A. „Zur Theorie des Bewußtseins“

1. Voegelins Schrift „Zur Theorie des Bewußtseins“

In seinem Aufsatz „Zur Theorie des Bewußtseins“1Voegelin, Anamnesis, S. 37-60. legt sich Voegelin Rechenschaft über seinen eigenen philosophischen Standpunkt ab. Einleitend erklärt Voegelin, dass seine Aufzeichnungen die Ergebnisse anamnetischer Experimente enthielten, doch bezieht sich dies wohl eher auf die auf diesen Aufsatz folgenden Berichte von Kindheitserinnerungen. Der Aufsatz selbst zumindest besteht weit überwiegend aus theoretischer Diskussion.

Es fällt nicht leicht, die Thematik dieses Aufsatzes zu beschreiben, denn Voegelin reißt darin viele verschiedene Themen an. Den Hauptthemenschwerpunkt bildet eine Beschreibung der Struktur des Bewusstseins, seiner Beziehung zur Welt und eine Diskussion der Möglichkeiten des Bewusstseins dasjenige, was außerhalb des Bewusstseins liegt, zu erfahren und zu beschreiben. Daneben skizziert Voegelin umrisshaft eine ontologische Theorie und schließlich versucht Voegelin, nachdem er der Ontologie das Primat vor der Bewusstseinsphilosophie eingeräumt hat, das Auftreten der von ihm für falsch oder zu einseitig gehaltenen Bewusstseinsphilosophien historisch und wissenssoziologisch zu erklären.

Den Ausgangpunkt für Voegelins Überlegungen bildet eine Kritik der Theorien des Bewusstseins, die die Bewusstseinsstrommetapher in den Mittelpunkt ihrer Beschreibung stellen. Voegelin hält dies für eine falsche Akzentuierung: Zwar strömt das Bewusstsein auch, aber das Strömen ist weder der wesentliche noch ein alle anderen Bewusstseinsleistungen bedingender Faktor im Bewusstsein. Vor allem tritt das Strömen nur bei bestimmten Bewusstseinsvorgängen zu Tage wie etwa beim Hören von Tönen. Bei anderen Bewusstseinstätigkeiten – Voegelin beschreibt als Beispiel die inneren Vorgänge beim Betrachten eines Gemäldes – lässt sich das Strömen des Bewusstseins nur erfassen, wenn die Aufmerksamkeit von der Hauptsache abgelenkt wird. Voegelin betrachtet es daher als eine Spekulation, wenn der Bewusstseinsstrom als die Grundform aller Bewusstseinsvorgänge aufgefasst wird.2Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 37-43.

Nach Voegelins eigener Vorstellung vom Aufbau des Bewusstseins ist das Bewusstsein nicht durch zeitliches Fließen sondern thematisch durch Aufmerksamkeitszuwendung und -abwendung strukturiert. Voegelin nimmt an, dass es im Bewusstsein ein Aufmerksamkeitsquantum von nicht genau bestimmter aber beschränkter Größe gibt, welches verschiedenen Bereichen des Bewusstseins in mehr oder weniger starker Konzentration zugewandt werden kann. Im Bewusstsein gibt es nun zwei besonders ausgezeichnete Bereiche, Voegelin nennt sie „Erhellungsdimensionen“, denen bestimmte Formen der Aufmerksamkeitszuwendung, „Erinnerung“ und „Projektion“, entsprechen. Diese beiden Erhellungsdimensionen bezeichnet Voegelin daher passenderweise als „Vergangenheit“ und „Zukunft“. Aus dem Zusammenspiel von Aufmerksamkeitszuwendung und den Erhellungsdimensionen „Vergangenheit“ und „Zukunft“ leitet sich die Vorstellung der (inneren wie äußeren) Zeit ab. Voegelin vertritt also, wie es scheint, eine idealistische Auffassung der Zeit, die derjenigen nicht unähnlich ist, die Augustinus als erster in den „Bekenntnissen“ dargelegt hat.3Aurelius Augustinus: Bekenntnisse, Stuttgart 1998, S. 312-330 (Elftes Buch. XIII.15 - XXVIII.38). Man könnte geneigt sein, gegen die Logik dieser Art von Zeittheorien einzuwenden, dass die Vorgänge innerhalb des Bewusstseins, aus denen die Zeit hervorgeht, doch schon die Zeit als solche voraussetzen. Aber in der Tat setzen sie höchstens bestimmte (zeitliche) Relationen voraus. (Voegelin scheint diese Kritik jedoch ernst zu nehmen, denn er bringt sie etwas später als Selbsteinwand vor; vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 54/55.) Die idealistischen Zeittheorien scheitern aus einem anderen Grund: Wenn die Zeit ausschließlich eine Form oder Leistung des Bewusstseins ist, so ist nicht erklärlich, wie die Kommunikation zwischen den „Bewusstseinen“ verschiedener Menschen zeitlich aufeinander abgestimmt erfolgen kann, da die Botschaften des einen an das andere Bewusstsein doch durch eine äußere Welt hindurch müssen, in der die Zeitrelationen, die der idealistischen Annahme zufolge reine Bewusstseinsprodukte sind, verloren gehen müssten. (Das Argument stammt aus: Russell, History of Western Philosophy, S. 689, wo es im Zusammenhang mit der Diskussion der idealistischen Raum- und Zeittheorie Kants auftaucht. Es lässt sich aber unmittelbar auch auf andere idealistische Zeittheorien übertragen.) Da das Bewusstsein insgesamt endlich ist, so ist auch die Zeitvorstellung aus einem endlichen Vorgang abgeleitet. Dieser Vorgang ist der einzige wirkliche Prozess, von dem wir eine innere Erfahrung haben. Voegelin behauptet, dass dadurch der Bewusstseinsprozess „zum Modell des Prozesses überhaupt“4Voegelin, Anamnesis, S. 44. wird, und dass all unsere Begriffe von Prozessen nur von diesem einzigen uns zur Verfügung stehenden Modell abgezogen sind.5Nur wenige Seiten weiter behauptet Voegelin sonderbarerweise genau das Gegenteil: „... die Ordnung des Augenblicksbildes in der Dimension, die durch die Erhellung geschaffen wird, zur Sukzession eines Prozesses erfordert Erfahrungen von bewußtseinstranszendenten Prozessen.“ (Voegelin, Anamnesis, S. 55.) Infolge der Endlichkeit dieses Modells entstehen Ausdruckskonflikte bei der Beschreibung unendlicher Prozesse, wie sie außerhalb des Bewusstseins gelegentlich vorkommen können. Von diesen Ausdruckskonflikten rühren nach Voegelins Überzeugung auch die Kantischen Antinomien und die Paradoxe der Mengenlehre her.6Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 44/45. – Welche Paradoxe der Mengenlehre Voegelin meint, geht aus dem Text leider nicht hervor. Wahrscheinlich denkt Voegelin dabei an die Russellsche Antinomie, die eine Variante des klassischen Lügnerparadoxons ist und auftritt, wenn man versucht die Menge aller Mengen zu bilden, die sich nicht selbst als Element enthalten. (Vgl. auch die Kritik dieser Passage im folgenden Abschnitt.) Um unendliche Prozesse, die zwar erfahren bzw. erahnt aber nicht widerspruchsfrei beschrieben werden können, überhaupt in irgendeiner Weise zu artikulieren, ist es erforderlich, sich der geheimnisvollen Ausdrucksweise der Mythensymbolik zu bedienen. Den Begriff „Mythensymbol“ definiert Voegelin als ein „finites Symbol, das für einen transfiniten Prozess ‘transparent’ sein soll.“7Voegelin, Anamnesis, S. 45. Eine genauere Eingrenzung, welches die unendlichen Prozesse sind, die des Ausdruckes durch die Mythensymbolik bedürfen, gibt Voegelin nicht an. Seine Beispiele legen nahe, dass es sich dabei um die Gegenstände handelt, die in der Religion zum welttranszendenten Bereich gerechnet werden. Als Beispiele dieses Gebrauchs der Mythensymbolik führt Voegelin nämlich einige allegorische Deutungen bekannter Mythensymbole an. So vermittelt etwa die unbefleckte Empfängnis „die Erfahrung eines transfiniten geistigen Anfangs“8Voegelin, Anamnesis, S. 45.. Voegelin versäumt es leider zu klären, wie ein transfiniter geistiger Anfang Gegenstand der Erfahrung werden kann, und ob es jemals einen Menschen gegeben hat, der etwas derartiges tatsächlich erfahren hat.

Ein größeres Problem im Zusammenhang mit der Mythensymbolik stellt die Frage der Adäquatheit des Mythos dar. Damit meint Voegelin die Frage, ob ein Mythos überhaupt eine Erfahrung ausdrückt, und ob er, wenn er es tut, die Erfahrung richtig zum Ausdruck bringt. Voegelin erläutert dieses Problem am Beispiel zweier Mythen bei Platon, dem von Platon bewusst als reines Propagandainstrument konzipierten Mythos der drei Metalle, die in Platons Dialog Politeia den drei Sozialklassen zugeordnet werden, und dem Mythos aus den Nomoi, in dem die Menschen von den Göttern als Marionetten an metallenen Fäden gelenkt werden.9Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 46/47. Die beiden einzigen Kriterien, die Voegelin anführt, um den richtigen von dem von Platon bewusst konstruierten Mythos unabhängig von Platons eigener Mitteilung zu unterscheiden, sind: 1) Die Übereinstimmung mit Voegelins eigenen metaphysischen Überzeugungen, denn für Voegelin „finitisiert“ der zweite Mythos „im Marionettensymbol ‘adäquat’ die Erfahrung von der Handlung im Schnittpunkt der Determinanten, die wir respektive ‘Ich’ und ‘weltjenseitiges Sein’ nennen“‚10Voegelin, Anamnesis, S. 46. – An dieser Stelle wird nebenbei bemerkt deutlich, wie sehr Voegelin den Erfahrungsbegriff strapaziert. Denn, dass das was wir als teilweise Determiniertheit unser Handlungen erfahren mögen, Folge der Einwirkungen eines weltjenseitigen Seins ist, wird als solches eben nicht erfahren, sondern stellt bestenfalls eine metaphysische Deutung dieser Erfahrung dar. Das ‘weltjenseitiges Sein’ hier nur eine (ontologische neutrale) Benennung sein soll, wirkt kaum glaubwürdig, weil diese Benennung eine weltjenseitige Determinante in einem Zusammenhang suggeriert, in dem es viel plausibler wäre, zunächst die Möglichkeit weltdiesseitiger Determinanten in Erwägung zu ziehen. Der Trick der suggestiven Benennung von Phänomenen ist übrigens einer, den Voegelin der Heideggerschen Variante der Phänomenologie abgeschaut haben könnte. und 2) der emotionale Eindruck, indem der richtige Mythos „die ‘Schauer’ der Transzendenz, das ‘Numinose’ im Sinne Rudolf Ottos erregt.“11Voegelin, Anamnesis, S. 46. Beides sind, wie man unschwer erkennt, höchst subjektive Kriterien.

Im Zusammenhang mit der Mythensymbolik kommt Voegelin auch auf das Husserlsche Problem der „Konstitution der Intersubjektivität“ zu sprechen.12Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 91ff. (§42ff.). Dahinter verbirgt sich die Frage, woraus hervorgeht, dass die Menschen außerhalb des eigenen Bewusstseins eigene Wesen mit einem eigenen Bewusstsein sind. Im philosophischen Gedankenexperiment ist es möglich, sich vorzustellen, dass die anderen Menschen – so wie Gestalten im Traume – nur Hirngespinste des eigenen Bewusstseins sind, oder dass sie „Zombies“ sind, die körperlich und von ihrem Verhalten her Menschen gleichen, in deren Gehirnen jedoch kein Bewusstsein lebt. Edmund Husserl hat zu zeigen versucht, dass das Ich bestimmte Objekte des Erfahrungsfeldes als „alter ego“ konstituieren kann.13Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 112-116 (§ 50/51). Voegelin hält dies für ein reines Verwirrspiel. Seiner Ansicht nach existiert dieses philosophische Problem gar nicht, sondern es ist ein Faktum, dass das Bewusstsein die anderen Menschen als „Nebenbewußtsein“14Voegelin, Anamnesis, S. 47. erfährt. Übrig bleibt nur ein eher moralphilosophisches Problem, welches darin besteht, dieses „Erfahrungsfaktum“15Voegelin, Anamnesis, S. 47. so zum Ausdruck zu bringen, dass die Mitmenschen als gleichartig anerkannt werden können. Zur Behandlung dieses Problems greift Voegelin auf die Mythengeschichte zurück. Es ist nicht ganz klar, warum Voegelin es für notwendig erachtet, die Lösung im Rahmen der Mythensymbolik zu suchen. Bei den anderen Menschen handelt es sich schließlich auch nur um endliche Wesen, weshalb der zuvor beschriebene Ausdruckskonflikt nicht zum Tragen kommt. Zudem sind die anderen Menschen nicht welttranszendent, sondern nur in dem trivialen Sinne bewusstseinstranszendent, in dem auch Tiere und tote Gegenstände bewusstseinstranszendent sind, weil sie außerhalb und unabhängig vom Bewusstsein ihres Betrachters eine Eigenexistenz haben. Um solche Feinheiten kümmert sich Voegelin jedoch nicht weiter. Der Mythengeschichte meint Voegelin nun entnehmen zu können, dass alle bisherigen Gleichheitsideen historisch auf die beiden Mythen der Abstammung aller Menschen von einer Mutter oder der geistigen Prägung durch ein und denselben Vater (Gottesebenbildlichkeit) zurückgeführt werden können.16Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 47/48. Einen möglichen nicht-mythischen Ursprung bestimmter Gleichheitsideen zieht Voegelin gar nicht erst in Erwägung. Ja er versteigt sich sogar zu der kühnen Behauptung, dass die erkenntnistheoretischen Probleme der Intersubjektivität nur innerhalb dieses mythischen Rahmens behandelbar sind.17Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 48. Seine Ausführungen zum mythengeschichtlichen Ursprung der Gleichheitsidee nimmt Voegelin zum Anlass für einen kleinen Exkurs über einige mythengeschichtliche Einzelprobleme des Konflikts zwischen Gleichheits- und Gemeinschaftsmythen‚18Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 48-50. der schließlich in einer Klage über den Verlust des Mythos als Ausdrucksmittel für Transzendenzerfahrungen in der Gegenwart mündet: „Das unvermeidliche Ergebnis“, so Voegelin, „ist das Phänomen der ‘Verlorenheit’ in einer Welt, die keine Ordnungspunkte mehr im Mythos hat.“19Voegelin, Anamnesis, S. 50. Etwas unvermittelt leitet Voegelin daraus eine Erklärung für den letzten Weltkrieg ab: „Die gesellschaftsdynamisch wichtigsten Symptome sind die ‘Bewegungen’ unserer Zeit ... und die ’großen Kriege’: die Kriege nicht nur, wo sie vielleicht ein positives Wollen zur orgiastischen Entladung verraten, sondern auch dort, wo sie hingenommen werden müssen, weil die Handlungen, die sie verhindern könnten, durch die Paralyse des Ordnungswillens, der nur aktiv sein kann, wo er seinen Sinn in der Ordnung des Gemeinschaftsmythos hat, unmöglich gemacht werden.“20Voegelin, Anamnesis, S. 50. Nun ist aber die Berufung auf den „Gemeinschaftsmythos“ ein charakteristisches Merkmal gerade der faschistischen Ideologien. Wenn Voegelin mit der „Paralyse des Ordnungswillens“ auf die Appeasement-Politik Chamberlains gegenüber Hitler anspielen wollte, dann laufen seine Ausführungen auf den Vorwurf an die westlichen Demokratien hinaus, sich nicht ihrerseits faschistischer Methoden bedient zu haben.

Um angemessen über Dinge und Zusammenhänge reden zu können, die mehr sind als bloß Gegenstände endlicher, innerweltlicher Erfahrung, existiert für Voegelin neben der Mythensymbolik noch eine philosophisch-begriffliche Alternative in Form der Prozesstheologie. Sie beschreibt „die Beziehungen zwischen dem Bewusstsein, den bewusstseinstranszendenten innerweltlichen Seinsklassen und dem welttranszendenten Seinsgrund“21Voegelin, Anamnesis, S. 50.. Dieser Aufgabe ist die Prozesstheologie im Gegensatz zu anderen Ansätzen innerhalb der Metaphysik deshalb gewachsen, „weil in ihr zumindest der Versuch gemacht wird, die bewusstseinstranszendente Weltordnung in einer ‘verstehbaren’ Sprache zu interpretieren“, nämlich in einer Sprache, die an „der einzig ‘von innen’ zugänglichen Erfahrung des Bewusstseinsprozesses“22Voegelin, Anamnesis, S. 51. orientiert ist. Wie dies mit der vorherigen Behauptung zu vereinbaren ist, dass gerade dieses Modell zum Ausdruck der Erfahrung transfiniter Wirklichkeit eher untauglich sei‚23Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 44/45. enthüllt Voegelin nicht. Wahrscheinlich muss man sich die Prozesstheologie als der Mythologie verwandt vorstellen. Die Prozesstheologie stützt sich auf zwei „Erfahrungskomplexe“: Zum einen stützt sie sich auf die „Erfahrung“, dass die Welt aus mehreren wesensverschiedenen aber dennoch voneinander abhängigen Seinsstufen aufgebaut ist, und zum anderen basiert sie auf der in der Meditation zugänglichen Erfahrung des „welttranszendenten Seinsgrundes“. Werden diese beiden Erfahrungen kombiniert, so ergibt sich aus der Erfahrung der Abhängigkeit der Seinsstufen voneinander die „Nötigung“, sie als Phasen eines Prozesses der Entfaltung einer identischen Substanz zu betrachten, welcher – hier kommt die meditative Erfahrung ins Spiel – im welttranszendenten Seinsgrund seinen Ursprung hat. Da die Prozesstheologie unmittelbar auf „ontologischen Erfahrungen“ beruht, entzieht sie sich, wie Voegelin glaubt, auch den ansonsten naheliegenden erkenntnistheoretischen Einwänden Kantischer Provenienz, wonach es unzulässig ist, Kategorien der innerweltlichen Erfahrung auf das anzuwenden, was außerhalb aller möglichen Erfahrung liegt.24Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 50-54.

Auf der Grundlage dieser ontologischen Stufentheorie vollzieht Voegelin nun den Übergang vom Primat der Bewusstseinsphilosophie zum Primat der Ontologie.25Dieser Übergang ist übrigens durchaus typisch. In ähnlicher Weise ging auch Heidegger, ausgehend von Husserls phänomenologischer Bewusstseinsphilosophie, zur Ontologie über. Etwas vom Heideggerschen Pathos lässt sich bei Voegelin ebenfalls verspüren, wenn er vor dem möglichen Missverständnis warnt, man sei wieder in den „friedlichen Gewässern der Erkenntnistheorie“ (Voegelin, Anamnesis, S. 56.) angelangt. Zunächst geht Voegelin jedoch zum Ausgangspunkt seiner bewusstseinsphilosophischen Überlegungen zurück. Wenn das Bewusstsein durch die „Erhellungsdimensionen“ der „Vergangenheit“ und „Zukunft“ strukturiert ist und Zeit als solche dem Bewusstsein nicht unmittelbar gegeben ist, so kann bezweifelt werden, dass zwischen diesen Erhellungsdimensionen die zeitliche Beziehung der Sukzession besteht. Das Element der Zeitlichkeit lässt sich aus diesen Erhellungsdimensionen deshalb nicht ableiten‚26Zuvor scheint Voegelin jedoch gerade dies versucht zu haben. (Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 44.) weil es auch vorstellbar ist, dass Erinnerungen und Projektionen nur Phantasien eines im Augenblickspunkt der Gegenwart verharrenden Bewusstseins sind. Wie kann man aber einem solchen „Solipsismus des Augenblickes“27Voegelin, Anamnesis, S. 55. entgehen? Der einzige Ausweg besteht für Voegelin in der „Einsicht, dass das menschliche Bewusstsein nicht eine Monade ist, welche die Existenzform des Augenblicksbildes hat, sondern dass es menschliches Bewusstsein ist, d.h. Bewusstsein im Fundament des Leibes und der Außenwelt.“28Voegelin, Anamnesis, S. 55. Voegelin spricht hier zwar von einer „Einsicht“, aber diese Einsicht hat eher den Charakter eines Postulates, denn nachdem Voegelin einmal beim Solipsismus des Augenblickes angelangt ist, gibt es nichts mehr, woraus das Sein der Zeit und der Welt mit Gewissheit oder auch nur Wahrscheinlichkeit erschlossen werden könnte.

Unter dem Gesichtspunkt dieser ontologischen Einsicht ist auch der Begriff des Bewusstseinsprozesses neu zu deuten. Damit wir die Bewusstseinsvorgänge als zeitlichen Prozess auffassen können, sind „Erfahrungen von bewusstseinstranszendenten Prozessen“29Voegelin, Anamnesis, S. 55. erforderlich. Wie dies möglich ist, wenn – wie Voegelin zuvor kategorisch behauptet hat – der innere Bewusstseinsprozess seinerseits das einzige Modell darstellt, mit dem wir bewusstseinstranszendente Prozesse verstehen können‚30Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 44. bleibt etwas im Dunkeln. Voegelin scheint von einer Art wechselseitiger Abhängigkeit zwischen Sein und Bewusstsein auszugehen, wenn er im folgenden einerseits die physische Bedingtheit des Bewusstseins betont, zugleich aber der idealistischen Ansicht Raum gibt, dass das Sein der Dinge von der Beziehung auf ein Bewusstsein abhängig ist. Es lässt sich nicht leicht feststellen, auf welche Weise Voegelin bei dieser Argumentation einem Zirkelschluss entgehen will. Wahrscheinlich zu Recht weist Voegelin jedenfalls darauf hin, dass daraus, dass das Bewusstsein uns in innerer Erfahrung nur als reines Bewusstsein gegeben ist, nicht folgt, dass es nichts anderes als reines Bewusstsein ist. Vielmehr liefert nach Voegelins Überzeugung die innere Erfahrung nur eine Teilansicht eines untrennbaren materiell-geistigen Seinskomplexes. In der inneren wie der äußeren Erfahrung bekommt der Mensch jeweils nur den äußersten Zipfel eines Seins zu fassen, das sich weit über das in der Erfahrung Gegebene hinaus erstreckt.31Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 55-57.

Aus all diesen Überlegungen zieht Voegelin die Schlussfolgerung, dass die Bewusstseinsphilosophie keinen geeigneten Anfangspunkt der Philosophie darstellt. Das Bewusstsein setzt vielmehr das Sein voraus und die Frage des Anfangs kann nun immer weiter zurückgeschoben werden bis hin zur Frage des Anfangs der Geschichte des Kosmos. Offenbar trennt Voegelin nicht zwischen der Frage des erkenntnistheoretischen Ausgangspunktes und der Frage der historischen Seinsvoraussetzungen des Erkenntnisvermögens. Das klassische Problem eines absoluten Anfangs der Philosophie wird Voegelin noch in „Order and History V“ beschäftigen.32Vgl. Voegelin, Order and History V, S. 13f. Vorerst gelangt Voegelin zu dem Ergebnis, dass das Bewusstsein auf Grund dieser nie vollständig aufklärbaren Anfangsvoraussetzungen nicht wie äußere Gegenstände erkannt und beschrieben werden kann, sondern dass es lediglich durch Besinnung sich selbst und sein eigenes Sein erhellen kann.33Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 57/58.

Nachdem Voegelin solcherart die „Kehre“ zur Ontologie vollzogen hat, behandelt er als letztes Thema dieses Aufsatzes die wissenssoziologische Frage, wie es zu dem Auftreten der seiner Ansicht nach verfehlten Bewusstseinsphilosophien kommen konnte. Voegelin liefert eine solche Erklärung an zwei Stellen seines Aufsatzes. Die erste Erklärung bezieht sich auf den speziellen Fall der Bewusstseinsstromtheorien, die zweite Erklärung betrifft die Bewusstseinsphilosophie im Allgemeinen.

In den Bewusstseinsstromtheorien glaubt Voegelin ein „laizistisches Residuum der christlichen Existenzvergewisserung in der Meditation“34Voegelin, Anamnesis, S. 37. wiederentdecken zu können. Vermutlich auf Grund von einfühlendem Nachvollzug gelangt Voegelin zu der Auf\/fassung, dass im Bewusstseinserlebnis des „Strömens“ der „Engpaß des Leibes spürbar wird“.35Voegelin, Anamnesis, S. 40. Außer seinen eigenen Assoziationen, für die sich in den zeitphilosophischen Texten, auf die Voegelin sich bezieht, durchaus einzelne Hinweise finden lassen, führt Voegelin noch einen eher aus dem Zusammenhang gegriffenen Gedanken von William James (Vgl. William James: Essays in Radikal Empirischem, Anbringe, Kassakurses / London, England 1976, S. 19.) und etwas später (Anamnesis, S. 42) Bergsons Behandlung der eleatischen Paradoxe an. Bergson ist jedoch ein schlechter Gewährsmann, denn seine Behandlung der eleatischen Paradoxe scheint auf einer Verwechselung der physikalischen Begriffe von Ort und Bewegung zu beruhen: Dass ein Körper sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem ganz bestimmten Punkt im Raum befindet schließt nämlich nicht aus, dass er in diesem Punkt einen Bewegungszustand hat. (Vgl. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991, S. 184-190.) Voegelin schließt daraus, dass die Bewusstseinsstromtheorien ebenso wie die christliche Meditation auf eine Form der Transzendenz zielen. Während die Meditierenden in der christlichen Meditation jedoch Welttranszendenz suchen, zielen die Bewusstseinsstromtheorien lediglich auf die bloße Bewusstseinstranszendenz in Richtung der Leibsphäre hin.36Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 41-42.

In einem etwas allgemeineren Rahmen stellt das Auftreten der Bewusstseinsphilosophie für Voegelin die Reaktion auf eine Krise der Symbole dar, wie sie alle Kulturen von Zeit zu Zeit heimsucht. Die Symbole, mit denen die Menschen ihre Transzendenzerfahrungen ausdrücken, tendieren dazu, im Laufe der Zeit schal und inhaltsleer zu werden. Die daraus resultierende Kulturkrise kann nur durch die Beseitigung der alten und die Bildung neuer Symbole zum Ausdruck der Transzendenzerfahrungen behoben werden. Platon war dies als Antwort auf die Krisis der hellenischen Kultur im 5.Jahrhundert vor Christus in vorbildlicher Weise gelungen. Die neuzeitliche Philosophie, die mit Descartes ihren Anfang nimmt, stand nach Voegelins Ansicht vor einer ähnlichen Aufgabe, doch hat sie ihr Ziel verfehlt, indem sie zwar mit der Tradition gründlich aufräumte aber zugleich auch die Transzendenzerfahrungen aus dem Themenkanon der Philosophie ausschloss.37Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 58-60.

2. Kritik von Voegelins Theorie des Bewusstseins

Sind Voegelins Überlegungen „Zur Theorie des Bewußtseins“ überzeugend? Geben sie die Beziehungen zwischen Sein und Bewusstsein richtig wieder und dürfen Voegelins Argumente als stichhaltig angesehen werden? Da es kaum möglich ist, auf alle Einzelheiten der sehr vielfältigen Ausführungen Voegelins einzugehen, sollen zur genaueren kritischen Untersuchung nur einige Punkte herausgegriffen werden, die für Voegelins Argumentation von wesentlicher Bedeutung sind.

Innerhalb von Voegelins eigener Darstellung der Bewusstseinsstruktur findet sich an zentraler Stelle das Argument, dass sich das Bewusstsein bei dem Versuch, transfinite Prozesse deskriptiv zu beschreiben, auf Grund seiner eigenen Endlichkeit unvermeidlich in Widersprüche verwickelt. Das Argument spielt deshalb eine wesentliche Rolle, weil diese Widersprüche es erforderlich werden lassen, zur Deutung bestimmter Wirklichkeitsbereiche auf die zwar subtilen und seelisch sensiblen aber an Klarheit und Objektivität hinter einer deskriptiven Beschreibung zurückstehenden Instrumente der Mythensymbolik und der Prozesstheologie zurückzugreifen. Unglücklicherweise steckt gerade in dieser Passage von Voegelins Darstellung eine Reihe von Fragwürdigkeiten, die sich nicht ohne weiteres auflösen lassen.

Zunächst einmal ist es zweifelhaft, ob, wie Voegelin es behauptet, der Bewusstseinsprozess das einzige erfahrene Modell eines Prozesses darstellt. Prozesse oder, mit anderen Worten, zeitlich ablaufende Vorgänge im weitesten Sinne erleben wir tagtäglich in der äußeren Erfahrung, z.B. wenn wir ein fahrendes Auto beobachten. Die äußere Erfahrung eignet sich dabei mindestens ebenso gut, wenn nicht besser, als die innere Erfahrung, um den Begriff eines Prozesses zu bilden. Abgesehen davon ist es aber auch überhaupt nicht erforderlich, zur Bildung eines Begriffes diesen von irgendeiner Erfahrung abzuziehen. Ebenso wie ein großer Teil unseres Wissens nicht aus unmittelbarer Erfahrung stammt, gibt es auch viele Begriffe, die rein abstrakt sind. Alle mathematischen Begriffe gehören zu dieser Klasse. Insbesondere ist es ohne Probleme möglich, widerspruchsfreie Begriffe von Unendlichkeit zu bilden. Die Mengenlehre verfügt über mehrere solcher Begriffe. Freilich decken diese Begriffe nicht alle Wortbedeutungen von „unendlich“ ab, und die „unendliche Sehnsucht“, von der ein romantischer Dichter schwärmen mag, wird von der Mengenlehre nicht erfasst, aber es ist nun nicht mehr einleuchtend, weshalb die Finitheit des Bewusstseinsprozesses bei der Beschreibung von unendlichen Prozessen zu den von Voegelin unterstellten Ausdruckskonflikten führen muss. Außerdem scheint sich Voegelin auch hinsichtlich der Bedeutung der Kantischen Antinomien geirrt zu haben. Kants Antinomien beruhen letztlich auf unterschiedlichen Voraussetzungen, die den einander gegenübergestellten Beweisen und Gegenbeweisen zu Grunde liegen. Um Antinomien könnte es sich nur noch dann handeln, wenn diese Voraussetzungen gleichermaßen notwendig wären. Aber dies – und hierin irrt Kant und mit ihm viele seiner Interpreten und, wie es scheint, leider auch Voegelin – ist nicht der Fall.38Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1976, S. 454-469. Für die Kant-Apologetik stellvertretend: Peter Baumanns: Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der „Kritik der reinen Vernunft“, Würzburg 1997, S. 742ff.– Dass Kant irrt, kann man sich leicht überlegen, wenn man bei den Antinomien genau darauf achtet, von welchen expliziten und impliziten Voraussetzungen Kant bei seinen Beweisen jeweils ausgeht. Es würde zu weit führen, dies hier im einzelnen auszuführen. Was Voegelin schließlich mit den Paradoxen der Mengenlehre meint, geht aus dem Text leider nicht hervor. Möglicherweise meint Voegelin die Russellsche Antinomie, die in der naiven Mengenlehre auftritt. Aber erstens handelt es sich nicht um ein Paradox der Unendlichkeit, und zweitens lässt sie sich mühelos durch eine axiomatische Fassung der Mengenlehre beseitigen.39Vgl. Jürgen Schmidt: Mengenlehre (Einführung in die axiomatische Mengenlehre). I. Grundbegriffe, Mannheim 1966, S. 22-24.

Voegelins Argument ließe sich im Grundsätzlichen immer noch dann rechtfertigen, wenn es gelänge zu zeigen, dass bestimmte Wirklichkeitsbereiche aus anderen Gründen als dem ihrer „Infinitheit“ einer deskriptiven Beschreibung unzugänglich sind. Dann müsste die Diskussion um die Fragen geführt werden, ob es diese Wirklichkeitsbereiche tatsächlich gibt, und wenn es sie gibt, ob Mythensymbolik oder Prozesstheologie sie erfassen können. So wie Voegelin argumentiert, bleibt die Notwendigkeit des Gebrauchs dieser Symbolformen jedoch unbegründet.

Einen weiteren wichtigen Abschnitt, der zwar weniger für Voegelins folgende Argumentation von Bedeutung ist, aber dafür seine grundsätzliche philosophische Einstellung widerspiegelt, bildet Voegelins Versuch, das Problem der Anerkennung der Mitmenschen als gleichartige und gleichwertige Wesen (in Voegelins Terminologie: das Problem der „Erfahrung vom Nebenmenschen“) mit Hilfe der Mythengeschichte zu lösen. Voegelins Argumentation enthält eine Reihe von Schwachpunkten. Die erste Schwierigkeit bildet der Begriff des „Erfahrungsfaktums“. Obwohl wir, wie auch Voegelin einräumt, von unseren Mitmenschen keine innere Erfahrung haben, sollen wir dennoch durch ein Erfahrungsfaktum unmittelbar davon in Kenntnis gesetzt sein, dass sie ein Innenleben haben. Nun mögen wir zwar intuitiv den Eindruck haben, dass in unseren Mitmenschen auch ein denkendes und fühlendes Bewusstsein steckt, aber die Berufung auf die Intuition ist auch dann noch ein schwaches Argument in der Erkenntnistheorie, wenn sie hochtönend als „Fundamentalcharakter“ der „Transzendenzfähigkeit“40Voegelin, Anamnesis, S. 47. des Bewusstseins etikettiert wird. Der Einwand gegen Husserl, dass sich das Du nicht im Ich konstituiert, ist dagegen durchaus angebracht, denn das Bewusstsein kann unmöglich durch Konstitution etwas hervorbringen, was außerhalb seiner selbst existiert. Als geradezu abwegig erscheint allerdings Voegelins Behauptung, dass dieses erkenntnistheoretische Problem nur im Rahmen der altertümlichen Gleichheitsmythen behandelt werden kann. Weder für die Formulierung dieses erkenntnistheoretischen Problems noch erst recht zu seiner Lösung ist der Rückgriff auf die Mythengeschichte notwendig oder auch nur hilfreich.

Der zweite Schwachpunkt von Voegelins Argumentation liegt in seiner Annahme, dass die moralische Gleichheit aller Menschen nur im Rückgriff auf alte Mythen artikuliert werden kann. Bei der Behandlung dieser moralphilosophischen Problematik müssen drei unterschiedliche Ebenen klar voneinander getrennt werden: Die Ebene der Begründung von Werten, die Ebene der Artikulation bzw. Formulierung der Werte und die Ebene der Vermittlung und Verbreitung der Werte. Für die Begründung des Gleichheitswertes kann die Mythengeschichte offensichtlich nicht herangezogen werden. Wenn die moralische Gleichheit der Menschen nämlich im Sinne einer moralischen Intuition auf einem „Erfahrungsfaktum“ beruht‚41Im Bereich der Ethik ist anders als in der Erkenntnistheorie die Berufung auf die Intuition unter Umständen legitim. Es stellt sich dann nur die Frage, inwieweit intuitiv begründete Werte intersubjektive Verbindlichkeit beanspruchen dürfen. dann besteht die einzig ehrliche Weise, diesen Wert zu begründen, darin, auf diese Intuition bzw. diese Erfahrung hinzuweisen, und gegebenenfalls die Begleitumstände zu beschreiben, unter denen sie zustande kommt oder in besonders deutlicher Weise hervortritt.

Die Formulierung des Gleichheitswertes ist mit und ohne Rückgriff auf Mythen möglich. Ohne Rückgriff auf die Mythologie kann sie beispielsweise durch die Worte erfolgen: „Alle Menschen sind gleich“. Bereits mit diesen schlichten Worten ist der Inhalt der Gleichheitsidee vollständig und ohne jede Mythologie ausgedrückt. Eine Artikulation unter Rückgriff auf die Mythologie könnte durch Erzählung der Geschichte von Adam und Eva erfolgen. Allerdings bliebe, wegen der grundsätzlichen Vieldeutigkeit des Mythos, die Gleichheitsbotschaft dann möglicherweise undeutlich. Dass man mit dem Hinweis auf den Mythos von Adam und Eva ebensogut die Ungleichheit begründen kann, führt uns z.B. Sir Robert Filmer vor Augen, der damit auf eine zu seiner Zeit durchaus übliche Weise das Gottesgnadentum der Könige rechtfertigte.42Vgl. Sir Robert Filmer: Patriarcha, or the Natural Power of Kings, England 1680. Analoges gilt für das Problem der Vermittlung des Gleichheitswertes. Zu der Zeit, als Voegelin den Aufsatz „Zur Theorie des Bewußtseins“ niederschrieb, war das Mythologische einigermaßen in Mode. Nicht zuletzt durch die faschistischen Bewegungen wurde die Berufung auf den Mythos weidlich missbraucht, weshalb es aufgeklärten Autoren wie Thomas Mann notwendig erscheinen mochte, dass man den totalitären Mythen aufgeklärte Mythen entgegen stellen müsse, um das Verständnis für die Urwahrheiten des menschlichen Zusammenlebens wiederzuerwecken.43Den zeitgeschichtlichen Bezug seiner Josephs-Romane hat Thomas Mann in einer späteren Selbstdeutung auf die Formel gebracht, dass der „Mythos .. in diesem Buch dem Fascismus aus den Händen genommen“ wurde. (Thomas Mann: Joseph und Seine Brüder (Vortrag in der Library of Congress am 17.11.1942), in: Thomas Mann: Essays. Band 5: Deutschland und die Deutschen 1938-1945. (Hrsg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski), Frankfurt am Main 1996, S. 185-200 (S. 189).) – Neben den Josephs-Romanen wäre in diesem Zusammenhang auch Thomas Manns biblische Erzählung „Das Gesetz“ zu nennen. Voegelin klingt freilich wesentlich weniger aufgeklärt, wenn er wortwörtlich schreibt, dass der Ordnungswille „nur aktiv sein kann, wo er seinen Sinn in der Ordnung des Gemeinschaftsmythos hat“.44Voegelin, Anamnesis, S. 50. Hier scheint eher noch ein Rest von dem faschistischen Gedankengut durchzuklingen, das Voegelin in seiner autoritären Phase in den 30er Jahren absorbiert hatte.45Vgl. Voegelin, Autoritärer Staat, a.a.O. Aus heutiger Sicht muss ein Ordnungswille, der im „Gemeinschaftsmythos“ wurzelt, in höchstem Maße suspekt erscheinen.

Wie man sieht, ist also der Rückgriff auf die Mythengeschichte für die Begründung und Artikulation des Gleichheitsideals in Wirklichkeit keineswegs erforderlich und höchstens mit Einschränkungen nützlich. Voegelins Argument dafür, das er im Gegenteil unerlässlich sei, ist historischer Art und besteht – wie zuvor ausgeführt – in der Behauptung, dass alle Gleichheitsideen Derivate jener beiden Urmythen der Abstammung von einer Mutter oder der Prägung durch einen Vater sind.46Dass sich – so das andere Argument, das aus Voegelins Text extrahiert werden kann – aus dem von Voegelin behaupteten Ausdruckskonflikt bei der Artikulation unendlicher Prozesse für diesen Fall kein notwendiger Grund für den Gebrauch der Mythensymbolik ableiten lässt, wurde bereits erwähnt. Inwieweit dies historisch richtig und zwingend ist, sei dahingestellt. Für Voegelin war diese Vorstellung wohlmöglich deswegen attraktiv, weil sie ihm erlaubte, eine Analogie zum Leib-Geist-Dualismus herzustellen, indem der eine Mythos ein leiblicher und der andere ein geistiger ist. Aber selbst wenn Voegelins historische These richtig sein sollte, so folgt daraus nicht, dass die Gleichheitsidee niemals etwas anderes sein kann als ein Derivat dieser Urmythen. Insbesondere kommt es bei der moralphilosophischen Diskussion der Gleichheitsidee nur auf den Inhalt und die Begründung dieser Idee an. Diese sind aber von der Entstehungsgeschichte unabhängig, so dass die Diskussion darüber unbekümmert um die Geschichte der Mythologie geführt werden kann.

Nicht nur Voegelins Ausführungen zur Mythensymbolik sondern auch seine Interpretation der Prozesstheologie wirft einige Fragen auf. Vor allem Voegelins Annahme, dass die Prozesstheologie einen Bereich von „ontologischen Erfahrungen“47Voegelin, Anamnesis, S. 54. auslegt, bedarf der Klärung. Denn der Begriff der Erfahrung wird mit dieser Annahme stark überstrapaziert. Das Wissen um die Stufen des Seins ist deskriptives Wissen, das sich bestenfalls auf die Erfahrung stützt, das aber über die unmittelbare Erfahrung weit hinaus geht. Auch dass die meditative Erfahrung ein Wissen vom Seinsgrund vermittelt, muss als höchst zweifelhaft angesehen werden, sofern „Seinsgrund“ ein ontologischer Begriff ist und nicht nur ein Name für die meditative Erfahrung selbst, wie Voegelins spätere Theorie der „Indizes“ des Bewusstseins dies nahelegt.48Siehe Kapitel Im letzteren Fall bestünde dann allerdings auch keine „Nötigung“ mehr, sondern es wäre im Gegenteil sogar ganz und gar unmöglich, den ontologischen Seinsprozess in einem „Seinsgrund“ außerhab des Bewusstseins entspringen zu lassen. Wird jedoch auf diese Weise in Zweifel gezogen, dass es eine privilegierte Klasse ontologischer Erfahrungen gibt, dann bleibt auch die Prozesstheologie, die Voegelin skizziert, als eine bestimmte ontologische Theorie in vollem Umfang durch die Erkenntniskritik angreifbar.

Abgesehen von diesen Schwierigkeiten bleibt auch der Sinn und Zweck der Prozesstheologie im Unklaren. Voegelin zufolge geht die Prozesstheologie aus von der Frage: „ ‘Warum ist etwas, warum ist nicht Nichts?’ “49Voegelin, Anamnesis, S.51. – Vgl. Friedrich Schelling: Philosophie der Offenbarung, Zwölfte Vorlesung, in: Frank-Peter Hansen (Hrsg.): Philosophie von Platon bis Nietzsche, CD-ROM, Berlin 1998, S.37855 / S.72 (Konkordanz: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Auswahl in drei Bänden. Herausgegeben und eingeleitet von Otto Weiß. Leipzig 1907. Band 3, S. 781). Allerdings unternimmt die Prozesstheologie dann keinen ernsthaften Versuch, diese Frage zu beantworten. Eher scheint sie darauf hinauszulaufen, das Gefühl des Staunens bzw. der Verblüffung, das in jener Frage liegt, zu artikulieren. Wenn sich aber die überwiegende Mehrzahl der Menschen nicht mit dem erkenntnistheoretischen Befund der Unbeantwortbarkeit dieser Frage zufrieden geben will, wie Voegelin – nicht unplausibel – vermutet‚50Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 51. warum sollte sie sich dann mit der Prozesstheologie, die diese Frage auch nicht beantworten kann, abspeisen lassen?

Hinsichtlich der Einbettung der Bewusstseinsphilosophie in die Ontologie, wie sie Voegelin im letzten Abschnitt seines Aufsatzes vollzieht, sind vor allem die zwei Thesen zu prüfen, dass die ontologische Problematik die Voraussetzung der Erkenntnistheorie bzw. Bewusstseinsphilosophie bildet, und dass der Mensch sich auf sein Bewusstsein und sein Wesen nur orientierend besinnen aber es niemals zu einem Gegenstand äußerer Beschreibung machen kann.

Die erste dieser Thesen ist auch für Voegelins wissenssoziologische Erklärungen von Bedeutung, denn nur, wenn sie bejaht wird, kann der „Versuch einer ‘radikalen’ Bewusstseinsphilosophie aufklärungsbedürftig“51Voegelin, Anamnesis, S. 58. erscheinen. In einer bestimmten Hinsicht kann die Triftigkeit von Voegelins Einwand gegen die reine Bewusstseinsphilosophie kaum bestritten werden. Die Erklärung der meisten Bewusstseinsvorgänge dürfte nur schwer möglich sein, ohne auf die Tatsache zurückzugreifen, dass es sich um das Bewusstsein eines Menschen handelt, der in einer materiellen Außenwelt lebt. So ist etwa das gelegentliche Auftreten des Bewusstseinsphänomens „Hunger“ nur verständlich, wenn man die Selbstverständlichkeit berücksichtigt, dass das Bewusstsein, in dem es auftritt, das Bewusstsein eines Lebewesens ist, welches von Zeit zu Zeit der Speise und des Tranks bedarf. Auch darf wohl behauptet werden, dass ontologische Fragen insgesamt relevanter sind als nur rein bewusstseinsphilosophische Probleme, denn der Erhalt und die Wohlfahrt unseres Lebens hängt von dem ab, was in der Welt geschieht und nicht von dem, was sich davon im Bewusstsein spiegelt. Insofern spricht für Voegelins kritische Einstellung gegenüber der reinen Bewusstseinsphilosophie auch eine starke intuitive Plausibilität.

Aber ist damit auch die Möglichkeit einer reinen, d.h. ausschließlich introspektiven Beschreibung der Bewusstseinsvorgänge ausgeschlossen? Und muss die Erkenntnistheorie nun doch, trotz der drohenden Gefahr von Begründungszirkeln, ein Wissen um die Außenwelt voraussetzen? In dieser Hinsicht scheint Voegelins These unzureichend begründet zu sein. Auch wenn viele Bewusstseinsvorgänge losgelöst von der Außenwelt nur schwer zu deuten sein dürften, so bleibt doch die Möglichkeit, das Bewusstsein als reines Bewusstsein introspektiv zu beschreiben, immer noch bestehen. Sollte zur Beschreibung des reinen Bewusstseins als Prozess eine Form von Zeitlichkeit vorausgesetzt werden müssen, die nicht introspektiv erfahrbar ist, so genügt es, allein die Existenz dieser Form von Zeitlichkeit zu postulieren, ohne zugleich auch den Leib und die Geschichte vorauszusetzen. Eine solche Beschreibung des reinen Bewusstseins würde auch dann keine weiteren ontologischen Hypothesen voraussetzen, wenn es faktisch substanzidentisch mit seinem leiblichen Fundament (Gehirn) sein sollte. Dabei ist übrigens die Hypothese der Substanzidentität zum Verständnis „der Fundierung von Bewußtsein in Leib und Materie“52Voegelin, Anamnesis, S. 55. nicht einmal zwingend erforderlich, denn diese Fundierung könnte auch durch die Hypothese der kausalen Verursachung von Bewusstseinsphänomenen durch mit diesen nicht substanzidentische physische Phänomene erklärt werden. Die Erkenntnistheorie schließlich setzt schon deshalb nicht die Ontologie voraus, weil die erkenntnistheoretischen Probleme auf einer anderen Ebene, auf der Ebene der Gültigkeit, liegen als die ontologischen Probleme. Zwar ist das Faktum, dass es Erkenntnis und Wahrheit gibt, davon abhängig, dass es Lebewesen gibt, die erkennen können, aber die Gültigkeit von Erkenntnis und die Antwort auf die Frage, worin Wahrheit besteht und nach welchen Kriterien sie festgestellt werden kann, hängen nicht von diesen ontischen Voraussetzungen ab. Am leichtesten lässt sich dies an einem Beispiel verdeutlichen: Damit der Satz „Zwei mal zwei ist vier.“ existiert, muss es wenigstens ein intelligentes Wesen geben, welches ihn denkt oder äußert‚53Manche Philosophen glauben auch, dass Sätze wie dieser in einem platonischen Ideenhimmel existieren. Die Sätze würden dann auch existieren, wenn es keine Menschen oder nicht einmal eine Welt gäbe. und damit dieses Wesen existiert, müssen weitere ontische Voraussetzungen erfüllt sein. Die Wahrheit dieses Satzes hängt jedoch von keiner dieser Voraussetzungen ab.54Man könnte nun vermuten, dass nicht die Wahrheit aber die Bedeutung eines Satzes von ontischen Voraussetzungen, z.B. von der Bedeutungsgeschichte der in ihm verwendeten Wörter abhängt. Aber die Art und Weise, wie die Bedeutung eines Wortes entstanden ist, stellt keine Bedeutungsvoraussetzung des Wortes dar, sondern lediglich eine kausale Voraussetzung der Entstehung der Bedeutung des Wortes.

Wie verhält es sich mit Voegelins zweiter These, dass das Bewusstsein sich nicht selbst wie einen Gegenstand betrachten kann? Voegelin führt als Grund für diese These an, dass die Bewusstseinsphilosophie „ein spätes Ereignis in der Biographie des Philosophen ist“, welches wiederum ein Ereignis in der Geschichte seiner Gemeinschaft, in der Geschichte der Menschheit und in der Geschichte des Kosmos ist. Aber diese Begründung ist wenig stichhaltig und dürfte eher einer holistischen Überzeugung Voegelins geschuldet sein als auf rationaler Überlegung beruhen. Jeder noch so profane Gegenstand hat auch seine Vorgeschichte im Kosmos, und das Wissen über ihn hat eine Vorgeschichte in der Geschichte des menschlichen Wissens. Dennoch wird niemand bestreiten, dass es Gegenstände gibt, die vollständig erkannt werden können. Wenn irgendetwas nur historisch verstanden werden kann, so muss es dafür speziellere Gründe geben. Und außer dem Kosmos selbst gibt es vermutlich nichts, dessen Erkenntnis die Geschichte des gesamten Kosmos voraussetzt.

Problematisch ist auch jener Teil von Voegelins Aufsatz, in welchem er das Auftreten der Bewusstseinsphilosophie in der Neuzeit historisch zu deuten versucht.55Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 58ff. Wie bereits dargelegt, sind Erkenntnistheorie und mit gewissen Einschränkungen auch die Bewusstseinsphilosophie legitime Einzeldisziplinen der Philosophie, die nicht unbedingt als Teilgebiet einer allgemeinen Ontologie behandelt werden müssen. Ihr Auftreten ist daher bereits wesentlich weniger „aufklärungsbedürftig“ als Voegelin meint. Abgesehen davon bleibt es schleierhaft, woher Voegelin überhaupt die historische Aufgabe der Bewusstseinsphilosophie nimmt, eine neue Symbolik für religiöse Transzendenzerfahrungen zu suchen. Sofern Voegelin nicht wie Husserl die Existenz eines historischen Telos voraussetzen will, das jeden Philosophen verpflichtet, sich mit diesem Problem zu beschäftigen, kann er den Philosophen kein Versäumnis vorwerfen, wenn sie sich für andere Fragen als die der Symbolisierung von Transzendenzerfahrungen interessieren. Freilich hat Voegelin das Recht, den Ausschluss der Besinnung auf Transzendenzerfahrungen aus dem Themenkanon der Philosophie zu tadeln, wenn er selbst der Ansicht ist, dass dieses Thema in der Philosophie einen Platz haben sollte. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass andere Philosophen dies explizit ablehnen, und dass sie dazu mindestens ein ebensogutes Recht haben. Abgesehen davon existierten auch in der Neuzeit mit Religion und Theologie durchgängig geistige Disziplinen, die sich mit der Transzendenz beschäftigten und immer noch beschäftigen. Insofern ist es ein wenig voreilig, eine historische Krise der Symbole zu suggerieren. Schließlich ist anzumerken, dass gerade die Husserlsche Phänomenologie, welche sich noch am ehesten angeschickt hat, die Bewusstseinsphilosophie zum allumfassenden Universalparadigma auszuweiten, sich gegenüber dem religiösen Denken als sehr aufgeschlossen erwiesen hat.

Alles in allem leidet Voegelins Aufsatz „Zur Theorie des Bewußtseins“ an auffällig vielen argumentativen Schwächen. An haltbaren Resultaten ist der Text außerordentlich arm. Dies mag damit zusammenhängen, dass er eher den Charakter einer persönlichen Besinnung als den einer philosophischen Argumentation hat. Von Voegelin war das durchaus intendiert, denn die philosophische Tätigkeit bestand für ihn vor allem in der meditativen philosophischen Besinnung. Nur stellt sich dann dem Leser irgendwann die Frage, warum er sich für die persönlichen Besinnungen des Herrn Voegelin eigentlich interessieren sollte, eine Frage, die sich noch mehr aufdrängt, wenn er dann zu den im Folgenden zu besprechenden „anamnetischen Experimenten“ Voegelins weiterblättert.

B. Die „anamnetischen Experimente“ Voegelins

Den ersten Teil seines Werkes „Anamnesis“ schließt Voegelin mit der Wiedergabe einiger Kindheitserinnerungen ab. Es handelt sich um Schilderungen intellektueller Erlebnisse seiner Kindheit, in welchen zum erstenmal, in einer freilich dem zarten Alter entsprechenden Weise, die Fragen auftauchten, welche Voegelin sich später als Bewusstseinsphilosoph erneut stellte. Da diese Erinnerungen teilweise erst durch den Versuch wieder zu Tage traten, sich Rechenschaft über die ersten Anfänge jener Bewusstseinserlebnisse und Stimmungen abzulegen, die Voegelin später als erwachsener Philosoph untersuchte, spricht er von „anamnetischen Experimente[n]“‚56Voegelin, Anamnesis, S. 61. deren Resultate diese Erinnerungen sind. Unter den manchmal mit Augenzwinkern erzählten Episoden, die Voegelin aus seiner Kindheit mitteilt, finden sich Stücke wie jenes von dem Karnevalszug, der in dem Kind eine dunkle Angst erregte, weil sich der Zug, da ihn einzelne Jecken immer wieder verließen, um in den Seitenstraßen zu verschwinden, am Ende aufzulösen schien.57Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 64 (Nr. 3). In einer anderen Episode berichtet Eric Voegelin, der einen Teil seiner Kindheit in Königswinter bei Bonn nahe dem Siebengebirge verbrachte, von den drei Breibergen, die man vom Ölberg aus sehen kann. Dem Märchen zufolge muss man sich durch diese Breiberge hindurchfressen, um in das dahinter liegende Schlaraffenland zu gelangen. Die Angst des Kindes, dabei im Brei stecken zu bleiben, trübte sehr die Hoffnung auf das Schlaraffenland.58Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 65-66 (Nr. 5). Andere Episoden teilen ähnliche Gefühle der Zweifelhaftigkeit des vollkommenen Glückes mit.59Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 66 (Nr. 6), S. 73-64 (Nr.16). Voegelin selbst gibt keine Erläuterungen zu den erzählten Episoden, die ihre Bedeutung für sein späteres Denken erklären könnten.60Einige vorsichtige Deutungsversuche unternimmt Barry Cooper. Vgl. Barry Cooper: Eric Voegelin and the Foundations of Modern Political Science, Columbia and London 1999, S. 204-207. Womöglich betrachtete Voegelin diese frühen Erfahrungen als Vorboten der späteren Skepsis des Politikwissenschaftlers gegenüber der Utopie. In einer weiteren Episode schildert Voegelin den starken emotionalen Eindruck, den das Märchen vom Kaiser und der Nachtigall, die durch ihren Gesang den Tod dazu erweicht vom Kaiser abzulassen, in ihm hinterlassen hat. Später fand Voegelin diese Stimmung aus seiner Kindheit zwar nicht mehr im Märchen wohl aber beim Anhören mancher Musikstücke wieder: „Die Bedeutung, die ein Musikwerk für mich hat, ist bestimmt durch den Grad, in dem es diese süße Beklemmung zwischen Tod und Leben wieder erregt.“61Voegelin, Anamnesis, S. 75 (Nr. 18). Solcher und ähnlicher Art sind die von Voegelin wiedergegebenen Kindheitserinnerungen. Doch was soll mit ihrer Mitteilung bewiesen werden? In den einleitenden Vorbemerkungen zu seinen „anamnetischen Experimenten“ führt Voegelin die Thesen aus seinem vorangehenden Aufsatz noch einmal auf: Das Bewusstsein ist kein Strom, sondern es verfügt über vielfältige Transzendenzfähigkeiten. Die Besinnung über das Bewusstsein greift Bewusstseinserlebnisse des Philosophen auf, die bereits sehr viel früher in seinem Leben erstmals zu Tage getreten sind. Weiterhin sieht Voegelin in den frühen Bewusstseinserlebnissen „Erfahrungseinbrüche“ und „Erregungsquellen“, „aus denen es zu weiterer philosophischer Besinnung treibt“. Die Intensität und Emotionalität62Voegelin spricht wörtlich von der „Natur der Erfahrungseinbrüche“, der „Art der Erregungen“ und der „ ‘Stimmung’ “ des Bewusstseins. (Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 61.) solcher „Erfahrungseinbrüche“ bilden für Voegelin den Maßstab der Radikalität, d.i. der Breite und Tiefe einer philosophischen Besinnung.

Sind aber solche Erfahrungen, wie Voegelin sie erzählt, für die Behandlung bewusstseinsphilosophischer Probleme überhaupt relevant? Sicherlich ist nicht für jedes philosophische Problem der Rückgang auf die Erfahrung seines ersten Auftretens erforderlich. Für die Lösung des zenonschen Problems etwa, wie aus unendlich vielen Einzelschritten ein kontinuierlicher Übergang entstehen kann‚63Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 71/72 (Nr. 14: Der Laib Brot). spielt es sicherlich keine Rolle, wann und wie es zum erstenmal dem Philosophen, der es behandelt, begegnet ist. Auch wenn er es erst im Erwachsenenalter in einem Buch gelesen hat, hindert ihn nichts daran, dieses Problem angemessen zu erörtern. In welchem Falle ist es dann aber notwendig, auf die Problemerfahrungen zurückzugehen, und in welchem Fall nicht? Offensichtlich ist dies dann nicht erforderlich, wenn die Erfahrung nur den Anlass gibt, über ein philosophisches Problem nachzudenken. Außer wenn es um Fragen der Selbsterkenntnis geht, hat das Erlebnis eines philosophischen Problems jedoch keine andere philosophische Bedeutung als die, ein Anlass des Nachdenkens zu sein. Dies gilt auch für die Probleme der Bewusstseinsphilosophie. Für die Lösung beispielsweise des Problems der Konstitution von Gegenständen ist zwar möglicherweise der Bezug auf innere Erfahrungen, nicht aber der Rückgang auf die ersten Erfahrungen dieser Art oder auf das erstmalige Erlebnis, dass es sich hier um ein Problem handelt, erforderlich. Im übrigen stünde eine Philosophie, die sich nur auf die eigenen inneren Erlebnisse des Philosophen stützt, vor dem Problem, dass sie bloß subjektiv gültige Ergebnisse liefern könnte.

Es scheint also, dass Voegelin die Bedeutung von „Erfahrungseinbrüchen“ für die Philosophie erheblich überschätzt hat. Deshalb ist es auch ein zweifelhaftes Unterfangen, die Philosophie an den vermeintlich zu Grunde liegenden inneren Erlebnissen messen zu wollen, zumal dies die Gefahr birgt, dass dann in letzter Konsequenz die Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit des Denkens mehr wiegen als die Qualität der Argumente. Eingeräumt werden muss allerdings, dass die Tiefe einer philosophischen Untersuchung wahrscheinlich auch durch die Intensität der zur Philosophie motivierenden Erfahrungen mitbestimmt ist, nur ist die Intensität der Motivation nicht der Bewertungsmaßstab für philosophische Werke. Unter den zur Philosophie motivierenden Erlebnissen dürften für die meisten Menschen dabei wohl die „Erfahrungseinbrüche“ der Jugend eine größere Rolle spielen als die der Kindheit. Aber Voegelins „anamnetische Experimente“ sind vermutlich eher als Beispiele zu verstehen denn als eine vollzählige Auflistung.

Abgesehen davon bleiben Voegelins „anamnetische Experimente“ ein wenig hinter den Erwartungen zurück, die durch seine vorangegangenen Ausführungen geweckt werden. In den vorangegangenen beiden Abhandlungen kommt der mystischen Erfahrung des welttranszendenten Seinsgrundes eine zentrale Bedeutung zu. Für Voegelins These etwa, dass wir das Sein nur verstehen könnten als einen im welttranszendenten Seinsgrund entspringenden Prozess, ist diese Erfahrung eine unabdingbare Voraussetzung. Damit diese These glaubhaft wird, müsste es nämlich schon tatsächlich der Seinsgrund sein, der sich in dieser Erfahrung zeigt. Sollte es sich nur um irgendein überwältigendes Meditationserlebnis handeln, welches bloß vor lauter Begeisterung eine Erfahrung vom Seinsgrund genannt wird, so wäre die These noch unzureichend begründet, denn der Prozess des Seins kann – außer für einen philosophischen Solipsisten – nicht einer Erfahrung im Bewusstsein entspringen. Voegelins „anamnetische Experimente“ bilden einen der wenigen Anlässe für Voegelin, von eigenen Erfahrungen zu berichten. Ein glaubhaftes und unzweideutiges Transzendenzerlebnis fördern Voegelins „anamnetische Experimente“ jedoch nicht zu Tage. Zwar deutet Voegelin in seinen Einleitenden Bemerkungen zu den anamnetischen Experimenten noch an, dass die Bewusstseinstranszendenz, die in „finiter Erfahrung“ in die Welt hinein führt, nur eine Art von Transzendenz sei, und er führt unter den verschiedenen Transzendenzerfahrungen, die in der Biographie des Bewusstseins schon lange vor dem Einsetzen der philosophischen Besinnung vorgegeben sind, auch die Erfahrung der Transzendenz in den Seinsgrund auf‚64Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 61. aber in den Kindheitserlebnissen lässt sich dann nichts mehr davon wiederfinden. Dort ist zwar unter anderem von dem Schlaraffenland und auch von einer Wolkenburg die Rede, aber einen Hinweis auf irgendetwas, was auch nur annähernd als transzendente Seinsphäre oder gar als der Grund allen Seins gelten könnte, sucht man vergebens.

Endlich gibt es noch einen weiteren, mehr psychologischen Grund, der das Unterfangen, in Kindheitserinngerungen die „Erregunsquellen“ ausfindig zu machen, aus denen es im Erwachsenenleben „zu weiterer philosophischer Besinnung treibt“‚65Voegelin, Anamnesis, S.62. fragwürdig erscheinen lässt. Wenn wir im Erwachsenenalter rückblickend unsere Kindheit betrachten und uns dabei außerdem noch auf der Suche nach unseren eigenen geistigen Ursprüngen befinden, dann lässt es sich nicht immer vermeiden, dass wir in unsere Erinnerung etwas hineininterpretieren, was ursprünglich gar nicht vorhanden war. Die Gefahr einer Selbstmystifikation ist bei „anamnetischen Experimenten“ nur schwer zu umgehen. Es besteht hier übrigens eine Analogie zu jener größeren historischen „Anamnese“ der Wiedererweckung verschollenen Ordnungswissens aus den Quellen der antiken Philosophie und mittelalterlichen Theologie, wo ebenfalls gelegentlich der Eindruck entsteht, dass bei Voegelin eine durch und durch moderne existenzialistische Philosophie dem Denken der Alten aufgestülpt wird.

Voegelins Programm der „Anamnese“ scheitert im Ganzen also aus drei Gründen: Erstens ist die Genealogie eines Gedankens für den Gedanken selbst, d.h. für seinen Inhalt, seine Richtigkeit oder Falschheit, bedeutungslos. Zweitens führt das Verfahren der „Anamnese“ mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Verfälschung der Genealogie. Drittens gelangt man auf diesem Wege ebensowenig zu jener vermeintlich vorhandenen Transzendenz wie durch die philosophische Meditation.


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