungen zu verfolgen.
Geht man zunächst einmal davon aus, dass die Stiftung inneren Friedens die Kernfunktion politischer Ordnung ist, so kann man überlegen, was mindestens zu einer politischen Ordnung gehören muss, damit sie diese Kernfunktion erfüllen kann. Sicherlich sind für die Erfüllung der Kernfunktion der Friedenssicherung Herrschaftsinstitutionen notwendig, die die Einhaltung des Friedens garantieren. Weiterhin müssen sich die Herrschaftsinstitutionen auf die Loyalität oder wenigstens den regelmäßigen Gehorsam der Bürger stützen können. Eine politische Ordnung, die die Kernfunktion der Friedenssicherung erfüllen soll, bedarf daher auch einer Legitimation, wozu mindestens eine politische Philosophie oder Herrschaftsideologie vorhanden sein muss, die den Bürgern den Zweck der politischen Ordnung erklärt. Dann könnte eingewandt werden, dass ein echter Frieden noch gar nicht vorhanden ist, solange nicht auch Gerechtigkeit herrscht. Es wären also auch noch Vorkehrungen für die Gerechtigkeit zu treffen usw. . Führt man diese Überlegungen weiter fort, so gelangt man irgendwann einmal zu einer politischen Mindestordnung, die alles umfasst, was notwendig ist, um die Kernfunktion der Friedenssicherung zu erfüllen. Gehört zu dieser Mindestordnung bereits die Funktion der Sinnvermittlung?422Unter Sinnvermittlung ist zu verstehen, dass die politische Ordnung in ihrer Gestalt Ausdruck der in spiritueller Erfahrung erlebten sinnhaften Seinsordnung ist, die sie zugleich ihren Mitgliedern weitervermittelt. Dies trifft die Intention Voegelins besser als der (an sich verständlichere) Ausdruck Sinngebung, da nach Voegelins Verständnis die politische Ordnung keinesfalls die Quelle des Sinns ist, sondern idealiter in die sinnhafte Gesamtordnung der Welt eingebettet ist. Nach den Überlegungen der vorhergehenden Abschnitte ist dies wahrscheinlich nicht der Fall, denn die politische Ordnung bedarf des Rückgriffs auf die spirituelle Erfahrung weder zur Legitimation noch um der Begründung verbindlicher Werte willen, noch ist die spirituelle Erfahrung bei der Bewältigung politischer Probleme von Vorteil. Also ist die Sinnvermittlungsfunktion, wenn überhaupt, eine rein optionale Funktion politischer Ordnung, soweit unter politischer Ordnung die eben angedeutete Mindestordnung zu verstehen ist. Neben der Sinnvermittlungsfunktion sind noch weitere solcher optionaler Funktionen politischer Ordnung denkbar (z.B. Sozialstaatlichkeit423Historisch hatte die Entwicklung des Sozialstaates natürlich durchaus einiges mit der Sicherung des inneren Friedens zu tun, aber für die theoretische Frage, ob und warum der Staat sozialstaatliche Aufgaben übernehmen soll, spielen historisch-kontingente Tatsachen nur bedingt eine Rolle.). Solche Funktionen der politischen Ordnung zuzurechnen ist dann empfehlenswert, wenn ihre Erfüllung am ehesten oder sogar einzig und allein auf der Ebene der politischen Ordnung möglich ist und wenn dabei keine gravierenden Nachteile entstehen. Nun kann die Sinnvermittlungsfunktion aber zweifellos auch anders als im Rahmen der politischen Ordnung erfüllt werden. Die Vermittlung von Lebensinn, die sinnhafte Deutung der Welt und die Erfüllung menschlicher Transzendenzbedürfnisse kann, wenn schon nicht individuell, so doch auf jeden Fall im Rahmen von Kirchen und Religionsgemeinschaften geleistet werden. Es tut der Spiritualität also keinerlei Abbruch, wenn ihr nur ein Platz außerhalb der politischen Ordnung angewiesen wird, während andererseits nicht einzusehen ist, welche Vorteile es haben soll, wenn sie der politischen Ordnung aufgebürdet wird.
Die Tatsache, dass die Spiritualität keineswegs darunter leiden muss, wenn sie nicht als Bestandteil der politischen Ordnung betrachtet wird, scheint Voegelin zu übersehen, wenn er es den Gesellschaftsvertragstheorien zum Vorwurf macht, dass sie sich nur auf die leibliche Seite des Menschen konzentrieren und die geistige Seite des Menschen vernachlässigen.424Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 341/342. Seinem Vorwurf liegt ein fundamentales Missverständnis des Zweckes politischer Ordnung zu Grunde. Die Notwendigkeit politischer Ordnung entsteht letztlich aus dem Umstand, dass Menschen einander in die Quere kommen können und deshalb Abmachungen treffen müssen, damit dies nicht geschieht. Politik hat daher ihrem Wesen nach mehr mit der niederen, materiellen Sphäre der unumgehbaren Notwendigkeiten zu tun als mit der geistigen Sphäre. Es ist deshalb ein Irrtum, von der politischen Ordnung den Ausdruck spiritueller Wahrheit zu verlangen. Und der Verzicht darauf bedeutet keinesfalls eine Leugnung des Geistes, da gerade nach den liberalen Gesellschaftvertragstheorien die politische Ordnung gar nicht beansprucht, das ganze Wesen des Menschen zu erfassen.
Umgekehrt wäre es höchst prekär, religiöse Erfahrungen zu einer Angelegenheit von politischer Bedeutung zu erklären. Denn wenn die politische Ordnung auf eine Erfahrung der Transzendenz gegründet wird, dann wird die Religiosität zu einer Frage der politischen Ordnung. Sie dürfte dann nicht mehr im Belieben des Einzelnen stehen, was erhebliche Probleme für die Religionsfreiheit und Toleranz aufwirft. Dann wäre es in der Tat nur konsequent, nach dem Irrenarzt zu rufen, wenn es Menschen geben sollte, die es wagen, die Transzendenz zu leugnen. Ansonsten ist die Leugnung der Transzendenz eine sehr harmlose „Krankheit“, denn sie beeinträchtigt weder das Lebensglück der Befallenen, noch hindert sie sie daran, die Rechte ihrer Mitbürger zu respektieren.425Dasselbe Argument gilt umgekehrt auch für analoge Versuche, die Religion oder die Religiosität als eine psychopathologische Erscheinung zu verstehen. Vgl. dazu die sehr vernünftigen Ausführungen von Eugene Webb, in: Webb, Review, a.a.O.
Als Gesamtergebnis lässt sich festhalten, dass weder die politische Ordnung der Transzendenzerfahrungen bedarf, noch die Realisierung bzw. der Ausdruck der Transzendenzerfahrungen durch die politische Ordnung geschehen muss. Da andererseits die Forderung der Berücksichtigung spiritueller Erfahrungen bei der Gestaltung politischer Ordnung erhebliche ethische Bedenken hinsichtlich der Toleranz aufwirft, so ergibt sich, dass Transzendenzerfahrungen bei der Gestaltung der politischen Ordnung besser keine Rolle spielen sollten. Kurzum: Wenn es Gott gäbe, müsste man ihn ignorieren – wenigstens in der Politik.
Was bleibt von Eric Voegelin?
Nachdem sich Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie für die Erforschung der geistigen Grundlagen guter politischer Ordnung als so wenig haltbar erwiesen hat, erscheint es mir angebracht, einige Überlegungen dazu anzustellen, welche Rolle Eric Voegelin in der heutigen wissenschaftlichen und politischen Diskussion noch spielen kann, und in welcher Richtung die Auseinandersetzung über sein Werk fortzuführen wäre. Dazu werde ich im folgenden drei Aspekte der Frage der Aktualität von Voegelins Werk ansprechen: 1. Welche Bedeutung kommt Voegelins Philosophie zu? 2. Wie aktuell sind seine Vorstellungen politischer Ordnung und politischer Unordnung? 3. Gibt es dennoch ein politikwissenschaftliches Vermächtnis Eric Voegelins, das fortzuführen sich lohnt.
A. Zum Charakter von Voegelins Philosophie
Die Philosophie Eric Voegelins halte ich, wie aus den bisherigen Ausführungen sicherlich hervorgegangen ist, nicht für sonderlich geglückt. Dabei halten nicht nur die Ergebnisse seiner Philosophie einer kritischen Prüfung nicht stand, auch die Art seines Philosophierens ist keinesfalls nachahmenswert. Voegelins Philosophie, und dies gilt sowohl für seine Geschichtsphilosophie als auch für seine Bewusstseinsphilosophie, ist eine überaus dogmatische Philosophie, sie stellt außerdem eine hochgradig monologische Philosophie dar, und darüber hinaus erscheint sie über weite Strecken als das, was Karl Popper sehr treffend „orakelnde Philosophien“ genannt hat.426Vgl. Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feine. Band II. Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen, 7. Aufl., Tübingen 1992, S. 262ff.
Eine dogmatische Philosophie ist eine Philosophie, die ein Weltbild artikuliert, ohne es zu begründen. Während eine kritische Philosophie versucht, ihre Thesen durch Argumente zu begründen, findet bei einer dogmatischen Philosophie gar keine oder nur eine tautologische Begründung statt oder eine Begründung durch Voraussetzungen, die ihrerseits nicht weniger begründungsbedürftig sind als die begründeten Thesen. Damit ist nicht gesagt, dass dogmatische Philosophien notwendigerweise schlechte Philosophien sind, denn die Bildung und Ausgestaltung eines Weltbildes (oder auch nur einer Unternehmensphilosophie) ist weder eine triviale noch eine unbedeutende Aufgabe, aber dogmatische Philosophien können nur in begrenztem Maße Objektivität für sich in Anspruch nehmen. Und genau in diesem Sinne ist Voegelins Philosophie eine hochdogmatische Philosophie. Deutlich wird dies immer wieder an metaphysischen Voraussetzungen wie Annahme der Existenz eines transzendenten Seinsgrundes, der Ontologie der Seinsstufen, der Auffassung der Geschichte als eines theogonischen Prozesses usw. . Voegelins Philosophie wird dadurch nicht uninteressanter und die Darstellung seines Weltbildes ist ihm einige Male auch in einer ästhetisch und rhetorisch ansprechenden Weise gelungen.427Dies gilt besonders für die Einleitungen von Order and History I und II. (Vgl. Voegelin, Order and History I, S. 1ff. – Vgl. Voegelin, Order and History II, S. 1-20.) – Fast noch schöner hat es aber Thomas Hollweck gesagt: Vgl. Thomas Hollweck: Truth and Relativity: On the Historical Emergence of Truth, in: Opitz, Peter J. / Sebba, Gregor (Hrsg.): The Philosophy of Order. Essays on History, Consciousness and Politics, Stuttgart 1981, S. 125-136. – Für meinen Geschmack jedoch eher misslungen und an eine schlechte Predigt erinnernd: Eric Voegelin: Ewiges Sein in der Zeit, in: Voegelin, Anamnesis, S. 254-280. Aber Voegelins Philosophie ist eben auch nicht mehr als eine Philosophie. Sie ist nicht die Philosophie, und es steht jedem Menschen frei, sich zu ihr zu bekennen oder sie abzulehnen.
Als problematischer stellt sich der monologische Charakter von Voegelins Philosophie dar. Auch diese Eigenschaft hat Voegelins Philosophie mit der Philosophie anderer Denker gemeinsam. Der monologische Charakter findet sich bei Voegelin sowohl auf der Ebene des Philosophierens als auch auf der Ebene seiner philosophischen Doktrin. Auf der Ebene des Philosophierens äußert sich der monologische Charakter in Voegelins heftigen polemischen Ausfällen, in seiner Weigerung, mit jedem, der seine Grundüberzeugungen nicht teilt, auch nur ein Wort zu reden‚428Vgl. Conversations with Eric Voegelin. (ed. R. Eric O’Connor), Montreal 1980, S. 58ff. und in der fast paranoiden Vorstellung einer Ansteckungsgefahr, die von der vermeintlichen Krankheit deformierter Existenz ausgeht, welche er hinter den von ihm unerwünschten Philosophien allzeit vermutete. Wichtiger noch als diese etwas schrulligen Äußerungen eines leidenschaftlichen intellektuellen Temperamentes ist die Rolle des monologischen Prinzips innerhalb von Voegelins Doktrin. Philosophische Wahrheit wird für Voegelin immer von Einzelnen erfahren und dann sprachlich an Andere weitervermittelt, was ein überaus schwieriger Prozess ist, da die Erfahrung, die in gewisser Weise auch eine Verständnisvoraussetzung bildet, im Anderen durch die sprachliche Vermittlung erst angeregt werden muss.429Vgl. auch William C. Harvard, Jr.: Notes on Voegelin’s contributions to political theory, in: in: Ellis Sandoz (Hrsg.): Eric Voegelins Thought. A critical appraisal, Durham N.C. 1982, S. 87-124 (S. 112-113). Nach dieser Vorstellung von philosophischer Wahrheit ist es unmöglich, dass Wahrheit im philosophischen Dialog gefunden wird, denn die Erfahrung eines Menschen kann logischerweise nicht durch Argumente eines anderen Menschen korrigiert werden. Die typische Gesprächssituation, die Voegelins Philosophie zu Grunde liegt, ist daher nicht der Dialog unter Gleichgestellten, sondern stets das belehrende Gespräch, in welchem die Rollen von Lehrer und Schülern, von Führer und Gefolgsleuten, von Prophet und Jüngern klar verteilt sind. Problematisch erscheint am monologischen Charakter von Voegelins Philosophie, dass eine legitime Pluralität von Weltanschauungen dadurch theoretisch ebenso ausgeschlossen ist, wie die gegenseitige Befruchtung gegensätzlicher Standpunkte. Pluralismus war für Voegelin beinahe gleichbedeutend mit Verwirrung, und ein Philosoph, der die Wahrheit existentiell erfahren hat, kann sich durch andere Standpunkte höchstens noch beirren lassen.
Für den heikelsten Punkt halte ich allerdings die philosophische Geheimniskrämerei, zu der Voegelin nicht immer aber in seinen späteren Schriften immer häufiger neigt. Ein philosophischer Geheimniskrämer ist jemand, der das Rätsel und das Gefühl des Geheimnisvollen mehr liebt als die Lösung der Rätsel. Voegelin hat sich in mehrfacher Weise der philosophischen Geheimniskrämerei befleißigt. Dies beginnt mit Voegelins oft unklarer und vieldeutiger Ausdrucksweise, es geht fort über die nicht wenigen technischen Mängel seiner Philosophie, unter denen insbesondere die Schlussfehler der petitio principii, der aquivocatio und des non sequitur einen prominenten Platz einnehmen, und der Höhepunkt ist erreicht, wenn Voegelin sich auf Paradoxien und Mysterien beruft. Ich gebe zu, dass dies eine höchst subjektive Kritik ist, und wer in Hegel einen großen Philosophen sieht, der wird Voegelin wegen seiner Denkfehler gewiss nicht tadeln wollen. Aber mir scheint, dass ein Philosoph, der sich auf ein Mysterium beruft, mit demselben Misstrauen betrachtet werden sollte, wie ein Politiker, der sich auf sein Ehrenwort beruft. Nicht dass von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass es in der Welt Mysterien gibt. Aber bei einem Mysterium hat alles Denken ein Ende, und unter der Berufung auf Mysterien lässt sich jede beliebige Behauptung aufstellen. Deshalb sollte zuerst eine genaue Prüfung stattfinden, bevor die Annahme akzeptiert wird, dass ein Mysterium vorliegt. In dieser Hinsicht scheint mir Voegelin in der Tat mehr als voreilig gewesen zu sein, wenn er etwa von einem Paradox des Bewusstseins spricht, obwohl die Tatsache, dass das Bewusstsein die Welt wahrnehmen kann, von der es selbst zugleich ein Teil ist, doch bestenfalls eine staunenswerte Besonderheit aber gewiss kein Paradoxon ist.430Vgl. Voegelin, Order and History V, S. 14-15. Ebensowenig kann ich mich zu der Ansicht durchringen, dass, wie Voegelin uns im letzten Band von „Order and History“ weismachen will, das Wort „Es“ in dem Satz „Es regnet“ auf eine geheimnisvolle „Es-Realität“ verweist, die die Partner im Sein: Gott, Welt, Mensch und Gesellschaft umgreift.431Vgl. Voegelin, Order and History V, S. 16. Vielleicht gibt es Menschen, die in solchen Philosophemen den tiefsten Ausdruck ihres ureigensten Welterlebens finden können. Für meinen Teil scheint mir jedoch, dass Voegelin hier alle guten Grundsätze des klaren Denkens in den Wind schlägt.
Was bleibt aber von Voegelins Philosophie, wenn sie tatsächlich so sehr mit Irrtümern und Denkfehlern gespickt ist? Sie bleibt immer noch der Ausdruck einer bestimmten und, wenn man sich an die besseren von Voegelins Schriften hält, zuweilen reichen und tiefen Weltanschauung. Wenn man die Aufgabe der Philosophie nicht nur, wie es die analytische Philosophie in der Tradition des Neupositivismus tut, in der Beantwortung wissenschaftlich klärbarer Fragen sieht, sondern auch in der Artikulation und Verständigung über weltanschauliche Überzeugungen, dann ist das immerhin etwas.
B. Zur Frage der Aktualität von Voegelins Ordnungsentwurf
Die Frage der Aktualität von Voegelins Ordnungsentwurf bedarf keiner langen Erörterungen, da die Antwort hierauf eindeutig ausfällt, und sie sich auch in der wissenschaftlichen Voegelin-Debatte mehr und mehr durchzusetzen scheint.432Vgl. Webb, Review, a.a.O. Voegelins Vorstellung von politischer Ordnung ist in hohem Maße bedingt und beeinflusst durch das Zeitalter der Ideologien und des Totalitarismus, in welchem sie entstanden ist. Voegelin hatte selbst vor dem Nationalsozialismus fliehen müssen. Nicht minder gegenwärtig waren ihm die Verbrechen der kommunistischen Regime und die Menschheitsbedrohung durch das atomare Wettrüsten. Unter solchen Bedingungen kann ein Gefühl von Sicherheit nur schwer aufkommen, und dies erklärt zum Teil Voegelins polemischen Eifer, welcher sich womöglich einem Gefühl der Dringlichkeit verdankt, das nach dem Ende des kalten Krieges nicht mehr unmittelbar verständlich wirkt. Die Zeitumstände erklären auch einiges von dem, was man die metaphysische Überhöhung des Politischen bei Voegelin nennen könnte. Aus heutiger Sicht mag es sehr befremdlich und unwissenschaftlich wirken, die metaphysische Kategorie des Bösen in die Politikwissenschaft einführen zu wollen.433Vgl. Voegelin, Eric: Die politischen Religionen, München 1996 (zuerst 1938). Aber um mit einer Erscheinung wie dem Nationalsozialismus fertig zu werden erscheint dieser Versuch, wiewohl wissenschaftlich fragwürdig, doch nicht ganz unverständlich. Vor dem zeithistorischen Hintergrund ist es daher sehr wohl nachvollziehbar, dass Voegelin sich nicht auf die Frage beschränkte, welches die geeignetsten politischen Institutionen für einen guten Staat sind, sondern dem Übel an die Wurzel gehen wollte und nach den metaphysischen Bedingungen wahrer politischer Ordnung fragte.
Indes leben wir heute mit einer liberalen politischen Ordnung, die seit über fünfzig Jahren stabil ist, und die auch keine Risse aufzuweisen scheint, obwohl sich die Gesellschaft gegenüber den Fünfziger Jahren gewiss noch weiter säkularisiert hat, was Voegelins Grundthesen über die Ursachen politischer Unordnung doch sehr zweifelhaft erscheinen lässt. Dazu vermitteln Voegelins Äußerungen über politische Ordnung nicht selten den Eindruck, dass es Voegelin weit eher darauf ankam, eine wahre politische Ordnung (nach den Maßstäben seiner privatreligiösen Überzeugungen) zu finden als eine im moralischen und pragmatischen Sinne gute politische Ordnung. Als recht gravierend fällt dabei ins Gewicht, dass Voegelin in seinem metaphysischen Eifer oft hart an der Grenze zum religiösen Fanatismus operiert. Seine Suche nach der wahren Ordnung beschwört dadurch die „entgegengesetzte Gefahr“ (John H. Herz434Vgl. John H. Herz: Politischer Realismus und politischer Idealismus. Eine Untersuchung von Theorie und Wirklichkeit, Meisenheim am Glan 1959. Mit der „entgegengesetzten Gefahr“ bezeichnet Herz die besonders dem politischen Idealismus inhärente Gefahr bei der Bekämpfung politischer Missstände durch das Mittel der Bekämpfung genau den entgegengesetzten Missstand herbeizuführen. (Beispiel: Die Bekämpfung des kapitalistischen Ausbeutungssystems mündet in die kommunistische Diktatur.)) der religiösen und weltanschaulichen Intoleranz herauf. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist uns heutzutage bei der Suche nach guter politischer Ordnung mit etwas „altmodischem Liberalismus“ weitaus besser gedient als mit Voegelins metaphysischen Rezepturen.
C. Was sollte dennoch bleiben?
Wenn Voegelins Philosophie nichts hergibt, und seine politische Ordnungsvorstellung nichts taugt, wäre es dann nicht besser, Eric Voegelin ganz zu vergessen? Zwei wichtige Gründe lassen es, trotz aller Kritik, wünschenswert erscheinen, Eric Voegelin dem drohenden Vergessen zu entreißen. Zum einen ist da Voegelins imposante Gelehrsamkeit. Voegelins Interpretationen der Klassiker des politischen Denkens fallen zwar häufig sehr eigenwillig aus – nicht zuletzt deshalb, weil sich Voegelin meist nur auf ganz bestimmte und scheinbar willkürlich ausgewählte Textpassagen bezieht. Aber Voegelins Auswahl vollzieht sich fast immer vor dem Hintergrund einer profunden Kenntnis des Gesamtwerkes. Wenn Voegelin daher auch die falsche Quelle ist, um sich über die Klassiker des politischen Denkens zu informieren, so dürften Kenner eines Denkers, den Voegelin behandelt hat, bei Voegelin oft einen ausgefallenen Kommentar auf hohem intellektuellen Niveau finden.
Zweitens gilt es die bedeutende kulturwissenschaftliche Horizonterweiterung festzuhalten, die die Politologie durch Eric Voegelin erfahren hat. Darin besteht, wenn man so will, das eigentliche Vermächtnis des Politikwissenschaftlers Voegelin und in dieser Hinsicht ist Voegelin gerade in der heutigen Zeit von großer Aktualität, denn der Umgang mit fremden Kulturen erfordert auch für die Politik und die politische Theorie nicht nur eine Kenntnis der Gesetze und Spielregeln von Diplomatie und Außenpolitik, sondern auch ein Verständnis dieser Kulturen selbst. Dabei ist allerdings zu hoffen, dass Voegelins Denken als Vorbild für ein einfühlendes Verständnis fremder Kulturen dient, und nicht im Fahrwasser von Samuel Huntingtons „Zusammenprall der Kulturen“ zur düsteren Prophetie unüberbrückbarer Gegensätze missbraucht wird.435Zur Aktualität Voegelins im Zusammenhang mit Huntingtons Theorie: Vgl. Michael Henkel: Eric Voegelin zur Einführung, Hamburg 1998, S. 167.
Von entscheidender Bedeutung für die Nachwirkung Eric Voegelins dürfte es jedoch sein, dass die Diskussion um Voegelins Werk mit der notwendigen kritischen Distanz geführt wird, was die bisherige Sekundärliteratur zu Eric Voegelin eher vermissen lässt. Der sicherste Weg, Eric Voegelin zu einem Nischendasein in den Zirkeln religiöser Sektierer zu verdammen, besteht darin, seine Ressentiments, besonders seinen an Don Quichotte gemahnenden Kampf gegen echte und vermeintliche Gnostiker in allen Formen und Farben, zu einem unverzichtbaren Wesensbestandteil seiner Wissenschaft zu erklären.436Vgl. Maben W. Poirier: VOEGELIN– A Voice of the Cold War Era ...? A COMMENT on a Eugene Webb review, in: Voegelin Research News, Volume III, No.5, October 1997, auf: http://alcor.concordia.ca/\~ vorenews/V-RNIII5.HTML (Host: Eric Voegelin Institute, Lousiana State University. Zugriff am: 1.8.2007). Gerade hier wäre es notwendig, eine kritische Sonderung vorzunehmen, was bei Voegelin Wissenschaft und was Vorurteil ist. Immerhin sind zu einer auch kritischen Auseinandersetzung mit Voegelin mittlerweile schon einige interessante Beiträge erschienen.437z.B. Michael Henkel: Positivismuskritik und autoritärer Staat. Die Grundlagendebatte in der Weimarer Staatsrechtslehre und Eric Voegelins Weg zu einer neuen Wissenschaft der Politik (bis 1938), München 2005. – Sehr deutlich auch: Hans Kelsen: A New Science of Politics. Hans Kelsen’s Reply to Eric Voegelin’s „New Science of Politics“. A Contribution to the Critique of Ideology (Ed. by Eckhart Arnold), Heusenstamm 2004. Ein weiterer wichtiger Punkt, der zur Entmystifikation Voegelins beitragen könnte, ist die Erforschung von Voegelins Biographie, insbesondere seiner frühen Jahre. Wie einige der inzwischen erschienenen Studien zu dieser Phase von Voegelins Biographie zeigen‚438Herausgegriffen seien hier nur: Michael Henkel, a.a.O. – Hans-Jörg Sigwart: Das Politische und die Wissenschaft. Intellektuell-biographische Studien zum Frühwerk Eric Voegelins, Würzburg 2005. – Claus Heimes: Antipositivistische Staatslehre. Eric Voegelin und Carl Schmitt zwischen Wissenschaft und Ideologie, München 2004. – Eckhart Arnold: Eric Voegelin als Schüler Hans Kelsens, erscheint voraussichtlich Wien 2007. verlief Voegelins geistige Entwicklung in dieser Zeit viel spannungsgeladener als seine Autobiographie dies vermuten lässt, denn Voegelin war gerade in jungen Jahren von jenen irrationalistischen Strömungen der Geisteskultur der Zwanziger und Dreißiger Jahre nicht wenig beeinflusst, gegen deren politische Auswüchse er dann später wissenschaftlich zu Felde zog. Allerdings herrscht, was diesen Teil von Voegelins Biographie angeht sicherlich immer noch Diskussionsbedarf.
Schließlich könnte eine zukünftige Voegelin-Forschung auch davon profitieren, wenn sie sich von der, wie es scheint, insgesamt immer noch zu engen Fixierung auf die Deutung von Voegelins Werk selbst lösen und sich vermehrt den von Voegelin untersuchten Sachfragen zuwenden würde. Dazu gehört beispielsweise die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik oder auch die Frage möglicher kultureller Vorbedingungen des Gelingens demokratischer Ordnung. Dies wäre, sollte man meinen, ganz in Voegelins Sinne.
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Zusammenfassung
Zusammenfassung in deutscher Sprache: Eric Voegelin glaubte, dass eine moralisch akzeptable und langfristig erfolgreiche (und das hieß für den Emigranten Voegelin vor allem: totalitarismusresistente) politische Ordnung nur auf Grundlage einer gesunden Religiosität der Bürger und insbesondere des politischen Führungspersonals errichtet werden kann. Der Frage, wie eine gesunde Religiosität bzw. ein gesundes Transzendenzbewusstein beschaffen sein muss, versuchte Voegelin sowohl durch geistesgeschichtliche als auch durch bewusstseinsphilosophische Untersuchungen nachzuspüren. In diesem Buch wird die Bewusstseinsphilsophie Voegelins und die sich darauf gründende politische Ordnungsvorstellung einer eingehenden Kritik unterzogen. Im Ergebnis führt dies zu einer Absage an die politische Theologie Voegelinscher oder auch anderer Prägung und zu einem entschiedenen Plädoyer für die Trennung von Religion und Politik.
English Abstract: Eric Voegelin believed that a morally acceptable and in the long run successful political order (which meant for the emigrant Voegelin primarily an order that is resistant to totalitarianism) can only be built on the foundation of a healthy religiosity of the citizens and the political leaders. The question of what a healthy religiosity or a healthy consciousness of the transcendent is was examined by Voegelin by recurring to intellectual history and to the philosophy of consciousness. In this book a detailed criticism not only of Voegelin’s philosophy of consciousness but also of the concept of political order based on this philosophy will be given. This results in a rejection of political theology of a Voegelinian or other brand and a resolute defense of the separation of religion and politics.
Über den Autor: Eckhart Arnold (Jahrgang 1972) hat in Bonn Politische Wissenschaften, Öffentliches Recht und Philosophie studiert. Nach seinem Magisterabschluss im Jahr 2000 hat er zunächst für mehrere Jahre an der Erfurt School of Public Policy in der „Entwicklung multimedialer Lehrmethoden im Bereich Public Policy“ gearbeitet. Anschließend war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Theoretische Philosophie in Düsseldorf tätig, wo er vor kurzem seine Dissertation zu dem Thema „Explaining Altruism. A Simulation-Based Approach and its Limits“ fertig gestellt hat. Seit Oktober 2007 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bayreuth im Studiengang „Philosophy & Economics“.