A. Die Stufen des Ordnungswissens

Im vierten, mit „Die Spannungen in der Wissensrealität“1Voegelin, Anamnesis, S. 323. betitelten Abschnitt seines Aufsatzes untersucht Voegelin die Beziehung zwischen den verschiedenen Stufen des Ordnungswissens, wozu die pränoetische, die noetische und die Verfallsstufe des Wissens von der richtigen Ordnung zählen.

Nachdem Voegelin in einer kurzen Einleitung noch einmal auf die Weisen des Ordnungswissens und ihre gegenseitige Beziehung im Prozess der noetischen Differenzierung eingegangen ist, stellt er zunächst in groben Zügen die historische Entwicklung von prä-noetischem über das noetische Ordnungswissen bis hin zur Entgleisung des Ordnungswissens in der Gegenwart dar. Daraufhin erörtert Voegelin ausführlich, wie seiner Ansicht nach das verlorengegangene Ordnungswissen in der Gegenwart wieder hergestellt werden kann. Als Letztes geht Voegelin mit dem mystischen Denken Jean Bodins und Henri Bergsons auf zwei mögliche historische Anknüpfungspunkte jüngeren Datums zur Wiedergewinnung des Ordnungswissens ein.

Wie bereits ausgeführt, tritt Ordnungswissen Voegelin zufolge zunächst in einer prä-noetischen, mythischen Form auf. Durch die Noese wird das prä-noetische Ordnungswissen ergänzt und vertieft. Erst auf der Stufe des noetischen Ordnungswissens wird sich der Mensch seiner Existenz in der „Spannung zum Grund“ bewusst, so dass das Ordnungswissen nun einer expliziten Kontrolle aus dem Wissen um die „Spannung zum Grund“ heraus unterliegt („explizit-rationale Kontrolle“2Voegelin, Anamnesis, S. 325. – Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass Voegelin in dieser Passage (S. 323-325.) den Ausdruck „rational“ doppeldeutig gebraucht: einmal im Sinne seiner Definition von "Ratio“ als „der Spannung des Bewußtseins zum Grund“ (S. 289.), dann aber auch in dem (dem gewöhnlichen Wortgebrauch näherkommenden) Sinn von „begriffliches Wissen“ bzw. „begriffliches Denken“.). Unter Rückgriff auf das bewusst gewordene Wissen von der „Spannung zum Grund“ ist es zwar möglich, das prä-noetische oder auch das entgleiste Ordnungswissen in Frage zu stellen. Dennoch bleibt das noetische Ordnungswissen auf die prä-noetischen Wissensbestände, die es erweitert aber nicht ersetzt, sachlich angewiesen. Auch auf der gesellschaftlichen Ebene, wo sich das noetische zum kompakten Ordnungswissen ähnlich wie die Theologie zum Volksglauben verhält, kann es das prä-noetische Wissen niemals gänzlich verdrängen.3Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 323-325.

Die historische Entwicklung des Ordnungswissens, die Voegelin im folgenden skizziert, kann als eine Bewegung in dialektischen Dreischritten gedeutet werden: Auf eine Phase heilen Ordnungswissens prä-noetischer oder noetischer Art folgt als deren Antithese eine dogmatische Entgleisung oder, wie Voegelin auch sagt, eine „Parekbasis“ falschen Ordnungswissens, welche dann durch die Noese aufgehoben wird. Aber auch das noetische Ordnungswissen entgleist zum Dogmatismus, so dass eine weitere Noese – denn ein höheres als das noetische Ordnungswissen gibt es nicht – vonnöten ist, die wiederum diese Entgleisung aufhebt.

In dieser Weise folgt nach Voegelins Geschichtsbild auf die griechische Mythologie und die „Parekbasis der Sophistik“ die „klassische Noese“4Voegelin, Anamnesis, S. 325. der nach-sokratischen Philosophie. Nicht zuletzt, weil sie politisch mit der Polisgesellschaft für das in den Eroberungszügen Alexanders des Großen unterlegene Modell optierte, war der klassischen Noese kein langfristiger Erfolg beschieden, und sie entgleiste ihrerseits „zur philosophischen Dogmatik der Schulen“.5Voegelin, Anamnesis, S. 326. Obwohl zur „Dogmatik der Schulen“ herabgesunken, taugte – wenn man Voegelins Worten Glauben schenken darf – das als „Parekbasis einer Noese ... charakterisierte Phänomen“6Voegelin, Anamnesis, S. 326. dennoch dazu, gegenüber der jüdisch-christlichen Offenbarungsreligion als „Repräsentant der Noese“7Voegelin, Anamnesis, S. 326. zu fungieren. Da im jüdisch-christlichen Kontext der Übergang von der vor-noetischen Offenbarungsweisheit zum noetischen Ordnungswissen weniger schroff verlief, kam es dabei nicht wie im antiken Griechenland zum radikalen Bruch mit dem traditionellen Ordnungswissen. Vielmehr verschmolz die Philosophie mit dem traditionellen Ordnungswissen der Offenbarung zur Theologie. In dieser Form hat die Noese zwar bei der Bekämpfung der Häresien (zu der Voegelin schon in früheren Schriften der katholischen Kirche das volle historische Recht zuerkennt8Vgl. Eric Voegelin: Das Volk Gottes. Sektenbewegungen und der Geist der Moderne (Hrsg. von Peter J. Opitz), München 1994, S. 31-34. – Voegelin setzt in dieser Schrift recht kritiklos voraus, dass die katholische Kirche objektiv die Wahrheit des Geistes verkörpert. Eine legitime Auflehnung gegen die katholische Kirche ist dann kaum noch denkbar. Allerdings hätte die katholische Kirche seiner Ansicht nach besser daran getan, sich die Häresien einzuverleiben, als sie gewaltsam zu bekämpfen.) Großes geleistet, aber zugleich stand sie der Entwicklung der Naturwissenschaften und einer von der religiösen Orthodoxie unabhängigen Geschichtsdeutung („Freilegung der Realitätsbereiche von Welt und Geschichte“9Voegelin, Anamnesis, S. 327.) im Wege. Dadurch hat sie nicht wenig dazu beigetragen, jene Revolte gegen den Grund heraufzubeschwören, welche in Voegelins Augen das charakteristische Merkmal der Neuzeit ist. Da bisher die neuzeitliche Auseinandersetzung mit der Theologie als „Spiel von dogmatischer Position und Opposition“10Voegelin, Anamnesis, S. 327. und somit auf einer reinen Parekbasis ohne mystischen Erfahrungsgehalt stattgefunden hat, ist nun der nächste historisch-dialektische Schritt zu leisten, durch welchen das noetische Ordnungswissen wiederhergestellt wird.

Die Wiederherstellung des noetischen Ordnungswissens gestaltet sich deshalb so schwierig, weil sie nicht auf der Ebene der Dogmatik in den Streit mit der „Revolte gegen den Grund“ eintreten darf, sondern sich durch die Neu-Erschließung des Bewusstseins als dem Ordnungszentrum über alle Dogmatik erheben muss. Zur „Revolte gegen den Grund“ rechnet Voegelin die verschiedensten philosophisch-weltanschaulichen Strömungen der Gegenwart. Wörtlich zählt er „die Ideologien des Positivismus, Marxismus, Historismus, Szientismus, Behaviorismus, .. Psychologisieren und Soziologisieren, .. welt-intentionale Methodologien und Phänomenologien“11Voegelin, Anamnesis, S. 328. auf. Alle diese geistigen Strömungen dienen seiner Ansicht nach vor allem einem Zweck: Das Empfinden für die existenzielle Spannung zum Grund im eigenen Inneren abzutöten, und durch die Entwicklung einer „Obsessivsprache“ zu verhindern, dass die Frage nach dem Grund überhaupt aufkommen kann. Nach Voegelins Überzeugung gibt es in diesen geistigen Strömungen nichts, woran es sich im Interesse des noetischen Ordnungsdenkens lohnt anzuknüpfen. Immerhin räumt Voegelin später ein, dass der „ideologische[n] Revolte“ historisch gesehen eine wertvolle Funktion im Kampf gegen den „Sozialterror der [theologischen] Orthodoxie“12Voegelin, Anamnesis, S. 329. zukam.

Die Abkehr von der „Revolte gegen den Grund“ wird nach Voegelins Einschätzung bislang überwiegend von diversen Traditionalismen und Konservativismen getragen. In einem weiteren großen Rundumschlag zählt Voegelin hier einen ganzen Reigen von rechts-liberalen bis konservativen Erneuerungsbewegungen seiner Zeit auf. Alle diese Erneuerungsbewegungen leiden nach Voegelins Ansicht allerdings darunter, dass sie versuchen, die „Revolte gegen den Grund“ auf der gleichen Ebene zu bekämpfen, weshalb Voegelin sie auch als „Sekundärideologien“ (zu den Primärideologien der „Revolte gegen den Grund“) bezeichnet. Ihr oberflächliches Vorgehen führt dazu, dass die Sekundärideologien lediglich zu älteren Dogmatiken zurückkehren. Aber nicht zuletzt deshalb, weil die Revolte sich teilweise zu Recht gegen die älteren Dogmatiken aufgelehnt hat, darf die Umkehr nicht bloß eine Rückkehr sein, sondern sie muss zur „Wissensrealität“ der bewusst gemachten existentiellen „Spannung zum Grund“ vordringen.13Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 329.

Woran soll man aber dann anknüpfen, wenn der Rückbezug auf die Tradition nur wieder in eine „Sekundärideologie“ mündet? Eine Möglichkeit besteht für Voegelin darin, sich am Vorgehen des schon einmal als Vorbild angeführten Albert Camus zu orientieren, der auf die griechische Mythologie zurückgeht.14Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 312-313. Nach Voegelins Interpretation bedient sich Camus deshalb des griechischen Mythos, weil im „ ‘Blödsinn’ der Zeit .. keine Heimat für den Menschen“15Voegelin, Anamnesis, S. 330. zu finden ist. Camus’ Lebensweg, der sich in Voegelins Deutung ein wenig wie das Gleichnis vom verlorenen Sohn ausnimmt, führt beispielhaft die Entwicklung von der Revolte „gegen die Präsenz des Lebens in der Spannung zum göttlichen Grund“16Voegelin, Anamnesis, S. 330. bis zur demütigen Wiedereinkehr in ein Leben, „geordnet durch die liebende Spannung der Existenz zum göttlichen Grund“17Voegelin, Anamnesis, S. 313. vor. Zwar hat Camus das letzte Stadium nicht mehr erreichen können (da er vorher durch einen Autounfall ums Leben kam), aber Voegelin glaubt dennoch den Tagebüchern von Camus mit einiger Sicherheit entnehmen zu können, welchen Fortgang dessen geistige Entwicklung genommen hätte.18Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 312, S. 330.

Nicht weniger schwierig als die individuelle Umkehr stellt sich das Problem dar, wie die Politische Wissenschaft wieder auf den richtigen Weg gebracht werden kann. Von der Politischen Wissenschaft, wie sie an den Universitäten überwiegend betrieben wird, ist nach Voegelins Auffassung wenig zu erwarten, da diese Politische Wissenschaft sich vorwiegend mit den verschiedenen politischen Institutionen der Gegenwart beschäftigt, welche nach Voegelins Ansicht sämtlich vom falschen Ordnungsverständnis durchseucht sind. Von welcher Seite dürfen dann aber Antworten auf die Fundamentalfragen politischer Ordnung erhofft werden? Voegelin glaubt, dass Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen noch am ehesten in der schönen Literatur bei Autoren wie z.B. Robert Musil und Hermann Broch oder, als Alternative und zur Ergänzung der schönen Literatur, in den Altertumswissenschaften zu finden sind, da sich die Altertumswissenschaften mit den noch unverdorbenen prä-dogmatischen Wissensrealitäten beschäftigen. Voegelin vertritt die Ansicht, dass die wissenschaftliche Untersuchung prä-dogmatischer Ordnungssymbole „eine Bewegung auf die Noese hin“19Voegelin, Anamnesis, S. 332. herbeiführt. Die florierenden Altertumswissenschaften künden daher nach seiner optimistischen Überzeugung von einer Gegenbewegung historischen Ausmaßes gegen die dogmatischen Scheinrealitäten. Voegelin räumt allerdings ein, dass „die Bewegung noch nicht bewußt zentriert ist.“20Ebd. Nichts desto trotz erwartet Voegelin für die Zukunft bedeutsame „Durchbrüche“ zur Noese, wenn er auch verständlicherweise keine genauen Vorhersagen darüber riskiert, wann genau und wo sich diese Durchbrüche ereignen werden.

Zu guter Letzt geht Voegelin noch auf die wichtigsten historischen Residuen der Noese ein. Diese sind seiner Ansicht nach im klassischen Altertum und in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Mystik zu finden.21Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 333. Hinsichtlich der klassischen Noese entwickelt Voegelin nur noch einmal die Genese ihres Missverständnisses als dogmatische Metaphysik, ohne die klassische Noese selbst ein weiteres Mal zu behandeln. Als bedeutsame Vertreter der Mystik erwähnt Voegelin Jean Bodin und Henri Bergson, wobei Voegelin jedoch nur auf Bodin ausführlich eingeht.

Das Verständnis der klassischen Philosophie wird nach Voegelins Ansicht erheblich durch die anti-metaphysische Einstellung der neuzeitlichen Philosophie getrübt. Die Anwendung der neuzeitlichen Metaphysikkritik auf die klassische Philosophie beruht jedoch auf einem Missverständnis. Nicht nur wurde das unter dem Titel „Metaphysik“ bekannte Werk des Aristoteles erst sehr viel später so genannt‚22Der Titel „Metaphysik“ stammt von Andronikus von Rhodos, der im 1. Jh. v. Chr. die Werke des Aristoteles herausgab. Er betitelte das Werk, in dem Aristoteles seine prima philosophia entwickelt, als „Metaphysik“, weil es auf das Buch der „Physik“ folgte. Vgl. den Artikel über Metaphysik von Th. Kobusch in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 5: L-Mn, Basel / Stuttgart 1980, S. 1186-1279 (S. 1188). auch die Entwicklung des Terminus „Metaphysik“ als eines philosophischen Fachbegriffs findet, Voegelins Darstellung zufolge, erst im Mittelalter statt. Den bedeutsamsten Beitrag zum dogmatischen Missverständnis der klassischen Philosophie hat Thomas von Aquin geleistet, der, obwohl er nach Voegelins Urteil ebenfalls von größter Offenheit der Seele war, in Aristoteles’ „Metaphysik“ offenbar nicht die Noese eines Co-Noetikers erkannte23Dies ist meine Interpretation. Voegelin geht nicht darauf ein, wie es zu diesem erstaunlichen Missverständnis kommen konnte, wo doch Thomas von Aquin erstens ein großer Kenner der aristotelischen Philosophie und zweitens, so wie Voegelin ihn sonst beurteilt, ein Denker von der gleichen noetischen Erfahrungshöhe wie Aristoteles war. und sie rein dogmatisch als „eine Wissenschaft von primae causae, von principia maxime universalia, und von Substanzen quae sunt maxime a materia speratae“24Voegelin, Anamnesis, S. 333. verstand, wofür der Aristoteles-Kenner Thomas von Aquin von Voegelin, ganz entgegen dessen sonstiger Hochschätzung für diesen mittelalterlichen Gelehrten, scharf kritisiert wird. Nachdem die Metaphysik einmal in dieser Form missverstanden worden war, wurde sie in der Folge als rein dogmatisches Geschäft weiterbetrieben. Es ist daher nach Voegelins Ansicht den aufgeklärten Kritikern der Metaphysik auch gar kein Vorwurf dafür zu machen, dass sie diese Form der Metaphysik angreifen. Nur muss bei der Rezeption der Metaphysikkritik darauf geachtet werden, dass sich die Metaphysikkritik des 18. Jahrhunderts lediglich gegen die dogmatische Metaphysik richten kann, nicht aber gegen die klassische Philosophie. So hatte Kant in erster Linie die Metaphysik Christian Wolffs im Visier, weshalb, wie Voegelin nahelegt, die klassische Philosophie von Kant eher irrtümlicherweise vernachlässigt wird und von seiner Metaphysikkritik in Wirklichkeit unberührt bleibt.25Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 335.

Die mystische Religionsauf\/fassung Jean Bodins geht, Voegelins Deutung zufolge, auf die Neoplatonisten der Renaissance und auf Dionysius Areopagita, insbesondere auf dessen Begriff der conversio, der Hinwendung zu Gott zurück. Im Kern besagt Bodins mystische Religionsauf\/fassung, dass die wahre Religion nicht irgendeine bestimmte religiöse Lehre sei, sondern allein in der Hinwendung zu Gott bestehe. Die Mystik kommt nach Voegelins Interpretation bei Bodin auf zweierlei Weise zum Tragen. Zum einen erlaubt sie ihm, die Geschichte zu verstehen. Zum anderen bildet die mystische Religionsauf\/fassung den Ausgangspunkt für Bodins Bekenntnis zur Toleranz. Nach dem Geschichtsbild, das Voegelin in Bodins „Lettre à Jean Bautru“ ausgesprochen findet, verläuft die Geschichte einzelner Gesellschaften zyklisch, indem zunächst ein von Gott auserwählter Prophet sein Volk durch die Vermittlung von Offenbarungswissen zu neuen Höhen geistiger Wahrheit führt, worauf jedoch, sofern sich das störrische Volk für die prophetische Botschaft überhaupt empfänglich gezeigt hat, im Laufe der Zeit die wahre Religion, die es gelehrt wurde, mehr und mehr zu einem Buchstabenglauben erstarrt. Ein ganz analoges Geschichtsbild findet Voegelin in Bergsons „Deux Sources de la Morale et de la Religion“ wieder.26Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 336-337. Freilich darf bezweifelt werden, ob jenes ein wenig romantische Geschichtsbild, nach welchem das Schicksal eines Volkes oder einer Zivilisation im wesentlichen von der Frische des religiösen Glaubens und der Führung durch erleuchtete Propheten abhängt, wirklich ein starkes Argument für die erkenntnisaufschließende Kraft der Noese darstellt.

Überzeugender wirken dagegen die Konsequenzen, die sich aus der mystischen Religionsauffassung für die Toleranz ergeben. Für Bodin stellt nach der Interpretation, die Voegelin aus dem „Lettre à Jean Bautru“ in Verbindung mit Bodins „Colloquium Heptaplomeres“ gewinnt, der Rückgang auf die Mystik eine Möglichkeit dar, religiöse Toleranz zu begründen. Die Wahrheit der Religion liegt in der mystischen Hinwendung zu Gott selbst. Die göttliche Wahrheit als solche ist unaussprechlich, und jeder sprachliche Ausdruck dieser Wahrheit trägt lediglich behelfsmäßigen Charakter. Da es unsinnig ist, sich im Namen religiöser Dogmen, die bloß sprachliche Notbehelfe sind, zu bekämpfen, ergibt sich aus der Unaussprechlichkeit der Wahrheit Gottes das Gebot der Toleranz.27Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.337. – Voegelins Text bedarf hier ein wenig der Interpretation, da nicht ganz deutlich wird, wie sich das „Wesen der Toleranz“ aus „einer Balance zwischen den Bereichen des Schweigens und des Ausdrucks in der Wissensrealität“ ergibt. Voegelin führt Bodins Gedanken des Unfassbaren (das „Ineffabile“) noch weiter aus, wobei er eine Übereinstimmung mit Thomas von Aquins tetragrammaton (nach Thomas der höchste und umfassendste Gottesname) und mit seiner eigenen Vorstellung von der „existenziellen Spannung zum Grund“ feststellt.28Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 337-338. Dieses Ergebnis verblüfft ein wenig, denn im Hinblick auf Voegelins im ersten Abschnitt seines Aufsatzes entwickelten Realitätsbegriff erscheint die Deckungsgleichtheit von Voegelins und Bodins Vorstellung der mystischen Realität eher fragwürdig: Während sich bei Bodin (nach Voegelins eigener Deutung) das „Ineffabile“ als das eigentlich Wahre von seinem sprachlichen Ausdruck als einem nur unbeholfenen Hinweis deutlich unterscheidet, hat Voegelin zuvor noch mit größtem Nachdruck darauf bestanden, dass die Symbole, die die Realität ausdrücken, den unabtrennbaren Teil eines Gesamtzusammenhanges von Realität bilden, der die Termini des Partizipierens, das Partizipieren selbst und ausdrücklich auch die Symbole umfasst.29Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 305-307.

Weiterhin führt Voegelin aus, dass die „Einsicht in das Wissen vom Ineffabile .. erhebliche Bedeutung für das Verständnis einer großen Klasse von Ordnungsphänomenen“30Voegelin, Anamnesis, S. 338. habe, die über das „Wesen der Toleranz“ noch hinausgehen. So sei es für die kompakte Erfahrung des „Ineffabilen“ charakteristisch, dass die symbolische Ausdrucksform Sakralcharakter gewinne, so dass weitere Differenzierungen der Erfahrungen nur noch als Kommentare zum Sakraltext auftreten könnten. Inwiefern die Feststellung dieses „Ordnungsphänomens“ aus der „Einsicht in das Wissen vom Ineffabile“ fließt, bleibt ein Rätsel, zumal Voegelin schon wenig später feststellt, dass es auch im Bereich der Ideologie das Phänomen ideologischer Klassiker mit „anschließender kommentatorischer und apologetischer Literatur“ gibt.31Vgl. Voegelin, S. 338-340.

B. Kritik von Voegelins Bodin- und Camus-Deu­tung

Da dies bereits im ersten Teil dieses Buches geschehen ist, erübrigt es sich, an dieser Stelle noch einmal ausführlich auf Voegelins Geschichtsbild und seine polemische Zeitkritik einzugehen. Auch Voegelins Empfehlung an die Politikwissenschaft, das Wissen von politischer Ordnung lieber durch die Lektüre der modernen Klassiker der schönen Literatur oder durch Vertiefung in das Altertum zu erweitern als durch das Studium der politischen Institutionen der Gegenwart, soll an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Ohnehin ist der Eintritt des von Voegelin prophezeiten großen noetischen Durchbruchs in den dreißig Jahren, die seit der Publikation seines Aufsatzes verflossen sind, bisher ausgeblieben, so dass diese Empfehlungen, die in Antizipation eines solchen Durchbruchs ausgesprochen wurden, nicht mehr allzu aktuell sind.

Ebenfalls keine besonders weittragende Bedeutung kommt Voegelins These zu, dass die Metaphysikkritik der aufklärerischen Philosophie auf einem Missverständnis beruht, soweit sie sich nicht nur gegen die neuzeitliche Metaphysik richtet, sondern auch gegen die klassische Philosophie gewendet wird. Es ist kaum anzunehmen, dass die antike Philosophie, wenn sie, wie Voegelin dies fordert, als Kryptomystik interpretiert worden wäre, in der aufklärerischen Kritik besser abgeschnitten hätte als die Leibniz-Wolffsche Metaphysik oder die Einsichten des „Geistersehers“ Swedenborg.32Vgl. Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, in: Frank-Peter Hansen (Hrsg.): Philosophie von Platon bis Nietzsche, CD-ROM, Berlin 1998, S. 23599ff. / S. 70ff. (Zweiter Teil, Zweites Hauptstück: Ekstatische Reise eines Schwärmers durch die Geisterwelt.) (Konkordanz: Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main 1977. Band 2, S. 970ff.). – Dass die aufklärerisch-positivistische Religionskritik nicht notwendigerweise auf dogmatischen Missverständnissen beruht und daher den Hinweis auf die religiöse Erfahrung keineswegs zu fürchten braucht, verdeutlicht Ayers erkenntnistheoretische Kritik der Berufung auf die religiöse Erfahrung. Vgl. Alfred J. Ayer: Language, Truth and Logic, New York [u.a.] 1982, S.157-158. – Zur Ersetzung der Religion durch die reine Religiosität in der modernen Religionsapologetik seit Schleiermacher: Vgl. Hans Albert: Kritischer Rationalismus. Vier Kapitel zur Kritik illusionären Denkens, Tübingen 2000, S. 147ff.

Lohnender erscheint es, auf Voegelins Deutung der Vorbilder Camus und Bodin einzugehen. Führt Camus’ Lebensweg tatsächlich jene Entwicklung von der Auflehnung gegen Gott bis zur demütigen Unterwerfung unter Gott vor, die Voegelin mit solchem Entzücken registriert? Liefert Bodins mystische Religiosität wirklich eine optimale Begründung der Toleranz?

Legt man für die Interpretation von Camus’ geistiger Entwicklung seine beiden großen Essays „Der Mythos von Sisyphos“33Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Hamburg 1998 (zuerst 1942), im folgenden zitiert als: Camus, Mythos von Sisyphos. und der „Mensch in der Revolte“34Albert Camus: Der Mensch in der Revolte. Essays, Hamburg 1997 (zuerst 1951), im folgenden zitiert als: Camus, Mensch in der Revolte. zu Grunde, so ergibt sich das Bild einer Entwicklung, die weniger dramatisch verläuft, als sie bei Voegelin erscheint. Die metaphysische Auflehnung, von der der „Mythos von Sisyphos“ handelt, richtet sich gegen die Absurdität der Welt, sie richtet sich nicht primär gegen Gott, und die Absurdität ist auch kein Resultat der Abwesenheit Gottes, die durch den Glauben behoben werden könnte. Gott ist ebenso eine Lüge wie all die falschen Tröstungen, bei denen die verschiedenen existenzialistischen Philosophien am Ende doch wieder herauskommen.35Vgl. Camus, Mythos von Sisyphos, S. 39ff. Der Glaube, so könnte man sagen, ist ein Beruhigungsmittel für den Geist, welches der am Leben Leidende stolz verschmäht. Nicht umsonst erwählt Camus den Empörer Sisyphos zum Helden seines Essays.

Welche Entwicklung findet nun im Übergang zu „Der Mensch in der Revolte statt“? Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Essays besteht darin, dass der „Mythos von Sisyphos“ ein rein metaphysisches Thema behandelt: den Menschen in der Auseinandersetzung mit der absurden Welt. „Der Mensch in der Revolte“ erweitert diese Thematik ins Politische, was natürlich Konsequenzen für die Deutung des Absurden nach sich zieht. Angesichts des philosophisch gerechtfertigten Massenmordes, wie er sich in den totalitären Staaten vollzog, war Camus seine Philosophie des Absurden, deren stolzer Individualismus auch eine Gleichgültigkeit gegen die Moral implizierte, offenbar nicht mehr geheuer.36Vgl. Camus, Mensch in der Revolte, S. 9-18 (Einleitung: Das Absurde und der Mord). Es kommt zwar nicht zu einer Revision, wohl aber zu einer Präzisierung seines früheren Standpunktes. Zu der Auflehnung tritt das Bewusstsein der humanen Verantwortlichkeit hinzu. Die Auflehnung ist nun nicht mehr eine Auflehnung gegen die metaphysische Unsinnigkeit der Welt, die sich aus Kontingenzerfahrungen speist, sondern sie wandelt sich zur Revolte gegen die Unsinnigkeit menschlichen Leidens, deren Ursprung recht konkrete moralische und politische Erfahrungen sind.

„Der Mensch in der Revolte“ stellt daher auch in erster Linie eine philosophische Auseinandersetzung mit der linksgerichteten Variante des Totalitarismus und eine scharfe Abrechnung mit dessen intellektuellen Verherrlichern im Westen dar. Den Kommunismus deutet Camus als Ausfluss von Nihilismus und Gottesmord.37Vgl. Camus, Mensch in der Revolte, S. 154ff. In diesen Punkten berührt sich Camus’ Deutung am stärksten mit der Theorie Voegelins und anderen christlichen-religiösen Erklärungen des Totalitarismus. Allerdings handelt es sich dabei um eine der weniger überzeugenden Passagen von Camus’ Essay. Kein Kommunist oder Sozialist muss sich getroffen fühlen, wenn Camus der kommunistischen Revolution eine Genealogie von Nihilisten und Dandys unterschiebt. Der Kommunismus war kein Nihilismus. Er trat mit handfesten materiellen Glücksversprechungen an, und es können kaum die Motive einer exklusiven künstlerischen Bohème gewesen sein, die ihm seine Massenunterstützung sicherten. Hier entsteht bei Camus ein politisches Weltbild, das zusammengesetzt ist aus literarischen Referenzen – ähnlich, wie zuweilen bei Voegelin. Trotz dieser Schwächen behält Camus in der Sache recht. Im Jahre 1951 konnte man unmöglich noch den Kommunismus (und gar den Kommunismus stalinscher Prägung) unterstützen, der seinen Kredit durch das Scheitern seiner Prophezeiung und noch mehr durch seine Verbrechen längst verspielt hatte, auch wenn es noch nicht jeder wahrhaben wollte.38Vgl. Camus, Mensch in der Revolte, S. 238ff. – Als Beispiel einer sehr weitgehenden intellektuellen Apologie des Kommunismus aus dieser Zeit: Vgl. Maurice Merlau-Ponty: Humanismus und Terror, Frankfurt am Main 1990 (entstanden 1946/47), besonders S. 68ff.

Zu welchem Ergebnis gelangt nun Camus? Bleibt, wenn der Gottesmord mit innerer Logik zum Terror führt, als die einzig akzeptable Haltung nur noch die „die liebende Spannung der Existenz zum göttlichen Grund“39Voegelin, Anamnesis, S. 313. übrig? War die metaphysische Auflehnung des „Mythos von Sisyphos“ nur ein dummer Jungenstreich eines unreifen Philosophen? Dies lässt sich kaum behaupten. „Der Mensch in der Revolte“ schließt mit dem Gegensatz von Revolte und Revolution. Beide sind Ausdruck einer Auflehnung, aber die Revolte anerkennt ein Gesetz des „Maßes“ und damit Grenzen der eigenen Unfehlbarkeit, des eigenen Rechtes, über andere zu verfügen, und besonders des eigenen Rechtes, für politische Zwecke Gewalt auszuüben. Die Revolution dagegen bedeutet die Entgleisung der Revolte in einen schrankenlosen Terror, der der Anmaßung entspringt, mit einer abstrakten Philosophie das menschliche Leben in seiner Totalität erfassen zu können, so dass keine humanen Vorbehalte mehr möglich sind, da durch die abstrakte Totalität schon alles berücksichtigt ist. Der Gedanke des Maßes, welcher, repräsentiert durch den Mythos von Nemesis, den dritten Teil des von Voegelin als Indiz für die Entwicklung Camus’ herangezogenen Werkprogramms bildet‚40Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 330. – Vgl. Albert Camus: Tagebücher 1935-1951, Hamburg 1997, S. 465. verweist zwar auf eine Realität, die sich – ganz im Sinne Voegelins – nicht uneingeschränkt und nicht ungestraft manipulieren lässt, aber dieser Gedanke hebt die Revolte nicht auf.41Vgl. Albert Camus: Tagebuch März 1951 - Dezember 1959, Hamburg 1997, S. 32. Dort schreibt Camus: „Maß. Sie halten es für die Lösung des Widerspruchs. Es kann nichts anderes sein als die Bestätigung des Widerspruchs und der heroische Entschluß, sich daran zu halten und ihn zu überleben.“ Die Anerkennung des christlichen Gottes, jenes Herren, dem man „Ja!“ und „Danke!“ sagen muss, ganz gleich, welches Leid den Menschen geschieht, hätte für Camus ebenso die Aufkündigung der Solidarität mit den Menschen bedeutet, wie das unkritische Lob der Revolution von Seiten der Intellektuellen.42Ebd., S. 263: „Nemesis. Wesentliche Komplizität von Marxismus und Christianismus (weiterentwickeln). Deswegen bin ich gegen beide.“ Hier liegt ein fundamentaler Gegensatz zu Voegelin vor. Während Voegelin die Menschenliebe ohne die Partizipation an ein und demselben göttlichen Grund für unmöglich hält‚43Vgl. Eric Voegelin: In Search of the Ground, in: Conversations with Eric Voegelin. (ed. R. Eric O’Connor), Montreal 1980, S. 1-20 (S. 10). schließt für Camus gerade die Menschenliebe die Liebe zum transzendenten Gott aus.

Hinsichtlich Voegelins Bodin-Interpretation ist zunächst einmal festzuhalten, dass Bodin die religiöse Toleranz fast ausschließlich mit politisch-pragmatischen Gründen rechtfertigt. In seinen „Six Livres de la République“ rät Bodin von der gewaltsamen Unterdrückung etablierter Religionen und Sekten ab, da dies kriegerische Auseinandersetzungen heraufbeschwören kann. Allenfalls durch sein eigenes Vorbild und durch Anreize soll der Herrscher die Untertanen zum Übertritt zur wahren Religion bewegen, mit welcher Bodin eine der konkreten Religionen meint, ohne sie jedoch zu nennen.44Vgl. Jean Bodin: Sechs Bücher über den Staat. Buch IV-VI. (Hrsg. von P.C. Mayer-Tasch), München 1986, S. 150-151. Auch im „Colloquium Heptaplomeres“ ändert sich an der im Wesentlichen pragmatischen Begründung der Toleranz nicht viel. Die Frage der Wahrheit der Religion bleibt im Streit der Sieben gänzlich unentschieden. Einigkeit herrscht am Ende der Diskussion lediglich darüber, dass jeder Mensch in eine religiöse Gemeinschaft eingebunden sein muss, und dass es das Beste ist, wenn die Existenz jeder bestehenden Glaubensgemeinschaft geduldet wird, sofern sie dazu bereit ist, den anderen ihren Glauben nicht streitig zu machen.45Vgl. Jean Bodin: Colloquium of the Seven about Secrets of the Sublime. Colloquium Heptaplomeres de Rerum Sublimium Arcanis Abditis, Princton 1975 (im folgenden zitiert als: Bodin, Heptaplomeres), S. 473. Kaum Anhaltspunkte bietet Bodin für eine Interpretation, nach welcher die Toleranz durch die Differenz zwischen der unaussprechlichen Wahrheit und dem symbolischen Ausdruck der Religion begründet wird. Zwar taucht im Gespräch der Sieben einmal der Vorschlag auf, auf die natürliche Religion als der ursprünglichen Religion zurückzugehen, doch wird dieser Vorschlag als nicht praktikabel abgelehnt.46Bodin, Heptaplomeres, S. 462f. Mit der natürlichen Religion meinte Bodin dabei den alt-israelischen Glauben, dem die unterschiedlichen monotheistischen Glaubensrichtungen entsprungen sind, die bei Bodin so schwer vermittelbar gegeneinander stehen. Auch hier ist also von einer konkreten Religion die Rede und nicht von einem mystischen Wahrheitskern als Grundlage aller Religionen.47Wollte man den Hinweis Bodins auf die ursprüngliche Religion weiter ausbauen, so käme man wohl zu einer deistischen Begründung der Toleranz, wie sie im Denken der Aufklärung (z.B. in Lessings „Nathan der Weise“) zu finden ist. Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 380 (Anmerkung 19). Dass bei Bodin die Forderung der Toleranz weit eher einer Einsicht in die politischen Notwendigkeiten als einer tiefen Überzeugung entspringt, geht auch aus dem Schönheitsfehler hervor, dass Bodin nur die bestehenden Konfessionen einbezieht und von einer Glaubens- und Gewissensfreiheit im heutigen Sinne bei ihm keine Rede sein kann.48Vgl. Georg Roellenbleck: Der Schluß des „Heptaplomeres“ und die Begründung der Toleranz bei Bodin, in: Horst Denzer (Hrsg.): Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung in München, München 1973, S. 53-67 (S. 66.). – Nach Roellenblecks Deutung ist die Toleranzbegründung im „Heptaplomeres“ allerdings nicht nur Ausdruck politischen Kalküls, sondern sie steht auch in Zusammenhang mit einem tieferen Harmoniegedanken. Dennoch fällt es angesichts der Grenzen von Bodins Toleranzbegriff und angesichts der rein politisch begründeten Toleranz in den „Six Livres de la République“ schwer, hierin mehr als nur eine nachträgliche ideologische Verschönung (die subjektiv ehrlich gemeint sein mag) zu sehen.

Unabhängig davon, wie treffend Voegelins Interpretation die Überlegungen Bodins wiedergibt, kann die Frage aufgeworfen werden, ob Voegelins Bodin-Interpretation ihrerseits einen gangbaren Weg zur Begründung der Toleranz aufzeigt. Der Hinweis auf die unaussprechliche Wahrheit, die hinter jedem symbolischen Ausdruck liegt, begründet einerseits eine überaus starke Form religiöser Toleranz, indem jede andere religiöse Überzeugung als gleichwertvoll wie die eigene anzusehen ist, da sie sich auf dieselbe Wahrheit bezieht. Andererseits enthält Voegelins Begründung der Toleranz zum Teil ähnliche Schönheitsfehler wie die Überlegungen von Bodin, indem Atheisten von der Toleranz auch bei Voegelin ausgenommen zu sein scheinen.49Ähnlich ernüchternd wirken Voegelins an anderer Stelle geäußerte Bemerkungen darüber, dass ein fruchtbarer Dialog mit Indern oder Chinesen nur denkbar wäre, wenn diese Völker sich zuvor bereit dazu finden, fleißig die Philosophie von Platon und Aristoteles zu studieren, damit eine Grundlage für das Gespräch vorhanden ist. Vgl. Conversations with Eric Voegelin. (ed. R. Eric O’Connor), Montreal 1980, S. 70/71. Abgesehen davon stellt sich das Problem der Toleranz in vollem Maße erst dann, wenn es nicht gelingt, in irgendeiner Weise eine Übereinstimmung zu einer fremden Auffassung herzustellen. Beispielsweise stellt es sich dann, wenn man sich mit einer Anschauung oder Lebensweise konfrontiert sieht, die einem (auch wenn sie einen gar nicht tangiert) in jeder Hinsicht verkehrt und widerwärtig vorkommt. Gerade in einer solchen Situation ist Toleranz gefragt, während es ein Leichtes ist, tolerant zu sein, wenn man feststellt, dass man im Grunde einer Meinung ist.

C. Der Leib-Geist-Dualismus in der Theorie der Politik

Im vorletzten Abschnitt seines umfangreichen Aufsatzes untersucht Voegelin verschiedene Grundsatzfragen einer Theorie der Geschichte und der Politik. Zunächst klärt Voegelin, dass ein vernünftiger Ansatz in der politischen Theorie beide Seiten der menschlichen Natur, die leibliche und die geistige berücksichtigen muss. Im Anschluss daran entwickelt Voegelin den Begriff des Sozialfeldes, welcher im Wesentlichen ein etwas allgemeinerer Begriff von Gemeinschaft ist, und stellt schließlich einige grundsätzliche Überlegungen zu dem Zusammenhang von Sozialfeldern und geschichtlicher Entwicklung an.

Der Mensch ist ein Wesen, das ein Bewusstsein und einen Leib hat. Dies gilt natürlich nicht nur für den Menschen als Einzelwesen, sondern auch für die „soziale Existenz“50Voegelin, Anamnesis, S. 340. des Menschen. Nach Voegelins Ansicht ist es die Leiblichkeit des Menschen, die bedingt, dass jede Gesellschaft über Herrschaftsinstitutionen verfügen muss, die Ordnung im Inneren und Sicherheit nach Außen schaffen. Die Untersuchung der pragmatischen Probleme muss daher in der Politischen Wissenschaft einen breiten Raum einnehmen. Aber Ordnung kann zugleich nur vom Bewusstsein ausgehen, weshalb diese Seite der menschlichen Natur in der Politischen Wissenschaft nicht vernachlässigt werden darf.

Voegelin glaubt nun spezifische Irrtümer verschiedener Ansätze des politischen Denkens aus der Vernachlässigung jeweils eines Teils der menschlichen Natur erklären zu können. Diese Vernachlässigung scheint für Voegelin nicht bloß ein theoretisch-wissenschaftlicher Fehler zu sein, sondern er erblickt darin „Krankheitsbilder, an denen das pneumopathische Phänomen des Realitätsverlustes, der Verdunkelung von Sektoren der Realität“51Voegelin, Anamnesis, S. 341. zu erkennen ist.

Aus der Vernachlässigung der Leiblichkeit resultieren nach Voegelins Überzeugung alle Formen von Utopien, wobei Voegelin mit feinen Unterscheidungen nicht allzu kleinlich verfährt, so dass in diese Kategorie alles von der aufklärerischen Fortschrittsidee bis zum Dritten Reich fällt, und auch Karl Marx sich anscheinend wieder einmal für Nietzsches Übermenschen verantworten muss.52Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 341. – Zwar spricht Voegelin nur allgemein vom Übermenschen („sei es der von Marx oder von Nietzsche“), aber die Frage stellt sich, wo Marx denn jemals den Übermenschen gepredigt hat.

Auf die Vernachlässigung der Geistnatur des Menschen sind nach Voegelins Ansicht die Gesellschaftsvertragstheorien zurückzuführen. Voegelin unternimmt jedoch nicht den geringsten Versuch, zu erklären, inwiefern sich die Vertragstheorien allein auf die Leiblichkeit des Menschen beschränken. Sein lapidarer Verweis auf Platons Staat hilft nicht wirklich weiter, da Platon im Staat zwar die sophistische Vertragstheorie skizziert aber nicht eigens widerlegt.53Vgl. Platon: Der Staat, Stuttgart 1997, S. 126 (359a). - Die Vertragstheorie wird dort im Zusammenhang einer umfassenden Wiedergabe sophistischer Lehren über die Gerechtigkeit aufgeführt. Allerdings widerlegt Sokrates diese Lehren nicht im Einzelnen, sondern er geht statt dessen sogleich zur Konstruktion des idealen Staates über. Wir erfahren daher nicht die Gründe, die gegen die Vetragstheorie sprechen. Allenfalls könnte man aus dem Bau des idealen Staates indirekt solche Gründe ableiten.

Schon zuvor hat Voegelin darauf hingewiesen, dass es kein Kollektivbewusstsein gibt. Sofern man sich jedoch im Klaren darüber bleibt, dass sich gesellschaftliches Handeln oder Denken stets aus den Handlungen und Gedanken einzelner Individuen zusammensetzt, ist es im Sinne einer abkürzenden Ausdrucksweise legitim, davon zu sprechen, dass „jede Gesellschaft die Symbole hervorbringt, durch die sie ihre Erfahrung von Ordnung ausdrückt.“54Voegelin, Anamnesis, S. 342. Werden bestimmte Ordnungserfahrungen und -symbole von einer Gruppe von Menschen geteilt und zur Grundlage ihrer Handlungsweisen gemacht, so spricht Voegelin von einem „sozialen Feld“. Soziale Felder können dauerhaft und institutionell verfestigt sein. Dann handelt es sich um „Gesellschaften“. Sie können aber auch rein ideeller Natur sein, wie z.B. die „ideologischen Sozialfelder“.55Voegelin, Anamnesis, S. 342. Darüber hinaus schließen sich die Zugehörigkeiten zu manchen Sozialfeldern gegenseitig aus, andere nicht. Voegelin bringt die Exklusivität von Sozialfeldern irrtümlich mit der Frage in Zusammenhang, ob die Sozialfelder in der Leiblichkeit oder nur im Bewusstsein fundiert sind. So glaubt Voegelin, dass die organisierten Gesellschaften (Staaten) auf Grund ihres Fundamentes in der Leiblichkeit wechselseitig exklusiv sein müssen. Aber in Wirklichkeit hängt dies von der Gestaltung des Staatsbürgerschaftrechtes ab, das eine Doppelstaatsbürgerschaft zulassen kann oder nicht. Umgekehrt schließen viele Religionen die gleichzeitige Zugehörigkeit zu einer anderen Religion aus, obwohl eine Religion doch gewiss eher ein „Feld des Bewußtseins“ ist. Das Leibfundament spielt für die Exklusivität also keine Rolle.56Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 342-343. Probleme befürchtet Voegelin, wenn es innerhalb einer Gesellschaft mehr als nur das eine tragende Sozialfeld gibt. Die pluralistische Demokratie erscheint ihm daher als ein „prekäre[r] Kompromiß“.57Voegelin, Anamnesis, S. 342.

Ein weiteres wissenschaftliches Problem, das Voegelin in diesem Zusammenhang aufwirft, ist die Frage, welches die Sozialfelder sind, innerhalb derer historische Prozesse stattfinden. Die Nationalstaaten sind als Einheiten offenbar zu klein, da die geschichtlichen Entwicklungsprozesse meist weit über den Rahmen einzelner Nationalstaaten hinausreichen. Arnold Toynbee betrachtete die Zivilisationen als diejenigen Einheiten, welche eine umfassende geschichtliche Betrachtung in den Blick nehmen muss. Dagegen wendet Voegelin jedoch ein, dass es auch multizivilisatorische Reiche gibt, die auf diese Weise nicht erfasst werden können. Voegelin bezeichnet solche zivilisationsübergreifenden Sozialfelder mit dem von Herodot übernommenen Begriff der Oikoumene. Weiterhin vertritt Voegelin die These, dass (in der Zeit, als er den Aufsatz verfasste) die Oikoumene global geworden sei, und er befürchtet, dass diese global gewordene Oikoumene das „potentielle Organisationsfeld für ideologische Imperien“ sei.58Voegelin, Anamnesis, S. 344.

Von dem Thema „Oikoumene“ dazu angeregt, kommt Voegelin noch einmal auf die Themen Menschheit und Geschichte zu sprechen. Im Wesentlichen wiederholt Voegelin allerdings nur, was er zu diesen Themen bereits zuvor geäußert hat. Mensch und Menschheit sind „nicht Gegenstände der Außenwelt, über die man selbst-gewisse, empirische Aussagen machen könnte; vielmehr sind sie Symbole, die von konkreten Menschen ... als Ausdruck für den menschlich-repräsentativen Charakter ihrer Erfahrung vom Grund gefunden wurden“.59Voegelin, Anamnesis, S. 344. Die Symbole „Mensch“ und „Menschheit“ legen das „Wissen von der Menschenwesentlichkeit“ aus, welches erfahren wird, „Wenn das Bewußtsein von Ordnung durch die existentielle Spannung zum Grund die Helle der noetischen und pneumatischen Erfahrungen erreicht“.60Voegelin, Anamnesis, S. 344. Es fällt nicht leicht, dies mit Voegelins vorheriger Behauptung zu vereinbaren, dass die noetische Erfahrung ihren repräsentativen Charakter nur unter der Voraussetzung einer ausschließlich durch die kosmische Primärerfahrung begründbaren Wesensgleichheit aller Menschen erhält.61Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 291. Eine konsistente Interpretation beider Textstellen ist nur möglich, wenn man annimmt, dass der „menschlich-repräsentative Charakter“ der Erfahrung allein durch Rekurs auf die kosmische Primärerfahrung gegeben ist, dass er aber, sobald sich die noetische Erfahrung eingestellt hat, durch dieselben Symbole („Mensch“ und „Menschheit“) zum Ausdruck gebracht wird wie die „Menschenwesentlichkeit“ (Existenz des Menschen in der „Spannung zum Grund“ als dem Wesen des Menschen), ohne dass jedoch die „Menschenwesentlichkeit“ die Primärerfahrung in ihrer Funktion der Begründung des repräsentativen Charakters der Erfahrung ablösen könnte (weshalb es sich in diesem Falle auch nicht um eine Differenzierung von Erfahrung handelt). – Wie auch immer man die beiden Textstellen (S. 290/291, S. 344/345) in ihrer Beziehung zueinander deuten mag, falsch ist Voegelins Ansicht aus den bereits genannten Gründen in jedem Fall. Geschichte ist für Voegelin die Geschichte der auf den transzendenten Seinsgrund bezogenen Menschheit. Weiterhin unterscheidet Voegelin die „universale Menschheit“62Voegelin, Anamnesis, S. 345., zu der auch alle schon gestorbenen und noch zukünftig lebenden Menschen gehören, von der „kontemporanen Kulturmenschheit“‚63Voegelin, Anamnesis, S. 344. die nur die in der Gegenwart lebenden Menschen umfasst. Trivialerweise ist nur die kontemporane Kulturmenschheit ein Feld möglicher Organisation, während die universale Menschheit lediglich im „Interpretationsfeld“ Geschichte auftaucht. Voegelin weist außerdem noch einmal nachdrücklich daraufhin, dass das „Bewußtsein von der existentiellen Spannung zum Grund ... ontisch über alle immanent-zeitlichen Prozesse der Geschichte hinaus[ragt].“64Voegelin, Anamnesis, S. 345 Vermutlich, weil die Spannung zum Grund zur Selbsterfahrung des Menschen gehört, schließt Voegelin im folgenden, dass das Symbol „Geschichte“ (so wie Voegelin es versteht) aus dem Wissen von der Spannung zum Grund stammt‚65Voegelin spricht an der entsprechenden Stelle (S. 345 unter (8)) von „Menschwesentlichkeit“, doch scheint dies lediglich ein weiteres Synonym Voegelins für die Spannung zum Grund zu sein, welches sich dadurch erklärt, dass für Voegelin die existentielle Spannung zum Grund das Wesens des Menschen ausmacht. und dass eine Interpretation der Ordnung der Existenz einer Gesellschaft zunächst auf die „Akte des Selbstverständnisses“ eingehen muss, „um von diesem Zentrum her die Ramifikationen in die Ordnung der Gesamtexistenz zu verfolgen.“66Voegelin, Anamnesis, S. 345. Weiterhin stellt Voegelin fest, dass nur die vergangene Geschichte interpretiert werden kann, dass es aber unmöglich ist, den „Sinn der Geschichte“ in die unvorhersagbare Zukunft hinein zu verfolgen. Eschatologien können daher auch nur als mythisch-symbolischer Ausdruck der „Spannung zur Ewigkeit des Grundes“67Voegelin, Anamnesis, S. 346. einen Sinn beanspruchen. Sie dürfen nicht als noetische Analyse oder empirische Aussage missverstanden werden.

D. Kritik: Die Unerheblichkeit des Leib-Geist Dualismus

Es ist ziemlich offensichtlich und bedarf daher keiner ausführlichen Erörterungen, dass der Versuch, mit Hilfe des Leib-Geist Dualismus politisches Denken und soziale Gebilde zu charakterisieren, nicht gerade einen Glücksgriff theoretisch-wissenschaftlicher Erklärungskunst darstellt. Voegelin scheint sich nicht recht im Klaren darüber zu sein, dass die Ausdrücke „Leiblichkeit“ und „Leibfundament“ in den Zusammenhängen, in denen er sie verwendet, kaum mehr als Metaphern sind, die er zudem in einer recht willkürlichen und kaum nachvollziehbaren Weise mit verschiedenen politischen Theorieansätzen und Denkweisen assoziiert. Zwar mag es sein, dass Voegelin die politischen Utopien zu Recht für bedenklich erachtet. Aber mit Hinweis darauf, dass in der Utopie „das Bewußtsein von seiner Leiblichkeit frei[gesetzt]“68Voegelin, Anamnesis, S. 341. werde, lässt sich das utopische Denken ebensowenig erledigen, wie man dem Faschismus einen entscheidenden Schlag versetzt hat, wenn es einem gelingt, die Gnosis philosophisch zu widerlegen. Dass andererseits die Gesellschaftsvertragstheorien als Folge der Reduktion des Menschen auf seine Leiblichkeit und ihre Begierden zu betrachten sind, leuchtet schon deshalb nicht ein, weil der Abschluss eines Vertrages Vernunft und damit Geist und Bewusstsein voraussetzt. Voegelin hoffte wohl, mit Hilfe der ontologischen Unterscheidung Theorieansätze und Ideologien, die ihm missfielen, bereits bei einem besonders elementaren Fehlschluss ertappen zu können (so wie man manchmal insgeheim hofft, bei einem Philosophen, dessen Ansichten man verabscheut, irgendwo einen offensichtlichen Widerspruch anzutreffen). Aber aus dem Leib-Geist Dualismus lassen sich keinerlei gültige Kriterien zur Beurteilung politischer Theorien ableiten.

Auf Voegelins wissenschaftliche Programmatik, die er in diesem Abschnitt seines Aufsatzes entwickelt, und auf die Begriffe Menschheit und Geschichte braucht an dieser Stelle kein weiteres Mal eingegangen zu werden, da Voegelin kaum etwas Neues zu seinen bisherigen Begriffsbestimmungen hinzufügt. Lediglich in Bezug auf den Geschichtsbegriff ist festzuhalten, dass Voegelin offenbar versucht, sein methodisches Prinzip, dass „sich jede Untersuchung von Ordnung auf die Akte des Selbsverständnisses [einer Gesellschaft] zu konzentrieren“69Voegelin, Anamnesis, S. 345. – Dass Voegelin mit diesem Prinzip in Schwierigkeiten gerät, wenn sich herausstellt, dass die „Akte des Selbsverständnisses“ sich einmal nicht, wie Voegelin es wollte, auf die Spannung zum Seinsgrund beziehen, und das er es in diesem Fall vorzog, sich über die „Akte des Selbstverständnisses“ großzügig hinweg zu setzen, wurde bereits zuvor angedeutet (siehe Seite ). – Einen besonders krassen Fall, in dem Voegelin sich über die „Akte des Selbstverständnisses“ der von ihm behandelten Philosophen hinwegsetzt, weist Hans Kelsen hinsichtlich von Voegelins Beurteilung der Absichten der französischen Enzyklopädisten in der „Neuen Wissenschaft der Politik“ nach. Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, S. 95/96. habe, bereits aus dem Begriff der Geschichte als eines universalen Interpretationsfeldes, welches die gesamte vergangene und zukünftige Menschheit in ihrer Beziehung zum Seinsgrund umfasst, herzuleiten. Wenn jener methodische Grundsatz auch als regulatives Prinzip der Forschung mit Einschränkungen hilfreich sein kann, so erscheint dennoch der Versuch, diesen Grundsatz a priori abzuleiten und damit zum Dogma zu erheben, als überaus fragwürdig.

E. „Common Sense“ als kompaktes Ordnungswissen

Im Schlussteil seines Aufsatzes fasst Voegelin nach einer weiteren ausführlichen Wiederholung seiner bisherigen Ergebnisse seine Ansichten von politischer Ordnung und politischer Ordnungswissenschaft in Form eines knappen Modells zusammen. Außerdem knüpft Voegelin noch einmal an sein Ausgangsproblem des Unterschiedes zwischen politikwissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Methode an, wobei er zu dem Ergebnis kommt, dass die Politikwissenschaft, soweit es nicht um die noetische Ergründung der Seinsrealität geht, lediglich aus „Common Sense“-Einsichten bestehen kann. In diesem Zusammenhang stellt Voegelin auch die These auf, dass der „Common Sense“ eine kompakte Form noetischen Ordnungswissens darstelle.

Voegelins Modell politischer Ordnung gestaltet sich folgendermaßen: Ordnung existiert auf den drei Ebenen der Ordnung des Bewusstseins, der Ordnung der Gesellschaft und der Ordnung der Geschichte.70Als vierte Ebene spielt bei Voegelin häufig noch eine mehr oder weniger eigenständige Ebene der Ordnung des Seins eine Rolle, die hier jedoch nicht eigens aufgeführt wird. Es besteht jedoch (trotz der vergleichsweise idealistischen Tendenz dieses Aufsatzes) kein Zweifel daran, dass für Voegelin die Ordnung des Bewusstseins auf die Erfahrung einer objektive Ordnung des Seins zurückgeht. Diese drei Ebenen bilden eine Reihenfolge, die nicht verändert werden kann. So geht zwar die Geschichte aus der Abfolge gesellschaftlicher Ordnungen hervor, aber es wäre ein schwerer Fehler, die gesellschaftliche Ordnung nach Maßgabe einer Geschichtsphilosophie gestalten zu wollen. Als einen weiteren Grundsatz stellt Voegelin das Prinzip auf, dass keine dieser Ebenen unabhängig von den anderen ist (was genaugenommen so verstanden werden muss, dass die nachfolgenden Ebenen abhängig von den vorhergehenden sind, da andernfalls dieses Prinzip Voegelins Forderung der Unumkehrbarkeit der Reihenfolge der Ordnungsebenen widerspräche). Abgesehen von diesen Ordnungsebenen und ihrer Abfolge untereinander muss eine politische Theorie die Hierarchie der Seinsstufen vom materiellen Sein bis zum Bewusstsein berücksichtigen, nach welcher die höheren Seinsstufen in den niedrigeren fundiert sind, während die niedrigeren Seinsstufen durch die höheren organisiert werden.71Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 349-350. – Vgl. auch Eric Voegelin: Vernunft: Die klassische Erfahrung, in: Eric Voegelin: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte. Späte Schriften. (Hrsg. von Peter J. Optiz), Stuttgart 1988, S. 127-164 (S. 162).

Welchem Zweck dient dieses Modell, außer dass es in knapper Form die Essenz von Voegelins Ordnungsphilosophie zusammenfasst? Voegelin glaubt, dass irrige Theorien politischer Ordnung an Verstößen gegen die Prinzipien dieses Modells leicht erkannt werden können. Dies zeigt sich für Voegelin an manchen Geschichtsphilosophien, was Voegelin jedoch nicht an einem Beispiel, sondern nur unter Berufung auf einen anderen Kritiker (Paul Ricœur) der Geschichtsspekulationen demonstriert.72Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 350-351. Auch in der Auffassung, man könne in der Politikwissenschaft so wie in der Naturwissenschaft allgemeine Gesetze finden, erblickt Voegelin einen Verstoß gegen sein Modell, ohne dass er jedoch deutlich erklärt, weshalb hier ein Verstoß vorliegt. Jedenfalls vertritt Voegelin die Ansicht, dass die Politische Wissenschaft, sofern sie sich mit politischen Institutionen und nicht mit der Noese beschäftigt, lediglich „Common Sense“-Einsichten zu Tage fördern kann. Zu derartigen „Common Sense“-Einsichten gehört beispielsweise die Feststellung, „daß Macht die Tendenz hat, von ihrem Besitzer mißbraucht zu werden“, oder auch die Einsicht, „daß Kabinette nicht mehr als eine gewisse Zahl von Mitgliedern haben sollten, weil über eine Zahl von etwa zwanzig hinaus Beratungen und Entscheidungen schwierig werden.“73Voegelin, Anamnesis, S. 351.

Dabei stellt der „Common Sense“ für Voegelin weit mehr dar als bloß eine Ansammlung von Faustregeln des politischen Alltagsverstandes. Voegelin vertritt vielmehr die These, dass der „Common Sense“ eine kompakte Form des noetischen Ordnungswissens ist – nicht anders als dies auf seine Weise der Mythos ist, nur dass der „Common Sense“ die Noese voraussetzt, während der Mythos umgekehrt ihre Vorstufe bildet. Voegelin begründet seine These im Rückgriff auf den schottischen Philosophen Thomas Reid. Reid verstand unter „Common Sense“ den Teil der Vernunft („reason“), der, ausschließlich aus selbstevidenten Elementarwahrheiten zusammengesetzt, auch den ungebildetsten Menschen noch zu Gebote steht. Voegelin interpretiert dies dahingehend, dass für Thomas Reid der „Common Sense“ ein kompakter Typus von Rationalität sei (im Sinne der Spannung des Bewusstseins zum transzendenten Seinsgrund, von der Reid allerdings nirgendwo redet). Demnach unterscheiden sich der „Common Sense“ und die aristotelische Noese nur durch die „Bewußtseinshelle“ (das Wissen darum, dass das Bewusstsein sich in einer Spannung zum Grund befindet).

Voegelin glaubt weiterhin, dass der „Common Sense“, dessen Philosophie im 18. Jahrhundert „eben noch rechtzeitig, um nicht von der ideologischen Dogmatik gebrochen zu werden“‚74Voegelin, Anamnesis, S. 353. entstanden ist, ein „echtes Residuum der Noese“75Voegelin, Anamnesis, S. 354. darstellt. Daraus erklärt sich für Voegelin die „Widerstandskraft des anglo-amerikanischen Kulturbereiches gegen die Ideologien“. Langfristig jedoch reicht in Voegelins Augen die Widerstandskraft des „Common Sense“ gegen die Ideologien nicht aus, so dass die Wiedergewinnung der „Helle des noetischen Bewußtseins“76Voegelin, Anamnesis, S. 354. unerlässlich ist.

F. Kritik: „Common Sense“ ist kein Ordnungswissen

Da die Kritik an Voegelins Modell der Entstehung politischer Ordnung größtenteils bereits vorweggenommen wurde, genügt es, an dieser Stelle die wichtigsten Einwände kurz zusammenzufassen: Gegen Voegelins Forderung, dass die Ordnung der Gesellschaft stets aus einer durch besondere mystische Erfahrungen bestimmten Ordnung des Bewusstseins hervorzugehen hat, ist einzuwenden, dass es keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, dass dieser Weg (und nur dieser Weg) zu einer gerechten und erfolgreichen politischen Ordnung führt. Überzeugend erscheint dagegen Voegelins Ablehnung einer geschichtsphilosophischen Ableitung des gesellschaftlichen Ordnungsentwurfs, auch wenn Voegelins Argumentation in diesem Punkt ein wenig umständlich wirkt.77Wesentlich klarer argumentiert im Vergleich zu Voegelin sein Zeitgenosse Karl Popper gegen die Geschichtsphilosophien und insbesondere gegen die Vorhersagbarkeit der Geschichte: Vgl. Karl Popper: Das Elend der Historizismus, Tübingen 1987 (6. Aufl.), S. XI-XII. Als recht dogmatisch und theoretisch überaus fragwürdig erweist sich Voegelins Forderung nach der Berücksichtigung der ontologischen Stufenhierarchie in der politischen Theorie. Abgesehen davon, dass die Rechtfertigung ontologischer Stufentheorien viele schwierige philosophische Probleme aufwirft‚78Eine wesentliche Schwierigkeit ontologischer Stufentheorien besteht darin, dass häufig angenommen wird, dass die Gesetze, die auf den niederen Ebenen gelten, auf den höheren Ebenen außer Kraft gesetzt sind, so dass beispielsweise die körperliche Ebene deterministisch, der Geist aber frei gedacht wird. Gerade dies ist jedoch nicht möglich, denn wenn alle physischen Vorgänge deterministisch ablaufen, kann auch der Geist, dessen Wirken auf physischen Vorgängen beruht (bzw. der im Körper „fundiert“ ist), auch dann nicht frei sein, wenn sich das Geistige nicht im Physischen erschöpft: Grundsätzlich können auf den höheren Ebenen nur weitere Gesetze hinzukommen, aber nicht die auf den niederen Stufen bestehenden Gesetze aufgehoben werden. und die ontologischen Stufentheorien darüber hinaus jederzeit Gefahr laufen, durch neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse umgestoßen zu werden, ist es kaum ersichtlich (und auch Voegelin demonstriert es nirgendwo in einer einleuchtenden Weise), wie aus der ontologischen Stufenhierarchie heraus eine Kritik an einer politischen Theorie geübt werden kann. Da die ontologischen Zusammenhänge auf der Ebene der Politik keine unmittelbare Wirksamkeit entfalten, kann wahrscheinlich jede politische Theorie ohne Aufgabe ihrer zentralen Forderungen an irgendeine vorgegebene Ontologie angepasst werden. So dürfte es vermutlich keinem Marxisten Probleme bereiten, gegebenenfalls zuzugeben, dass der Mensch ein leiblich-geistiges Wesen ist, dessen Geist im Leib fundiert ist. Im Übrigen können gegen politische Ideologien wie den Faschismus oder den Kommunismus wahrlich bessere Vorwürfe erhoben werden als die Nicht-Berücksichtigung des Aufbaus des Seinsbereiches Mensch. Alles in allem erscheint Voegelins Modell zur Beurteilung politischer Ordnungsentwürfe und theoretischer Erklärungsansätze in der Politikwissenschaft wenig tauglich.

Ernstzunehmender als Voegelins Modell politischer Ordnung ist seine Be­haup­tung, dass die Politische Wissenschaft lediglich „Common Sense“-Einsichten zu Tage fördern kann. Es kann in der Tat nicht bestritten werden, dass die politischen Wissenschaften in dem Bestreben, möglichst allgemeine Grundsätze zu finden, und prognosefähige Theorien aufzustellen, längst nicht dieselben Erfolge feiern können wie die Naturwissenschaften. Dies mag damit zusammenhängen, dass insbesondere bei historisch-politischen Untersuchungen die Allgemeinheit fast immer durch einen Verlust an Genauigkeit erkauft wird.79So verläuft beispielsweise die Transition von einer Diktatur zur Demokratie in unterschiedlichen Staaten trotz gewisser Ähnlichkeiten unterschiedlich, so dass eine allgemeine Transitionstheorie, je mehr Transitionen in unterschiedlichen Ländern sie beschreiben soll, desto größere Abweichungen zu den einzelnen Transitionen aufweisen wird. In den Naturwissenschaften verhält sich dies anders: Ein Stein, der in Moskau zu Boden fällt, fällt auf die gleiche Weise wie ein Stein in Budapest. Und aus der allgemeinen Gravitationstheorie lassen sich die Planetenbewegungen ebenso exakt ableiten wie die Fallgesetze. Die Gründe, die Voegelin gegen die Möglichkeit größerer Verallgemeinerungen in der Politikwissenschaft anführt, sind jedoch alles andere als überzeugend. Weshalb der „Bau des Seinsbereich Mensch“ es verbietet nach allgemeinen Gesetzen des menschlichen Verhaltens zu suchen, bleibt völlig im Dunkeln.80Abgesehen davon verwechselt Voegelin an der entsprechenden Stelle (Voegelin, Anamnesis, S. 352: „Jeder Versuch...Mensch“) offenbar Axiome mit Naturgesetzen. (Von der sauberen Unterscheidung zwischen normativen und deskriptiven Theorien und einer fairen Beurteilung der Absichten szientistischer Ansätze ganz zu schweigen.) Sicherlich führt der naive Versuch naturwissenschaftliche Herangehensweisen auf die Gesellschaftswissenschaften zu übertragen häufig dazu, dass viel Zeit und Energie für Ansätze verschwendet wird, die am Ende doch nicht funktionieren.81Vgl. Shapiro, Flight from Reality, S. 1ff. Aber ganz gewiss ist ein solcher Versuch nicht, wie Voegelin fürchtet, eine „potentielle Quelle gesellschaftlicher Unordnung, insofern er Störungen des rationalen Bewußtseins in anderen Menschen bewirken kann“.82Voegelin, Anamnesis, S. 352. Und auch wenn man zugibt, dass die Erkenntnisfortschritte der Politikwissenschaften verglichen mit denen der Naturwissenschaften von einer recht unspektakulären Art sind, so muss dies nicht unbedingt bedeuten, dass Gesetzmäßigkeiten, wie etwa jene vielzitierte Feststellung Lord Actons, dass Macht korrumpiert, nur Erkenntnisse des gesunden Menschenverstandes darstellen. Dies wörtlich zu behaupten, hieße zu verkennen, dass sich derartige Einsichten nicht selten erst als Folge des gedanklichen Bewusstwerdens langer und schmerzlicher historischer Erfahrungen durchsetzen.

Mehr als fragwürdig muss Voegelins Versuch genannt werden, den „Common Sense“ unter Rückgriff auf Thomas Reid als eine kompakte Form noetischen Ordnungswissens zu interpretieren. Als Thomas Reid den „Common Sense“ als einen Teil der Vernunft bestimmte, dachte er natürlich nicht im Traum an irgendetwas, was der Voegelinschen „Ratio“ (als „Sachstruktur“ des in der „existentiellen Spannung zum Grund“ stehenden Bewusstseins) auch nur in irgendeiner Weise nahegekommen wäre. Für Thomas Reid besteht der „Common Sense“ aus denjenigen elementaren Prinzipien des menschlichen Urteilsvermögens, die es erlauben, selbst-evidente Zusammenhänge zu beurteilen. Die Vernunft (reason) umfasst darüber alle Schlussfolgerungen, die mit Hilfe dieser selbstverständlichen Wahrheiten gezogen werden können.83Vgl. Thomas Reid: Essays on the intellectual powers of man. (Ed. A.D. Wooz­ley), London 1941, S.329ff. – Zur Schule der Schottischen Philosophen vgl. James Mc­Cosh: The Schottish Philosophy, 1875 (ed. 1995 by James Fieser) auf: ""http:""//"ßocserv2""."ßocsci"".""mcmaster"".""ca""/""\~ econ""/"ügcm""/""3ll3""/""mccosh""/"ßcottishphilosophy.pdf"" (Archive for the history of economic thought, McMaster University, Hamilton, Canada; letzter Zugriff am: 30.3.2005). Zu Thomas Reid: Ebd., S. 178-209. Mystische Erfahrungen oder noetisches Ordnungswissen spielen bei Thomas Reid keine Rolle. Dementsprechend erscheint es auch recht fragwürdig, den „Common Sense“ Thomas Reids als eine kompakte Form der aristotelischen Noese einzustufen.84Mit seiner These, dass der „Common Sense“ eine kompakte Form der aristotelischen Noese sei, landet Voegelin allerdings insofern noch einen Zufallstreffer, als der Philosophie des Aristoteles tatsächlich vielfach eine gewisse Nähe zum „Common Sense“ eigen ist, was sich am deutlichsten in der Lehre von der goldenen Mitte darstellt. (Vgl. auch Russell, History of Western Philosophy, S. 176.) Mit der Noese hat dies jedoch nichts zu tun, denn sonst müsste eine ähnliche Nähe zum „Common Sense“ auch bei Platon, den Voegelin als Noetiker dem Aristoteles an die Seite stellt, zum Vorschein kommen. Eine Verwandtschaft mit dem „Common Sense“ kann der Philosophie Platons im Gegensatz zu der des Aristoteles jedoch kaum nachgesagt werden. Es stellt sich natürlich die Frage, wie Voegelin ein derartig grober Interpretationsfehler unterlaufen konnte. Möglicherweise hat Voegelin Gedanken, die ihm bei der Lektüre von Thomas Reid in den Sinn kamen, mit den Aussagen dieses Philosophen verwechselt. Vielleicht ist Voegelin an dieser Stelle aber auch das Opfer seiner eigenen Definitionswillkür geworden, indem er zuerst den Ausdruck „Ratio“ ganz entgegen der üblichen Wortbedeutung definiert hat, und er dann offenbar vergisst, dass Thomas Reid als ein Philosoph des 18. Jahrhunderts den Ausdruck „reason“ natürlich noch in einem ganz gewöhnlichen Sinne gebraucht.

Als historischer Mythos muss auf Grund dieses Interpretationsfehlers die These Voegelins betrachtet werden, dass sich die Noese im 18. Jahrhundert in den „Common Sense“ geflüchtet habe, um auf diese Weise das Heraufkommen der Ideologien zu überwintern und den anglo-amerikanischen Kulturbereich gegen totalitäre Versuchungen zu immunisieren. Ohnehin hätte – um diese These einigermaßen glaubhaft zu begründen – der „Common Sense“ als soziales Phänomen näher eingegrenzt werden müssen, wofür der Hinweis auf eine philosophische Schule des 18. und frühen 19. Jahrhunderts nicht ausreicht.

G. Fazit

Insgesamt stellt Voegelins Aufsatz „Was ist politische Realität?“ zwar einen grandiosen Versuch dar, unter Rückgriff auf unterschiedliche philosophische Disziplinen von der politischen Philosophie bis zur Sprachphilosophie und unter breitem Einbezug der Tradition abendländischen politischen Denkens das Wesen der politischen Wirklichkeit zu bestimmen. Zugleich ist jedoch festzuhalten, dass dieser ambitionierte Versuch komplett gescheitert ist. Verantwortlich dafür sind vorwiegend die kaum zu übersehenden argumentativen Schwächen in Voegelins Aufsatz. Darüber hinaus entsteht im Vergleich zu den frühen Schriften aus dem ersten Teil von „Anamnesis“ der Eindruck, dass Voegelin sich inzwischen auf dem Weg zu einer zunehmenden dogmatischen Verhärtung seiner Position befand. Während Voegelins Aufsatz „Zur Theorie des Bewußtseins“ noch mit einem Reichtum an originellen Einfällen und Gedankenblitzen glänzt, wiederholt Voegelin in seinem Grundsatzreferat „Was ist politische Realität“ nurmehr gebetsmühlenartig dieselben Dogmen. Dabei steht die Schärfe von Voegelins immer wieder durchbrechender Polemik in einem eigentümlichen Kontrast zu dem Mangel an einer stichhaltigen Begründung seiner eigenen Ansichten.


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