Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie

A. Die ungelösten Fundamentalprobleme von Voegelins Ansatz

Nach der bisherigen, sehr ins Detail gehenden Erörterung von Voegelins Bewusstseinsphilosophie soll nun auf einer wiederum etwas allgemeineren Ebene eine Gesamtbilanz dessen gezogen werden, was Voegelin mit seiner Bewusstseinsphilosophie erreicht hat. Zur Erinnerung werde ich zunächst noch einmal in aller Kürze Voegelins Modell politischer Ordnung zusammenfassen, um dann zu klären, ob aus Voegelins Bewusstseinsphilosophie heraus die Fragen, die zur Begründung dieses Modells hätten geklärt werden müssen, überzeugend beantwortet werden können.

Voegelins Modell politischer Ordnung lässt sich in der allerknappsten Form wie folgt zusammenfassen: Politische Ordnung beruht auf der existenziellen Grundkonstitution des Menschen. Diese existenzielle Grundkonstitution besteht in der Spannung zum transzendenten Seinsgrund. Das Wissen um die existenzielle Spannung zum transzendenten Seinsgrund wird dem Menschen durch mystische Erfahrung vermittelt. Die politische Ordnung muss aus diesem Wissen um die existenzielle Spannung zum transzendenten Seinsgrund heraus gestaltet werden. Dann, und nur dann, kann eine gute und dauerhafte politische Ordnung entstehen. Ohne auf die weiteren Einzelheiten von Voegelins Deutung der historischen Entwicklung der Ordnungserfahrung und der Ursachen politischer Unordnung näher einzugehen, kann bereits an dieser Stelle eine Reihe von Fragen formuliert werden, die als Prüfstein der Begründungsqualität von Voegelins Modell politischer Ordnung dienen können:

Die erste und wichtigste Frage, die sich stellt, ist die, ob es einen transzendenten Seinsgrund überhaupt gibt. Wenn behauptet wird, dass der Mensch in der Spannung zum Seinsgrund existiert, dann sollte zunächst geklärt werden, ob ein solcher transzendenter Seinsgrund auch nachweislich vorhanden ist. Zur Begründung der Annahme der Existenz eines transzendenten Seinsgrundes beruft sich Voegelin auf die mystische Erfahrung. Diese Begründung bleibt nicht zuletzt deshalb recht dürftig, weil Voegelin nie genau klärt, was mystische Erfahrungen sind, und wie man sie machen kann. Über das Wesen mystischer Erfahrungen wird im nächsten Unterkapitel (Kapitel ) noch einiges zu sagen sein. Aber bereits unabhängig davon, was mystische Erfahrungen nun eigentlich sind und ob es sich tatsächlich um Erfahrungen von etwas Transzendentem handelt, werfen sie eine Vielzahl von Fragen auf. So stellt sich z.B. die Frage, wie zwischen richtigen und falschen Erfahrungen unterschieden werden kann. Diese Frage ist besonders deshalb prekär, weil offenbar nicht jeder Mensch mystische Erfahrungen hat. Wie können dann aber die mystischen Erfahrungen des einen Menschen für einen anderen maßgeblich sein? Dass sie es sein können ist Voegelins feste Überzeugung, denn er sagt ausdrücklich, dass alle anderen Menschen zum Zuhören verpflichtet sind, wenn einem Propheten oder Philosophen eine Erleuchtung zuteil wird.1Vgl. Voegelin, Order and History II, S. 6. Aber wie können diese Menschen, die selbst keine Erleuchtung hatten, zwischen echten und falschen Propheten unterscheiden? Dieses Problem hat bereits Thomas Hobbes aufgeworfen, und Hobbes war – anders als Voegelin – der Ansicht, dass die Weigerung, einem Propheten zu folgen, niemandem als Verstocktheit ausgelegt werden darf, denn der Betreffende leugnet durch diese Weigerung nicht Gott, sondern er zweifelt lediglich die Glaubwürdigkeit eines Menschen, nämlich des Propheten an.2Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt am Main 1998 (erste Auflage 1984), S. 51 (7. Kapitel) / S. 218-219 (26. Kapitel). Voegelin besteht dagegen darauf, dass echte Transzendenzerfahrungen eines Menschen für alle Menschen autoritativ sind, aber er zeigt nicht, wie das möglich ist, wenn es doch kein Mittel gibt, um ihre Echtheit zu prüfen.3Nicht dass Voegelin diese Probleme nicht bemerkt hätte, aber er weicht einer Antwort in der Regel durch Weitschweifigkeit oder stillschweigenden Themawechsel aus. (Vgl. z.B. Voegelin, Order and History III, S. 299-303.) – Noch unzulänglicher: Voegelin, Order and History V, S. 26. – Ebenfalls unbefriedigend: Conversations with Eric Voegelin. (ed. R. Eric O’Connor), Montreal 1980, S. 23/24.

Mit diesen die Echtheit der Transzendenzerfahrungen betreffenden Fragen sind die Probleme von Voegelins Konzeption jedoch noch keineswegs erschöpft. Nicht weniger problematisch sind die Zusammenhänge zwischen der mystischen Erfahrung und der konkreten politischen Ordnung. Am auf\/fälligsten erscheint hierbei, dass zwischen diesen beiden Bereichen augenscheinlich überhaupt kein Zusammenhang besteht. Wenn die mystische Erfahrung, so wie Voegelin dies unablässig beteuert, eine unerlässliche Grundlage guter politischer Ordnung ist, so müsste es doch möglich sein, aus der mystischen Erfahrung heraus Kriterien zu formulieren, die es erlauben, irgendein konkretes Ensemble politischer Institutionen zu beurteilen. Warum sind die Institutionen der amerikanischen Demokratie eher mit der Noese zu vereinbaren als die Institutionen eines faschistischen Staates wie Spanien unter der Herrschaft Francos? Es dürfte sehr schwer fallen, hier aus Voegelins metaphysischer Theorie heraus ein Urteil zu fällen. Zwar hat Voegelin es nicht an (oft sehr einseitigen) politischen Lagebeurteilungen fehlen lassen, aber selten wird dabei deutlich, wie diese sich aus den Grundsätzen seiner politischen Philosophie ergeben. Voegelin hat noch nicht einmal versucht, aus der Noese irgendwelche moralischen Prinzipien oder Tugenden herzuleiten. Dergleichen wäre ihm wohlmöglich bereits als eine dogmatische Entgleisung erschienen.4Siehe dazu die Naturrechtskritik, die Voegelin unter Rückgriff auf Aristoteles’ Begriff der „phronesis“ in seinem Aufsatz „Das Rechte von Natur“ übt. (Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 128.) – Zur ethischen Theorie Voegelins vgl. Julian Nida-Rümelin: Das Begründungsproblem bei Eric Voegelin. (Typoskript eines Vortrages beim Internationalen Eric-Voegelin Symposium in München August 1998, Eric Voegelin-Archiv in München). Aber wie kann mit Hilfe der Noese die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit gestaltet werden, wenn es noch nicht einmal möglich ist, bestimmte sittliche Prinzipien aus der Noese abzuleiten?5Hans Kelsen legt den Finger auf die Wunde, wenn er feststellt, dass die metaphysischen Begriffe, die in der Vergangenheit zur Rechtfertigung bestimmter Gerechtigkeitsvorstellungen herangezogen wurden und auf die sich auch Voegelin beruft (wie u.a. das platonische agathon, der aristotelische nous, die thomistische ratio aeterna), lediglich Leerformeln sind, die zur Rechtfertigung jeder beliebigen Sozialordnung dienen können. Vgl. Kelsen, A New Science, S. 15/16. – Vgl. auch Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?, 2. Auflage, Wien 1975.

Vor allem aber stellt sich die Frage, woraus hervorgeht, dass eine auf die Noese gegründete Politik moralisch gut und den Erfordernissen des menschlichen Zusammenlebens angemessen ist. Sofern das moralisch Gute nicht gerade durch die Noese definiert wird, was zu einer Tautologie führen würde, ist es keineswegs selbstverständlich, dass das noetisch Wahre mit dem moralisch Guten zusammenfällt. Umgekehrt liefert Voegelin keinerlei stichhaltige Gründe für seine These, dass eine gute politische Ordnung ohne die Noese ausgeschlossen ist. Voegelin scheint hier die anthropologische Annahme zu Grunde zu legen, dass ein Mensch, dessen Existenz nicht durch das noetische Wissen oder eine kompakte Vorstufe desselben geordnet ist, notwendigerweise ein Chaot sein muss. Aber Voegelin unternimmt nicht einmal ansatzweise den Versuch, die Richtigkeit dieser willkürlichen und gegenüber ungläubigen Menschen auch sehr ungerechten Annahme zu demonstrieren.

All die soeben aufgeworfenen Fragen sind nun nicht bloß irgendwelche Einzelfragen, die sich im Rahmen von Voegelins politischer Theorie nebenbei auch noch stellen. Vielmehr handelt es sich um Fundamentalprobleme, mit deren Lösung der gesamte Ansatz von Voegelin steht und fällt. Die Tatsache, dass Voegelin auf keine dieser Fragen auch nur eine halbwegs schlüssige Antwort geben kann, erlaubt daher nur eine einzige Schlussfolgerung: Voegelin ist mit seinem Versuch, die Voraussetzungen politischer Ordnung bewusstseinsphilosophisch zu begründen, auf der ganzen Linie gescheitert.

B. Was sind Transzendenzerfahrungen?

In seinen bewusstseinsphilosophischen Schriften beruft Voegelin sich immer wieder auf Transzendenzerfahrungen. Leider versäumt Voegelin dabei zu klären, was Transzendenzerfahrungen sind, wie man sie erlangen kann, und ob sie ihren Namen zu Recht tragen. Will man sich über diesen Zentralbegriff der Voegelinschen Philosophie Rechenschaft ablegen, so bleibt kein anderer Ausweg, als ein wenig über das Wesen dieser Erfahrungen zu spekulieren, indem man verschiedene Möglichkeiten zu ihrer Erklärung gedanklich durchspielt. Im Wesentlichen sind drei Erklärungsmöglichkeiten zu erwägen: 1) Es gibt tatsächlich Transzendenzerfahrungen, aber sie sind nur wenigen auserwählten Individuen zugänglich. 2) Hinter den Transzendenzerfahrungen verbergen sich bestimmte innere Erlebnisse, die jeder Mensch wenigstens gelegentlich hat. Nur messen verschiedene Menschen diesen Erlebnissen eine unterschiedliche Bedeutung für ihr Leben bei. 3) Es gibt keine Transzendenzerfahrungen und alles, was über sie gesagt wird, ist lediglich leeres Gerede. Diese drei grundsätzlichen Erklärungsmöglichkeiten sollen nun im Einzelnen etwas näher beleuchtet werden.

1. Möglichkeit: Transzendenzerfahrungen in Form von Erleuchtungen einzelner Individuen. Denkbar ist, dass es sich bei den Transzendenzerfahrungen um besondere Erlebnisse handelt, die nur ganz bestimmten, man könnte sagen „religiös privilegierten“ Menschen widerfahren. Es stellt sich dann die Frage, ob diese Erlebnisse tatsächlich die Folge des Eindringens eines transzendenten Seins in die Immanenz sind, oder ob es sich dabei bloß um ein psychisches Phänomen ähnlich einer Geisteskrankheit handelt. Die erste Variante ist eher unwahrscheinlich, da es für die Existenz einer transzendenten Seinsphäre keine anderen Anhaltspunkte gibt als eben diese Erfahrungen selbst, die einer Geisteskrankheit oder einem Drogenrausch unter Umständen zum Verwechseln ähnlich sehen können.6Vgl. William James: The Varieties of Religious Experience, Cambridge, Massachusetts / London, England 1985 (zuerst 1902), S. 11-28. Aber selbst wenn es sich um „echte“ Transzendenzerfahrungen handeln sollte, steht auf Grund des schon erwähnten Problems der wahren und falschen Propheten außer Zweifel, dass diese Erfahrungen außer für den, dem sie widerfahren, für niemanden Autorität beanspruchen können. Ob Voegelin so interpretiert werden muss, dass die Transzendenzerfahrungen nur wenigen religiös privilegierten Individuen zukommen, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Voegelins historischer Ansatz, nach welchem die „Seinssprünge“ zunächst als Erleuchtungsereignisse in einzelnen Individuen stattfinden, legt diese Interpretation nahe.7Vgl. Conversations with Eric Voegelin. (ed. R. Eric O’Connor), Montreal 1980, S. 25. – Bereits in den „Politischen Religionen“ schreibt Voegelin: „Die Erneuerung kann in großem Maße nur von großen religiösen Persönlichkeiten ausgehen – aber jedem ist es möglich, bereit zu sein und das seine zu tun, um den Boden zu bereiten, aus dem sich der Widerstand gegen das Böse erhebt.“ (Eric Voegelin: Die politischen Religionen, München 1996 (zuerst 1938), S. 6.) Dem steht jedoch Voegelins bewusstseinsphilosophischer Ansatz entgegen, der, gerade weil dabei das Bewusstsein des Menschen untersucht wird, beinhaltet, dass die Transzendenzerfahrungen jedem Menschen zugänglich sind, wenn es auch von Mensch zu Mensch Unterschiede in der Intensität der Erfahrung geben kann.

2. Möglichkeit: Transzendenzerfahrungen als innere Erlebnisse. Es könnte auch der Fall sein, dass es sich bei den Transzendenzerfahrungen, die Voegelin meint, um innere Empfindungen und Erlebnisse handelt, welche im Seelenleben eines jeden Menschen vorfindlich sind, auch wenn diesen Empfindungen im bewussten Denken und Handeln nicht immer eine gleichermaßen bedeutsame Rolle eingeräumt wird. Zu diesen inneren Empfindungen gehören vermutlich alle Arten von Gefühlserlebnissen, die aus dem Alltäglichen herausfallen, eine starke emotionale Besetzung aufweisen und entweder nicht unmittelbar einem äußeren Anlass zugerechnet werden können oder durch ihre Intensität über diesen Anlass hinauszuweisen scheinen. Dazu könnten beispielsweise Erinnerungen, Träume, Tagträume, Drogenerlebnisse, Sex, bestimmte durch Kunst oder Musik hervorgerufene Empfindungen sowie sich manchmal plötzlich einstellende und scheinbar grundlose Gefühle von großer Angst oder Freude zählen. Der Versuch, den Bereich der für Transzendenzerfahrungen in Frage kommenden seelischen Erlebnisse näher einzugrenzen, begegnet nicht zuletzt deshalb großen Schwierigkeiten, weil es auch eine Frage des Temperamentes ist, ob jemand sagt: „Ich habe eben ein wenig vor mich hingeträumt“, oder ob er erklärt: „Ich habe soeben in der Meditation für einige Sekunden das Eindringen der Transzendenz in mein Bewusstsein erfahren“, oder ob jemand mitteilt: „Ich hatte plötzlich ein unerklärliches Angstgefühl“, oder stattdessen vielmehr behauptet: „Mir sind gerade die Schauer des Numinosen über den Rücken gelaufen.“ Damit soll nicht gesagt werden, dass die jeweils letztere Form, die entsprechende Erfahrung in Worte zu fassen, reine Hochstapelei ist. Es ist nur der Tatbestand festzuhalten, dass derartige Erfahrungen nicht aus sich selbst heraus ihr Wesen offenbaren, sondern dass dies erst die Folge einer menschlichen Deutung ist.

Nun spricht nichts dagegen, das eigene Leben im Zeichen irgendwelcher dieser Erfahrungen zu führen, sofern man das Gefühl hat, dass dadurch das Leben reicher wird und einen höheren Wert bekommt. Auch mag es für den eigenen Seelenhaushalt von großer Wichtigkeit sein, auf derartige Erfahrungen achtzugeben. Aber gegenüber Voegelins Deutung muss, sofern er diese Art von Erfahrungen meint, zweierlei festgehalten werden: Erstens können derartige Erfahrungen zwar Sinn und Wert vermitteln, nicht jedoch Wahrheit. Wahrheit besteht in der Übereinstimmung von etwas Gemeintem mit der Wirklichkeit. Wahrheit kommt nicht bereits dadurch zustande, dass etwas als wahr empfunden oder als höchst real erfahren wird, denn auch Irrtümer werden, solange man von ihnen überzeugt ist, als wahr empfunden. Grundsätzlich sind innere Erfahrungen, Evidenzerlebnisse oder Erleuchtungen niemals eine unmittelbare Quelle von Wahrheit, sondern bestenfalls eine Quelle von Ideen, über deren Richtigkeit erst eine sorgfältige Prüfung – möglichst in einem nüchterneren Seelenzustand! – befinden muss. Mit anderen Worten: Man sollte sich eine gesunde Skepsis gerade und besonders auch gegenüber den eigenen Erleuchtungen bewahren. Zu den Wesensmerkmalen der Wahrheit gehört zudem ihre Objektivität oder zumindest Intersubjektivität. Gerade dies ist jedoch für die in Frage stehenden Erfahrungen nicht gegeben, welche zunächst einmal höchst individuelle und persönliche Erfahrungen sind. Daraus, dass diese Erfahrungen zunächst nur eine Meinung oder ein Wertempfinden, aber nicht zwangsläufig Wahrheit vermitteln, ergeben sich zwei gewichtige Konsequenzen: Zum einen sind Konflikte mit der Realität keineswegs ausgeschlossen, so dass es sehr voreilig ist, die Realität der inneren seelischen Erfahrungen mit der Realität schlechthin gleichzusetzen. Zum anderen kann aus der Erfahrung kein Gehorsamsanspruch abgeleitet werden, da dieser Art der Erfahrung die objektive Gültigkeit fehlt. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass die Erfahrungen eines Einzelnen auf der Basis freiwilliger Anerkennung für Andere Bedeutsamkeit erlangen können. Zudem kann sich ein Gehorsamsanspruch immer noch dann ergeben, wenn das Erfahrene aus anderen Gründen diesen Anspruch rechtfertigt. (Beispiel: Einem Propheten geht im Rahmen einer göttlichen Vision eine moralische Norm auf, welche sich auch bei anschließender nüchterner Betrachtung und unter Abwägung aller Eventualitäten als sinnvoll und akzeptabel erweist.) Zweitens muss gegenüber Voegelin festgehalten werden, dass jene emphatischen seelischen Erlebnisse – trotz gelegentlicher überraschender Übereinstimmungen zwischen unterschiedlichen Individuen – im Ganzen von einer solch irregulären Vielfalt sind, dass es unmöglich ist, sie allesamt auf eine Normerfahrung der existenziellen Spannung zum Grund zu beziehen. Manch einer empfindet eine existenzielle Spannung zum Grund, ein anderer wiederum fühlt sich in der Harmonie des Universums aufgehoben, wieder einer spürt vielleicht die Nähe Gottes in anderen Menschen. Dies sind ganz unterschiedliche Erfahrungen. Der Versuch, alle Erfahrungen je nach ihrer Nähe zur Normerfahrung der existenziellen Spannung zum transzendenten Seinsgrund in „kompaktere“ und „differenziertere“ Erfahrungen einzuteilen und so zwischen ihnen eine Rangfolge herzustellen, dürfte höchstens für sehr nahe verwandte Erfahrungen durchführbar sein.

3. Möglichkeit: Transzendenzerfahrungen als soziales Artefakt. Als letzte Möglichkeit muss in Erwägung gezogen werden, dass es Transzendenzerfahrungen überhaupt nicht gibt, und dass auch nicht jene eben beschriebenen außergewöhnlichen Seelenzustände damit gemeint sind, sondern dass es sich vielmehr um Einbildungen oder besser um soziale Artefakte handelt, die bloß geglaubt werden, weil so viele Menschen davon reden, als handele es sich um eine Selbstverständlichkeit. Der gesellschaftliche Mechanismus, der zu diesen Artefakten führt, wird sehr treffend durch das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern veranschaulicht, in welchem bekanntlich ein ganzer Hofstaat in den höchsten Tönen die Farbenpracht der Gewänder eines splitternackten Kaisers preist. Darauf, dass bei Voegelin die vermeintlichen Transzendenzerfahrungen nur ein solches Kunstprodukt der Einbildungskraft unter dem Einfluss der eifrigen Lektüre religiösen Schrifttums sind, deutet die auf\/fällige Tatsache hin, dass Voegelin niemals von einer eigenen Transzendenzerfahrung berichtet. Immer nur wird auf Platon, Aristoteles, den heiligen Thomas von Aquin, die Bibel und auf andere ehrwürdige Schriftstücke verwiesen, von denen Voegelin versichert, dass sie Ausdruck von echten und unverfälschten Transzendenzerfahrungen seien. Einen Bericht von eigenen Transzendenzerfahrungen liefert Voegelin nicht. Stattdessen müssen Kindheitserinnerungen als Lückenbüßer herhalten.8Vgl. Anamnesis, S. 62-76. Doch dies wirkt eher wie ein verzweifelter Versuch Voegelins, die Transzendenzerfahrungen, an deren Wirklichkeit er so gerne glauben wollte, in irgendeiner Weise auch bei sich selbst vorzufinden. Ohne eigene Transzendenzerfahrungen aber wird Voegelins Behauptung, dass sich die Richtigkeit der politischen Philosophien, die er befürwortete, „empirisch“ überprüfen ließe‚9Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 96. vollends unglaubwürdig.

Von den eben aufgeführten drei Deutungsmöglichkeiten erscheint – auch wenn es sich nicht mit Sicherheit sagen lässt – die zweite Deutungsmöglichkeit als die naheliegendste, da die erste Möglichkeit allzu unwahrscheinlich ist, und man andererseits auch ungern glauben möchte, dass jemand den größten Teil seines Lebenswerkes auf pure Einbildungen stützt. Von welcher Deutungsmöglichkeit man aber auch ausgeht, in keinem Fall lassen sich die weitreichenden Konsequenzen rechtfertigen, die Voegelin für die politische Ordnung und für die Politikwissenschaft aus den Transzendenzerfahrungen ziehen möchte.


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