Nachdem im zweiten Teil dieses Buches Voegelins Bewusstseinsphilosophie überwiegend unter einer philosophischen Perspektive betrachtet wurde, soll nun wieder die Beziehung zur Politik hergestellt werden. Voegelin ging es mit seinen bewusstseinsphilosophischen Untersuchungen nicht bloß um die seelische Ordnung der menschlichen Einzelexistenz, sondern vor allem auch um die politische Ordnung der Gesellschaft. Nicht umsonst trägt die große bewusstseinsphilosophische Abhandlung, die den Schlussteil seines Werkes „Anamnesis“ bildet, die Frage nach der politischen Realität im Titel. Im folgenden wird zunächst versucht zu klären, inwiefern für Voegelin spirituelle Erfahrungen die Voraussetzung guter politischer Ordnung bilden und von welcher Gestalt eine politische Ordnung ist, die die spirituelle Erfahrung nach Voegelins Maßstäben in angemessener Weise berücksichtigt. Anschließend wird, losgelöst von Voegelins Theorie, in Bezug auf einige Grundfragen politischer Ordnung untersucht, ob politische Ordnung ohne eine spirituelle Grundlage auskommen kann.
Bereits bei der Untersuchung von Voegelins Bewusstseinsphilosophie fiel auf, dass die Zusammenhänge zwischen den spirituellen Erfahrungsgrundlagen politischer Ordnung und der politischen Ordnung selbst, die sich als rechtliche und institutionelle Ordnung einer Gesellschaft konkretisiert, merkwürdig im Dunkeln bleiben. Zwar lässt Voegelin keine Gelegenheit aus, um vor den verhängnisvollen Folgen zu warnen, die ein Verlust des Erfahrungskontakts zum transzendenten Seinsgrund nach seiner Überzeugung unweigerlich nach sich zieht, aber diese Warnungen sind wissenschaftlich kaum präziser, als es die pauschale Behauptung wäre, dass alles Unheil unserer Zeit eine Folge der menschlichen Gottlosigkeit sei. Alles läuft bei Voegelin letztlich auf die anthropologische These hinaus, dass der Mensch des Kontakts zum Seinsgrund bedarf, um seine Existenz zu ordnen, und dass keine politische Ordnung erzielt werden kann, wenn nicht sowohl auf der Seite der Herrschenden als auch auf der Seite der Beherrschten der in genau dieser Weise existentiell geordnete Menschentypus dominiert. Man mag einwenden, dass Voegelin im Rahmen seiner bewusstseinsphilosophischen Untersuchungen aus Gründen der thematischen Beschränkung diese Punkte nur habe andeuten können. Doch auch in seinen anderen Schriften beschäftigt sich Voegelin fast ausschließlich mit der geistigen Seite politischer Ordnung und fast nie mit dem Zusammenhang der geistigen Grundlagen und der konkreten Machtordnung, wiewohl er an der Ansicht, dass zwischen beiden Bereichen eine unmittelbare Beziehung besteht, offenbar keinerlei Zweifel hat.
Wie wenig erklärende Kraft Voegelins Theorie hat, wenn er tatsächlich einmal versucht, mit ihr die Ursachen gesellschaftlicher Unordnung zu beschreiben, lässt sich am besten an einem Beispiel nachvollziehen: In seinem 1959 gehaltenen Vortrag „Die geistige und politische Zukunft der westlichen Welt“ stellt Voegelin ein „Gesetz der westlichen Ordnung“ auf, welches besagt, dass es drei „Autoritätsquellen“ der Ordnung gibt, erstens die herrscherliche Macht, zweitens die Vernunftphilosophie und drittens die religiöse Offenbarung, und dass Ordnung herrscht, solange diese Autoritätsquellen relativ autonom voneinander bleiben, Unordnung aber dann, wenn sie zusammenfallen.
Ob die Berücksichtigung der spirituellen Erfahrung für die Herstellung politischer Ordnung überhaupt irgendwelche Vorteile erbringt, lässt sich nicht zuletzt deshalb nur schwer klären, weil Voegelin niemals deutlich mitteilt, von welcher Gestalt eine optimal erfahrungsbegründete politische Ordnung sein würde.
Dieser Frage, ob politische Ordnung überhaupt eine spirituelle Grundlage benötigt, um eine erfolgreiche und gerechte politische Ordnung zu sein, soll im folgenden nachgegangen werden.
Dasjenige, was Voegelins Philosophie der politischen Ordnung so hoffnungslos anachronistisch erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass er spezifische religiöse Glaubensüberzeugungen als objektiv wahr voraussetzt. Voegelin hält es für eine unbestreitbare Tatsache, dass es einen transzendenten Seinsgrund gibt und dass wir zu diesem transzendenten Seinsgrund in einer Beziehung stehen, die er mit Ausdrücken wie „Spannung zum Grund“ beschreibt. Dass Voegelin seine religiösen Vorstellungen stets nur mit vagen und undeutlichen Worten umschreibt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ihre Wahrheit streng dogmatisch voraussetzt. Zudem bildet der Vorwurf der Ignoranz und der Fehldeutung dieser religiösen Wahrheiten seine beinahe einzige Erklärung für jede Art politischer Unordnung. Es ist daher nicht verkehrt zu sagen, dass Voegelin diese religiösen Wahrheiten für eine Art von spirituellen Sachzwängen hält, die die Politik berücksichtigen muss, z.B. indem sie – wie schon zitiert – „sehr energisch mit Parteiverboten“
Die Vorstellung, dass die Politik spirituelle Sachzwänge berücksichtigen muss, mag nun heutzutage in der westlichen Welt vollkommen anachronistisch erscheinen. Die Tatsache aber, dass diese Vorstellung in dem sicherlich größten Teil der Menschheitsgeschichte als selbstverständlich galt, wenn nicht gar eine bestimmende Rolle gespielt hat, und dass ein Politikwissenschaftler wie Voegelin sie in der Gegenwart artikulieren und ernst genommen werden konnte, lässt es nicht ungeraten erscheinen, sie einmal ganz naiv als Frage zu formulieren und zu untersuchen, ob es nicht vielleicht tatsächlich spirituelle Sachzwänge der ein oder anderen Art gibt. Hierbei sind drei Varianten der These zu unterscheiden:
1. Der ersten denkbaren Variante zufolge gibt es objektive spirituelle Sachzwänge, soll heißen: Wenn die Menschen das transzendente Sein nicht in der gebührenden Weise berücksichtigen, so zieht dies ernste Konsequenzen seitens des transzendenten Seins nach sich. Sintfluten, Schwefelregen und andere Unbill, mit der zornige Götter die zuchtlose Menschenbrut zu strafen pflegen, sind dann mindestens die Folge. Da die Härte solcher Strafen nicht immer nur die jeweiligen Missetäter, sondern unter Umständen die gesamte Gemeinschaft trifft, wäre es auch eine Aufgabe der Politik, durch Maßnahmen, die dem Erhalt der spirituellen Volksgesundheit dienen, die Bevölkerung zu schützen.
Es gibt allerdings mindestens zwei starke Gründe, die dagegen sprechen, dass diese Art von objektiven spirituellen Sachzwängen tatsächlich existiert: 1) Naturkatastrophen haben natürliche Ursachen, über die wir dank der Wissenschaft inzwischen ziemlich gut bescheid wissen. Würden Naturkatastrophen tatsächlich eine Folge der Vernachlässigung der Transzendenz sein, dann müsste man dagegen erwarten, dass ihr Eintreten eher moralischen als natürlichen Gesetzmäßigkeiten folgt. 2) Unabhängig davon, welche religiösen Überzeugungen man für die wahren hält, werden Ungläubige von großen Katastrophen nicht deutlich häufiger getroffen als Gläubige. Das bedeutet aber, dass man sich durch die richtige Religionspolitik gar nicht vor derartigen Katastrophen schützen kann. Objektive spirituelle Sachzwänge der oben angedeuteten Art, denen die Politik Rechnung tragen könnte oder müsste, scheint es also nicht zu geben.
2. Von dieser, zugegeben recht abergläubischen Vorstellung, existiert eine modernere, psychologisierte Variante. Dieser Variante zufolge zieht eine gestörte Beziehung zum transzendenten Seinsgrund keine Konsequenzen seitens des transzendenten Seinsgrundes nach sich, sondern der Mensch macht sich dadurch das Leben selbst unerträglich, weil er einer gesunden Beziehung zur Transzendenz zutiefst bedarf. Ebenso wie bei der ersten Variante der These wird vorausgesetzt, dass es eine objektive Wahrheit bezüglich der Transzendenz gibt. Nur bilden nicht Naturkatastrophen die Folge der Vernachlässigung oder Fehlinterpretation dieser Wahrheit, sondern sie führt in den seelischen Wahnsinn. Zur Unterscheidung von der ersten Variante der These der Existenz spiritueller Sachzwänge könnte man in diesem Fall von subjektiven spirituellen Sachzwängen sprechen. Sehr eindrucksvoll ist die Vorstellung, dass es subjektive spirituelle Sachzwänge gibt, von Dostojewski literarisch gestaltet worden, z.B. in dem Roman „Die Dämonen“, wo sie – ein Gegenentwurf zu Turgenjews „Väter und Söhne“ – als Abwärtsbewegung von der Generation der Väter zu der der Söhne in Erscheinung tritt: Stepan Trofimowitsch Werchowenski, der Repräsentant der Vätergeneration, ist ein im Grunde genommen noch sehr liebenswerter, aber natürlich naiver und vertrottelter liberaler Romantiker. Die fatalen Konsequenzen des Verlustes der religiösen Bindungen treten erst in seinem gefühlskalten und skrupellosen Sohn Pjotr Stepanowitsch Werchowenski hervor, der sich von dem „dämonischen“ Nikolai Stawrogin zum Mord inspiriren lässt.
Gegen diese schwächere, psychologisierte Variante der These von den „spirituellen Sachzwängen“ gibt es ebenfalls gravierende Einwände, auch wenn die Situation hier schon ein wenig komplizierter ist. Ähnlich wie im Fall der Naturkatastrophen stimmt es einfach nicht, dass seelische Gesundheit ein Privileg nur von solchen Leuten ist, die über die richtige religiöse „Erfahrungsbasis“ verfügen. Seelisches Wohlbefinden kann sich bei den Anhängern der allerverschiedensten religiösen Überzeugungen mit entsprechend unterschiedlichen „Bewusstseinserfahrungen“ einstellen. Es kommt bei der Religion nur darauf an, was für wen passt. Und das kann für jeden etwas anderes sein. Etwas komplizierter liegt der Fall bei der psychologisierten Variante aber insofern, als die Existenz irgendwelcher Kausalzusammenhänge zwischen der Religiosität und dem seelischen Wohlbefinden sowie zwischen der Religiosität und dem moralischen und unter Umständen auch dem politischen Wohlverhalten sehr wohl anzunehmen ist. Nur, dass das persönliche Wohlbefinden und das sittliche Wohlverhalten von dem religiösen Wahrheitsgrad der weltanschaulichen Einstellung abhängen sollen, ist eine These, die die Wissenschaft unmöglich bestätigen kann, da sich wissenschaftlich nicht über religiöse Wahrheiten urteilen lässt. 3. Die dritte Variante der These trägt diesem Einwand Rechnung. Sie setzt daher auch nicht mehr irgendwelche religiösen Überzeugungen als wahr voraus oder spricht – im Sinne Voegelins – ganz spezifischen religiösen Erfahrungen eine höhere Adäquatheit zu als anderen. Behauptet wird lediglich, dass es kausale Beziehungen zwischen der religiösen Einstellung und dem politischen Verhalten von Menschen geben kann, denen die Politik Rechnung tragen sollte. Genaugenommen handelt es sich dann aber nicht mehr um „spirituelle Sachzwänge“, sondern lediglich um anthropologische Sachzwänge. Die Politik muss die Tatsache der Religiosität als einer wesentlichen Eigenschaft des Menschen berücksichtigen, nicht zuletzt deshalb, weil religiöse Institutionen einen erheblichen politischen Einfluss ausüben können. Das ist aber etwas ganz anderes, als wenn die Politik unmittelbar religiöse Glaubenssätze zu berücksichtigen hätte.
Fasst man das Verhältnis von Religion und Politik ausschließlich im Sinne dieser dritten Variante auf, so hat das bedeutende Konsequenzen für den Umgang mit potentiell gefährlichen religiösen oder weltanschaulichen Gruppierungen. Die Auseinandersetzung mit solchen Gruppierungen braucht nun nicht mehr um religiöse Wahrheitsansprüche geführt zu werden. Sie kann wesentlich pragmatischer als eine Auseinandersetzung um deren äußeres Verhalten und säkulare Einstellung (d.h. ihre Einstellung gegenüber dem Rest der Gesellschaft und ihre Haltung zum gesellschaftlichen Zusammenleben, nicht aber ihre Einstellung zu religiösen und metaphysischen Fragen im engeren Sinne) ausgetragen werden. Dementsprechend braucht, wenn überhaupt, auch erst dann „sehr energisch mit Parteiverboten zugegriffen werden“‚
Welcher Art die kausalen Beziehungen zwischen religiöser Einstellung und politischem Verhalten sind, darüber kann man im Einzelnen sehr unterschiedliche Theorien aufstellen. Einer besonders unter Anhängern Voegelins populären Ansicht zufolge führt der Verlust religiöser Bindungen dazu, dass eine Art religiöses Vakuum entsteht, das dann von politischen Ideologien aufgefüllt werden kann. In diesem Sinne ist z.B. Voegelins Rede von der „positivistischen Destruktivität“
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Spirituelle Sachzwänge im Sinne religiöser Wahrheiten oder Tatsachen, seien dies nun göttliche Strafen oder eine vermeintlich unleugbare „Spannung zum Grund“, die das politische Handeln berücksichtigen müsste, gibt es nicht. Was die Politik berücksichtigen muss ist allein das anthropologische Faktum, dass die meisten Menschen religiös sind. Je nachdem welche Vorstellung man von der Religiosität und insbesondere der Dominanz religiöser Motive für das menschliche Handeln hat, könnte damit aber immer noch die These vereinbar sein, dass die Politik es sich nicht erlauben kann, den religiösen Bereich unbesetzt zu lassen. Dass dem nicht so ist, dafür soll in den folgenden Abschnitten argumentiert werden.
Ein entscheidendes Problem einer jeden politischen Ordnung, bei welchem der Rückgriff auf religiöse Wahrheiten naheliegend erscheinen könnte, ist das Problem der Legitimation der politischen Ordnung. Die Legitimation erfüllt eine zweifache Funktion. Zum einen soll sie die grundsätzliche Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen zur Herrschaftsordnung sicherstellen. Zum anderen dient sie der Motivation von Einsatzbereitschaft für den eigenen Herrschaftsverband, was besonders im Kriegsfall von großer Bedeutung ist. Es stellt sich nun die Frage, ob eine Legitimation politischer Ordnung ohne Inanspruchnahme der menschlichen Religiosität möglich ist, und ob sie genügend Intensität erreicht, um die Stabilität des politischen Systems auch in Krisenzeiten zu gewährleisten.
Die heutzutage in der westlichen Welt übliche Form der Legitimation ist die einer Gesellschaftsvertragstheorie. Die Gesellschaftsvertragstheorie legitimiert dabei sowohl die Existenz eines Staates überhaupt als auch im besonderen die demokratische Herrschaftsform. Die Existenz des Staates wird dadurch legitimiert, dass ohne Staat der Einzelne vor Übergriffen von seinesgleichen auf sein Leben und Vermögen keinen Augenblick sicher ist, so dass die Menschen ohne Staat ohnehin nichts Besseres tun könnten, als durch Vertrag einen Staat zu gründen, der sie voreinander beschützt. Die demokratische Herrschaftsform wird dadurch legitimiert, dass sie diejenige Herrschaftsform ist, zu der die Menschen in einem auf Basis freier Zustimmung geschlossenen Vertrag am ehesten ihre Zustimmung geben könnten, da sie ihnen nicht nur vor den Übergriffen der Mitbürger sondern auch vor dem Machtmissbrauch des Herrschers die größte Sicherheit bietet.
Die Gesellschaftsvertragstheorien rechtfertigen die Existenz des Staates und die demokratische Herrschaftsform, indem sie sich rational einleuchtender Argumente bedienen. Der Sinn des Staates wird dabei hinreichend durch den Zweck der Schaffung innerer Sicherheit erklärt, ein Zweck der, so sollte man meinen, im Eigeninteresse eines jeden Menschen liegt. Eine zusätzliche Legitimation, etwa durch göttliche Autorität, könnte innerhalb dieses Gedankenganges sogar problematisch erscheinen, denn, wenn es nicht schon genügend rationale Gründe gäbe, um die Existenz des Staates zu legitimieren, dann hätte der Staat ohnehin kein Existenzrecht, und alle weiteren Rechtfertigungen seiner Existenz müssten als Ideologie verworfen werden.
Eine Legitimation politischer Ordnung ohne religiösen Bezug scheint also grundsätzlich möglich zu sein, wenn man voraussetzt, dass die Menschen vernünftig genug sind, um ihre eigenen Interessen zu erkennen. Erweist sich diese Art der Legitimation aber auch als krisenfest, wenn die politische Ordnung vor besonderen Herausforderungen steht? Sind die liberalen Demokratien im Falle eines Krieges in der Lage, ohne die Mobilisierung religiöser Energien in genügendem Maße Opferbereitschaft für sich zu motivieren? Und handeln sie sich bei der Auseinandersetzung mit ideologischen Bewegungen im Inneren nicht einen entscheidenden Nachteil dadurch ein, dass sie die religiösen Gefühle der Bürger unangetastet lassen müssen (und wollen)?
Gegen die erste dieser Befürchtungen kann eingewandt werden, dass auch in den liberalen Demokratien angesichts äußerer Herausforderungen gesellschaftliche Mechanismen wirksam werden, die die Abwehrbereitschaft der demokratischen Gesellschaft erheblich stärken. So macht sich im Falle eines Krieges oft eine Art von innerem Zusammenrücken der Gesellschaft bemerkbar, das sich beispielsweise in einer schlagartigen Zunahme der Beliebtheitswerte der jeweiligen Regierung äußern kann. Auch haben sich beispielsweise im Zweiten Weltkrieg die Soldaten, die auf Seiten der liberalen Demokratien kämpften, nicht weniger tapfer geschlagen als die Armeen der totalitären Regime, was beweist, dass im Ernstfall durch quasi-religiöse Sinnversprechungen keine wesentlichen Vorteile zu erzielen sind. Weit entfernt davon, eine Schwachstelle der liberalen Ordnung zu offenbaren, können äußere Herausforderungen diese Ordnung sogar erheblich stärken.
Ebensowenig zwingend ist das Argument, dass ein rein rational legitimiertes System keine ausreichende Immunität gegen die verführerische Kraft chiliastischer politischer Bewegungen im Inneren entwickeln könnte. Zumindest ist nicht unmittelbar ersichtlich, wie eine spirituelle oder religiöse Legitimationskomponente hier Abhilfe schaffen könnte. Jede Form der Legitimation kann zusammenbrechen, wenn das politische System, das durch sie legitimiert wird, sich als erfolglos erweist oder wenn sie durch eine vom Geist der Zeit als überzeugender empfundene Legitimation herausgefordert wird. Dies würde auch für eine Legitimation auf Basis der existentiellen Spannung zum transzendenten Seinsgrund gelten, ganz gleich, welches Maß philosophischer Wahrheit diese Legitimation für sich beanspruchen dürfte. Zudem ließe sich die Überlegung anstellen, das gerade spirituelle Legitimationskomponenten ein Einfallstor für Ideologien darstellen könnten, da durch sie dem Irrationalismus bereits öffentlicher Glaubwürdigkeitskredit eingeräumt wird.
Auch wenn das Problem der hinreichenden Legitimation politischer Ordnung mit großen Unsicherheiten behaftet ist (da sich nicht bloß die Frage stellt, wodurch eine politische Ordnung philosophisch gerechtfertigt ist, sondern vor allem, wann eine politische Ordnung als gerechtfertigt empfunden wird) scheint der Rückgriff auf religiöse Überzeugungen oder spirituelle Erfahrungen für die Legitimation politischer Ordnung nicht unbedingt erforderlich zu sein.
Ein wichtiges Argument, welches für die Religion und besonders für eine stärkere Geltung der Religion im gesellschaftlichen Leben angeführt werden könnte, beruht auf dem philosophischen Problem der Letztbegründung ethischer Werte. Dieses Argument lautet in etwa wie folgt: Keine Gesellschaft, so könnte argumentiert werden, kann ohne einen Satz verbindlicher ethischer Grundwerte existieren. Es wäre aber absurd, diese Grundwerte, die absolut gelten müssen, zur Disposition eines Konsensfindungsverfahrens zu stellen, sei dies nun eine verfassungsgebende Versammlung oder auch nur ein gedachter Gesellschaftsvertrag, zumal dann immer noch die Gültigkeit des Verfahrens als Wertvoraussetzung übrig bliebe. Zugleich zeigt die Philosophiegeschichte, dass alle Versuche einer rein säkularen Letztbegründung ethischer Werte zum Scheitern verurteilt sind. Mit anderen Worten: Wenn es Gott nicht gäbe, dann wäre alles erlaubt. Also muss das religiöse Bewusstsein in der Gesellschaft mindestens noch so wach sein, dass die Verbindlichkeit der Grundwerte anerkannt wird.
Stimmt dieses Argument, und ist die Religiosität damit tatsächlich unverzichtbar? An diesem Ergebnis scheint kein Weg vorbeizuführen, denn wenn eine philosophische Letztbegründung der Ethik nicht möglich ist, dann bleibt als einzige Form der Wertbegründung ein ethischer Dezisionismus übrig, d.h. jeder wählt sich seine Werte selbst aus, und wenn jemand die Wahl trifft, überhaupt keine Werte zu beachten, dann ist dies genauso möglich. Diese theoretische Konsequenz ist gewiss sehr ernüchternd. Aber kann die Religion überhaupt Abhilfe schaffen? Das ist wiederum mehr als zweifelhaft, denn durch eine religiöse Wertbegründung würde das Begründungsproblem nicht gelöst, sondern nur auf die Religion verschoben werden. Dadurch dürfte das Begründungsproblem aber eher noch komplizierter werden, da außer den Werten nun auch die Wahrheit des religiösen Glaubens, der die Werte begründet, auf dem Prüfstand steht. Zwischen konkurrierenden religiösen Glaubensüberzeugungen objektiv zu entscheiden ist aber unmöglich. Die Anerkennung einer Religion beruht letzten Endes auf einem Glaubensakt und damit nicht weniger auf einer persönlichen Entscheidung als die sittlichen Werte nach der Theorie des ethischen Dezisionismus.
Eine Letztbegründung oder gar ein regelrechter Beweis ethischer Werte scheint also unmöglich zu sein. Die universelle Verbindlichkeit bestimmter Werte lässt sich daher bestenfalls auf Basis eines Konsenses erreichen, auch wenn dies dem Charakter ethischer Werte als unverfügbare Werte zu widersprechen scheint. Dabei dürfte es höchstwahrscheinlich sogar aussichtsreicher sein, den Konsens auf der Ebene der Werte als auf der Ebene der philosophischen oder religiösen Begründung der Werte zu suchen. Denn darüber, dass töten oder stehlen verwerflich ist, lässt sich gewiss leichter eine Einigung erzielen als über die Frage, ob Allah oder der liebe Gott oder die philosophische Vernunft der legitime moralische Gesetzgeber ist. Und dort, wo unversöhnliche Wertauffassungen aufeinanderprallen, würde es eine Einigung erst recht erschweren, wenn der Streit zuerst auf der metaphysischen bzw. existentiellen Ebene entschieden werden soll. Von großer Bedeutung ist dabei, dass die Akzeptanz von Werten nicht zwingend durch die existentielle Haltung eines Menschen bedingt ist, sondern dass sie auch auf der bloßen Einsicht in die Nützlichkeit eines Wertes für das gesellschaftliche Zusammenleben beruhen kann. Weiterhin können Werte auch deshalb akzeptiert werden, weil sie im Dialog mit anderen vereinbart worden sind. Ein Wertkonsens ist daher grundsätzlich auch ohne einen einheitlichen spirituellen Erfahrungshintergrund der Beteiligten denkbar.
Auch in der Frage der Wertbegründung und des gesellschaftlichen Konsenses über bestimmte Grundwerte lautet daher das Ergebnis, dass der Rückgriff auf die Spiritualität keinesfalls notwendig und in der Regel eher hinderlich als förderlich ist.
Aus Voegelins Sicht müsste ein ethischer Wertkonsens jedoch als ein höchst brüchiges Fundament der gesellschaftlichen Ordnung beurteilt werden, sofern er sich nicht auf einen einheitlichen spirituellen Erfahrungshintergrund stützen kann. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass Voegelin die Dialogmöglichkeiten zwischen Menschen mit unterschiedlichem spirituellem Erfahrungshintergrund überaus skeptisch beurteilt, was sogar soweit führt, dass Menschen ohne spirituelle Erfahrungen von Voegelin als potentielle Ordnungsstörer eingestuft werden. Ähnliche Auffassungen kehren auch bei manchen Anhängern Voegelins wieder. So wurde die Ansicht, dass die Gegensätze zwischen Menschen, die an die Existenz eines transzendenten Seins glauben, und Menschen, die sie bestreiten, weitgehend unversöhnlich bleiben müssen, solange über diese „Schlüsselfrage“ nicht Einigkeit erzielt worden ist, unlängst von Thomas J. Farrell bekräftigt, der in diesem Zusammenhang die Leugnung der Existenz eines transzendenten Seins unter Berufung auf prominente Psychologen wie C. G. Jung und ganz auf der Linie Voegelins als eine Art Geisteskrankheit deutet. Allerdings räumt auch Farrell ein, dass es Profanbereiche gibt, innerhalb derer ein fruchtbarer Dialog zwischen Menschen, die jene „Schlüsselfrage“ unterschiedlich beantworten, möglich ist.
Damit ist zugleich eine Grundfrage des Wesens politischer Ordnung angeschnitten: Ist die (in der Neuzeit stets durch den Staat repräsentierte) politische Ordnung nur ein Mittel zu bestimmten Zwecken wie etwa der Schaffung innerer und äußerer Sicherheit, oder ist sie darüber hinaus Ausdruck einer historischen Suche nach Ordnung, die mit dem Sinn der Welt und dem Sinn des Lebens in Zusammenhang steht? Im ersteren Fall kann die politische Ordnung voll und ganz dem Profanbereich zugeordnet werden, so dass eine Einigung über alle wesentlichen Prinzipien der politischen Ordnung auch zwischen Menschen mit unterschiedlicher Offenheit der Seele im Bereich des Möglichen liegt. Nur im letzteren Fall müsste zunächst eine gesellschaftlich verbindliche Entscheidung über die metaphysische Schlüsselfrage der Existenz transzendenten Seins getroffen werden.
Welche dieser beiden grundverschiedenen Wesensauffassungen politischer Ordnung ist nun aber die richtigere? Um diese Frage zu beantworten, empfiehlt es sich, von unterschiedlichen Funktionen des Politischen auszugehen, einer Friedenssicherungsfunktion und einer spirituellen Funktion, und dann zu klären, in welcher Beziehung diese Funktionen zueinander stehen, d.h. insbesondere, ob die politische Ordnung die Friedenssicherungsfunktion nur erfüllen kann, wenn sie auch spirituelle Funktionen erfüllt. Sollte sich herausstellen, dass sich beide Funktionen trennen lassen, dann kann als Nächstes die Frage gestellt werden, welche der beiden Funktionen die für die politische Ordnung wesentlichere ist, und ob es nicht günstiger wäre, die andere Funktion innerhalb eines anderen Rahmens zu erfüllen, also etwa die spirituellen Ziele nicht auf der Ebene der politischen Ordnung sondern im Rahmen privater religiöser Vereinigungen zu verfolgen.
Geht man zunächst einmal davon aus, dass die Stiftung inneren Friedens die Kernfunktion politischer Ordnung ist, so kann man überlegen, was mindestens zu einer politischen Ordnung gehören muss, damit sie diese Kernfunktion erfüllen kann. Sicherlich sind für die Erfüllung der Kernfunktion der Friedenssicherung Herrschaftsinstitutionen notwendig, die die Einhaltung des Friedens garantieren. Weiterhin müssen sich die Herrschaftsinstitutionen auf die Loyalität oder wenigstens den regelmäßigen Gehorsam der Bürger stützen können. Eine politische Ordnung, die die Kernfunktion der Friedenssicherung erfüllen soll, bedarf daher auch einer Legitimation, wozu mindestens eine politische Philosophie oder Herrschaftsideologie vorhanden sein muss, die den Bürgern den Zweck der politischen Ordnung erklärt. Dann könnte eingewandt werden, dass ein echter Frieden noch gar nicht vorhanden ist, solange nicht auch Gerechtigkeit herrscht. Es wären also auch noch Vorkehrungen für die Gerechtigkeit zu treffen usw. . Führt man diese Überlegungen weiter fort, so gelangt man irgendwann einmal zu einer politischen Mindestordnung, die alles umfasst, was notwendig ist, um die Kernfunktion der Friedenssicherung zu erfüllen. Gehört zu dieser Mindestordnung bereits die Funktion der Sinnvermittlung?
Die Tatsache, dass die Spiritualität keineswegs darunter leiden muss, wenn sie nicht als Bestandteil der politischen Ordnung betrachtet wird, scheint Voegelin zu übersehen, wenn er es den Gesellschaftsvertragstheorien zum Vorwurf macht, dass sie sich nur auf die leibliche Seite des Menschen konzentrieren und die geistige Seite des Menschen vernachlässigen.
Umgekehrt wäre es höchst prekär, religiöse Erfahrungen zu einer Angelegenheit von politischer Bedeutung zu erklären. Denn wenn die politische Ordnung auf eine Erfahrung der Transzendenz gegründet wird, dann wird die Religiosität zu einer Frage der politischen Ordnung. Sie dürfte dann nicht mehr im Belieben des Einzelnen stehen, was erhebliche Probleme für die Religionsfreiheit und Toleranz aufwirft. Dann wäre es in der Tat nur konsequent, nach dem Irrenarzt zu rufen, wenn es Menschen geben sollte, die es wagen, die Transzendenz zu leugnen. Ansonsten ist die Leugnung der Transzendenz eine sehr harmlose „Krankheit“, denn sie beeinträchtigt weder das Lebensglück der Befallenen, noch hindert sie sie daran, die Rechte ihrer Mitbürger zu respektieren.
Als Gesamtergebnis lässt sich festhalten, dass weder die politische Ordnung der Transzendenzerfahrungen bedarf, noch die Realisierung bzw. der Ausdruck der Transzendenzerfahrungen durch die politische Ordnung geschehen muss. Da andererseits die Forderung der Berücksichtigung spiritueller Erfahrungen bei der Gestaltung politischer Ordnung erhebliche ethische Bedenken hinsichtlich der Toleranz aufwirft, so ergibt sich, dass Transzendenzerfahrungen bei der Gestaltung der politischen Ordnung besser keine Rolle spielen sollten. Kurzum: Wenn es Gott gäbe, müsste man ihn ignorieren – wenigstens in der Politik.
Nachdem sich Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie für die Erforschung der geistigen Grundlagen guter politischer Ordnung als so wenig haltbar erwiesen hat, erscheint es mir angebracht, einige Überlegungen dazu anzustellen, welche Rolle Eric Voegelin in der heutigen wissenschaftlichen und politischen Diskussion noch spielen kann, und in welcher Richtung die Auseinandersetzung über sein Werk fortzuführen wäre. Dazu werde ich im folgenden drei Aspekte der Frage der Aktualität von Voegelins Werk ansprechen: 1. Welche Bedeutung kommt Voegelins Philosophie zu? 2. Wie aktuell sind seine Vorstellungen politischer Ordnung und politischer Unordnung? 3. Gibt es dennoch ein politikwissenschaftliches Vermächtnis Eric Voegelins, das fortzuführen sich lohnt.
Die Philosophie Eric Voegelins halte ich, wie aus den bisherigen Ausführungen sicherlich hervorgegangen ist, nicht für sonderlich geglückt. Dabei halten nicht nur die Ergebnisse seiner Philosophie einer kritischen Prüfung nicht stand, auch die Art seines Philosophierens ist keinesfalls nachahmenswert. Voegelins Philosophie, und dies gilt sowohl für seine Geschichtsphilosophie als auch für seine Bewusstseinsphilosophie, ist eine überaus dogmatische Philosophie, sie stellt außerdem eine hochgradig monologische Philosophie dar, und darüber hinaus erscheint sie über weite Strecken als das, was Karl Popper sehr treffend „orakelnde Philosophien“ genannt hat.
Eine dogmatische Philosophie ist eine Philosophie, die ein Weltbild artikuliert, ohne es zu begründen. Während eine kritische Philosophie versucht, ihre Thesen durch Argumente zu begründen, findet bei einer dogmatischen Philosophie gar keine oder nur eine tautologische Begründung statt oder eine Begründung durch Voraussetzungen, die ihrerseits nicht weniger begründungsbedürftig sind als die begründeten Thesen. Damit ist nicht gesagt, dass dogmatische Philosophien notwendigerweise schlechte Philosophien sind, denn die Bildung und Ausgestaltung eines Weltbildes (oder auch nur einer Unternehmensphilosophie) ist weder eine triviale noch eine unbedeutende Aufgabe, aber dogmatische Philosophien können nur in begrenztem Maße Objektivität für sich in Anspruch nehmen. Und genau in diesem Sinne ist Voegelins Philosophie eine hochdogmatische Philosophie. Deutlich wird dies immer wieder an metaphysischen Voraussetzungen wie Annahme der Existenz eines transzendenten Seinsgrundes, der Ontologie der Seinsstufen, der Auffassung der Geschichte als eines theogonischen Prozesses usw. . Voegelins Philosophie wird dadurch nicht uninteressanter und die Darstellung seines Weltbildes ist ihm einige Male auch in einer ästhetisch und rhetorisch ansprechenden Weise gelungen.
Als problematischer stellt sich der monologische Charakter von Voegelins Philosophie dar. Auch diese Eigenschaft hat Voegelins Philosophie mit der Philosophie anderer Denker gemeinsam. Der monologische Charakter findet sich bei Voegelin sowohl auf der Ebene des Philosophierens als auch auf der Ebene seiner philosophischen Doktrin. Auf der Ebene des Philosophierens äußert sich der monologische Charakter in Voegelins heftigen polemischen Ausfällen, in seiner Weigerung, mit jedem, der seine Grundüberzeugungen nicht teilt, auch nur ein Wort zu reden‚
Für den heikelsten Punkt halte ich allerdings die philosophische Geheimniskrämerei, zu der Voegelin nicht immer aber in seinen späteren Schriften immer häufiger neigt. Ein philosophischer Geheimniskrämer ist jemand, der das Rätsel und das Gefühl des Geheimnisvollen mehr liebt als die Lösung der Rätsel. Voegelin hat sich in mehrfacher Weise der philosophischen Geheimniskrämerei befleißigt. Dies beginnt mit Voegelins oft unklarer und vieldeutiger Ausdrucksweise, es geht fort über die nicht wenigen technischen Mängel seiner Philosophie, unter denen insbesondere die Schlussfehler der petitio principii, der aquivocatio und des non sequitur einen prominenten Platz einnehmen, und der Höhepunkt ist erreicht, wenn Voegelin sich auf Paradoxien und Mysterien beruft. Ich gebe zu, dass dies eine höchst subjektive Kritik ist, und wer in Hegel einen großen Philosophen sieht, der wird Voegelin wegen seiner Denkfehler gewiss nicht tadeln wollen. Aber mir scheint, dass ein Philosoph, der sich auf ein Mysterium beruft, mit demselben Misstrauen betrachtet werden sollte, wie ein Politiker, der sich auf sein Ehrenwort beruft. Nicht dass von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass es in der Welt Mysterien gibt. Aber bei einem Mysterium hat alles Denken ein Ende, und unter der Berufung auf Mysterien lässt sich jede beliebige Behauptung aufstellen. Deshalb sollte zuerst eine genaue Prüfung stattfinden, bevor die Annahme akzeptiert wird, dass ein Mysterium vorliegt. In dieser Hinsicht scheint mir Voegelin in der Tat mehr als voreilig gewesen zu sein, wenn er etwa von einem Paradox des Bewusstseins spricht, obwohl die Tatsache, dass das Bewusstsein die Welt wahrnehmen kann, von der es selbst zugleich ein Teil ist, doch bestenfalls eine staunenswerte Besonderheit aber gewiss kein Paradoxon ist.
Was bleibt aber von Voegelins Philosophie, wenn sie tatsächlich so sehr mit Irrtümern und Denkfehlern gespickt ist? Sie bleibt immer noch der Ausdruck einer bestimmten und, wenn man sich an die besseren von Voegelins Schriften hält, zuweilen reichen und tiefen Weltanschauung. Wenn man die Aufgabe der Philosophie nicht nur, wie es die analytische Philosophie in der Tradition des Neupositivismus tut, in der Beantwortung wissenschaftlich klärbarer Fragen sieht, sondern auch in der Artikulation und Verständigung über weltanschauliche Überzeugungen, dann ist das immerhin etwas.
Die Frage der Aktualität von Voegelins Ordnungsentwurf bedarf keiner langen Erörterungen, da die Antwort hierauf eindeutig ausfällt, und sie sich auch in der wissenschaftlichen Voegelin-Debatte mehr und mehr durchzusetzen scheint.
Indes leben wir heute mit einer liberalen politischen Ordnung, die seit über fünfzig Jahren stabil ist, und die auch keine Risse aufzuweisen scheint, obwohl sich die Gesellschaft gegenüber den Fünfziger Jahren gewiss noch weiter säkularisiert hat, was Voegelins Grundthesen über die Ursachen politischer Unordnung doch sehr zweifelhaft erscheinen lässt. Dazu vermitteln Voegelins Äußerungen über politische Ordnung nicht selten den Eindruck, dass es Voegelin weit eher darauf ankam, eine wahre politische Ordnung (nach den Maßstäben seiner privatreligiösen Überzeugungen) zu finden als eine im moralischen und pragmatischen Sinne gute politische Ordnung. Als recht gravierend fällt dabei ins Gewicht, dass Voegelin in seinem metaphysischen Eifer oft hart an der Grenze zum religiösen Fanatismus operiert. Seine Suche nach der wahren Ordnung beschwört dadurch die „entgegengesetzte Gefahr“ (John H. Herz
Wenn Voegelins Philosophie nichts hergibt, und seine politische Ordnungsvorstellung nichts taugt, wäre es dann nicht besser, Eric Voegelin ganz zu vergessen? Zwei wichtige Gründe lassen es, trotz aller Kritik, wünschenswert erscheinen, Eric Voegelin dem drohenden Vergessen zu entreißen. Zum einen ist da Voegelins imposante Gelehrsamkeit. Voegelins Interpretationen der Klassiker des politischen Denkens fallen zwar häufig sehr eigenwillig aus – nicht zuletzt deshalb, weil sich Voegelin meist nur auf ganz bestimmte und scheinbar willkürlich ausgewählte Textpassagen bezieht. Aber Voegelins Auswahl vollzieht sich fast immer vor dem Hintergrund einer profunden Kenntnis des Gesamtwerkes. Wenn Voegelin daher auch die falsche Quelle ist, um sich über die Klassiker des politischen Denkens zu informieren, so dürften Kenner eines Denkers, den Voegelin behandelt hat, bei Voegelin oft einen ausgefallenen Kommentar auf hohem intellektuellen Niveau finden.
Zweitens gilt es die bedeutende kulturwissenschaftliche Horizonterweiterung festzuhalten, die die Politologie durch Eric Voegelin erfahren hat. Darin besteht, wenn man so will, das eigentliche Vermächtnis des Politikwissenschaftlers Voegelin und in dieser Hinsicht ist Voegelin gerade in der heutigen Zeit von großer Aktualität, denn der Umgang mit fremden Kulturen erfordert auch für die Politik und die politische Theorie nicht nur eine Kenntnis der Gesetze und Spielregeln von Diplomatie und Außenpolitik, sondern auch ein Verständnis dieser Kulturen selbst. Dabei ist allerdings zu hoffen, dass Voegelins Denken als Vorbild für ein einfühlendes Verständnis fremder Kulturen dient, und nicht im Fahrwasser von Samuel Huntingtons „Zusammenprall der Kulturen“ zur düsteren Prophetie unüberbrückbarer Gegensätze missbraucht wird.
Von entscheidender Bedeutung für die Nachwirkung Eric Voegelins dürfte es jedoch sein, dass die Diskussion um Voegelins Werk mit der notwendigen kritischen Distanz geführt wird, was die bisherige Sekundärliteratur zu Eric Voegelin eher vermissen lässt. Der sicherste Weg, Eric Voegelin zu einem Nischendasein in den Zirkeln religiöser Sektierer zu verdammen, besteht darin, seine Ressentiments, besonders seinen an Don Quichotte gemahnenden Kampf gegen echte und vermeintliche Gnostiker in allen Formen und Farben, zu einem unverzichtbaren Wesensbestandteil seiner Wissenschaft zu erklären.
Schließlich könnte eine zukünftige Voegelin-Forschung auch davon profitieren, wenn sie sich von der, wie es scheint, insgesamt immer noch zu engen Fixierung auf die Deutung von Voegelins Werk selbst lösen und sich vermehrt den von Voegelin untersuchten Sachfragen zuwenden würde. Dazu gehört beispielsweise die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik oder auch die Frage möglicher kultureller Vorbedingungen des Gelingens demokratischer Ordnung. Dies wäre, sollte man meinen, ganz in Voegelins Sinne.