%%% Local Variables: %%% mode: latex %%% TeX-master: "Main" %%% End: \chapter{Voegelins Bewusstseinsphilosophie ("`Anamnesis"' -- Teil I)} \label{VoegelinsBewusstseinsphilosophie} In diesem und dem folgenden Kapitel wird Voegelins Bewusstseinsphilosophie erörtert, wie sie im ersten und dritten Teil seines Werkes "`Anamnesis"' entfaltet wird. Der zweite Teil von "`Anamnesis"' enthält eher historische und geschichtsphilosophische Studien und wird daher hier übergangen. Zwar fließen bei Voegelin Bewusstseinsphilosophie und Geschichtsphilosophie ineinander, aber schon aus pragmatischen Gründen musste für die vertiefte Auseinandersetzung mit Voegelins Bewusstseinsphilosophie eine Auswahl getroffen werden. Zudem wurde zur Verortung von Voegelins Bewusstseinsphilosophie innerhalb seines Gesamtansatzes schon im vorigen Kapitel das Nötige gesagt. Weiterhin kehren viele der Motive aus den hier ausführlich besprochenen Schriften in Voegelins anderen Werken wieder, so dass man die hier angestellten Überlegungen leicht übertragen kann. Der erste Teil von Voegelins "`Anamnesis"' enthält neben einer kurzen Erinnerung an Voegelins Freund Alfred Schütz\footnote{Alfred Schütz (geb. 1989 in Wien, gest. 1959 in New York), war der Schöpfer einer phänomenologischen Soziologie. Sein wohl bekanntestes Werk trägt den Titel: "`Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einführung in die verstehende Soziologie"'.}, die -- als eher von biographischem als philosophischen Interesse -- hier übergangen wird, eine Kritik von Husserls "`Krisis der europäischen Wissenschaften"'.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 21-36. -- Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Hamburg 1996, im folgenden zitiert als: Husserl, Krisis.}. An diese schließt sich ein eigenständiger bewusstseinsphilosophischer Entwurf unter dem Titel "`Zur Theorie des Bewußtseins"' an.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 37-60.} Den Abschluss des ersten Teils von "`Anamnesis"' bilden dann eine Reihe von "`anamnetischen Experimenten"',\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 61-76.} wobei sich hinter dieser geheimnisvollen Bezeichnung jedoch nicht viel mehr verbirgt als die Erzählung einiger Kindheitserinnerungen Voegelins. \section{Voegelin über Husserls "`Krisis der europäischen Wissenschaften"'} \subsection{Husserls Krisis-Schrift} Bevor auf Voegelins Auseinandersetzung mit Husserls Schrift: "`Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie"'\footnote{Husserl, Krisis, a.a.O.} eingegangen wird, ist einiges zu dieser Schrift selbst zu sagen. Husserls Schrift ist als eine Einführung in die Phänomenologie konzipiert. Sie entstand aus mehreren Vorträgen, die Husserl im Jahre 1935 gehalten hat. Da Husserl 1936 in Deutschland nicht mehr publizieren durfte, wurde die Schrift 1936 in der in Belgrad erscheinenden Zeitschrift "`Philosophia"' veröffentlicht.\footnote{Vgl. dazu die Einleitung von Elisabeth Ströker, in: Husserl, Krisis, S.IXff.} Auf diese Fassung, welche Voegelin 1943 in die Hände bekommen konnte, bezieht sich Voegelin in seinem Brief an Alfred Schütz. Gegenüber der 1954 in der Reihe {\it Husserliana} erschienenen und um bis dahin unpubliziertes Material ergänzten Ausgabe ist die "`Philosophia"'-Fassung um einiges kürzer. Insbesondere wird in der frühen Fassung die Lebenswelt-Problematik noch kaum angerissen. Dies ist zu berücksichtigen, da Voegelins Enttäuschung über den wieder nur rein erkenntnistheoretischen Charakter von Husserls Werk sonst leicht ungerecht erscheinen könnte. Husserl hat in seinen einführenden Schriften recht unterschiedliche Zugänge zur Phänomenologie gegeben. In den "`Cartesianischen Meditationen"' beispielsweise wird die Phänomenologie durch die Aufgabe motiviert, die Basis für eine letztbegründete und umfassende philosophische Universalwissenschaft zu schaffen.\footnote{Vgl. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, Hamburg 1987, S. 8ff.} In seiner letzten Einführung hingegen wird die Phänomenologie, wie sich schon im Titel andeutet, durch einen geistigen Notstand motiviert. Dieser geistige Notstand besteht darin, dass die Weltsicht der Gegenwart fast vollkommen von den Naturwissenschaften und insbesondere von der Physik als der Leitwissenschaft dominiert wird.\footnote{Vgl. Husserl, Krisis, S. 3-5 (§ 2).} Husserl betrachtet dies als ein Verhängnis, weil die Naturwissenschaften nach seiner Auf\/fassung nicht die wirkliche Welt wiedergeben (welche für Husserl einzig und allein die Welt der konkret gegebenen Phänomene ist), sondern der wirklichen Welt mathematische Gestalten unterschieben. Zwar ist Husserl bereit, die pragmatische Brauchbarkeit dieser Gestalten anzuerkennen, aber er hält es für einen schweren Fehler, ihnen eine ontologische Beschreibung der Welt zu entnehmen. Den Irrtum, die Modelle der Naturwissenschaften als Beschreibungen der Wirklichkeit zu verstehen, bezeichnet Husserl als "`Physikalismus"'.\footnote{Vgl. Husserl, Krisis, S. 68.} Dass es sich beim Physikalismus um einen Irrtum handelt, versucht Husserl durch eine suggestive Beschreibung der historischen Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens zu zeigen. Als Ausweg aus dem Physikalismus preist Husserl die transzendentale Phänomenologie an. Sie würde es ermöglichen, die Wirklichkeit in ihrer konkreten phänomenalen Gegebenheit für das Bewusstsein zurückzugewinnen und die Wissenschaften wieder in angemessener Weise in die Lebenswelt einzubetten.\footnote{Husserls Kritik des "`Physikalismus"' ist alles andere als überzeugend, worauf hier jedoch nicht ausführlich eingegangen werden kann. Die Hauptschwachpunkte seien nur kurz angemerkt: 1. Husserl unterstellt, dass die Naturwissenschaft der Natur etwas unterschiebt, was sie in Wirklichkeit nicht ist. Da die Naturwissenschaft ihre Ergebnisse jedoch experimentell auf die Probe stellt, kann sie der Natur nicht ohne Weiteres etwas Falsches unterschieben. Husserls Vorwurf kann sich also höchstens noch darauf beziehen, dass die Naturwissenschaft die Erscheinungen nicht für das Sein der Natur nimmt. Wird dies jedoch als illegitim angesehen, so stellt sich die Frage, ob dann nicht auch die "`eidetische Wesensschau"' des Phänomenologen (Vgl. Edmund Husserl: Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I. (Hrsg. von Klaus Held), Stuttgart 1985, S. 101-107.) dem Phänomen ein Wesen unterschiebt. 2. Husserls historische Darstellungstechnik ist nicht besonders gut dazu geeignet, systematische Probleme zu lösen, auch wenn sich aus ihr möglicherweise systematische Argumente indirekt entnehmen lassen. Die Feststellung z.B., dass die mathematisch-geometrischen Gestalten ursprünglich Methode (nämlich Feldmesskunst) waren (Vgl. Husserl, Krisis, S. 52ff.), besagt noch längst nicht, dass sie in ihrer entwickelten Form für den Ausdruck ontologischer Zusammenhänge untauglich wären. Es sei denn, man nimmt an, dass etwas, was einmal Methode gewesen ist, sich niemals zu etwas wesentlich anderem entwickeln kann, oder dass Wissenschaften sich grundsätzlich nicht von ihrem historischen Ursprung emanzipieren können oder dürfen.} Allerdings bleibt es in der "`Krisis der europäischen Wissenschaften"' nicht bei der Kritik am Physikalismus, denn Husserl beabsichtigt, so scheint es, der Phänomenologie die Weihen einer historischen Mission zu verleihen. Husserl behauptet dazu, dass sich in der Geistesgeschichte ein "`Telos"' auf\/finden lasse, wobei das Wort "`Telos"' einen recht vieldeutigen Sinn gewinnt, der sowohl Ziel und Ursprung als auch Anklänge von Legitimation und Verpflichtung beinhaltet. Was Husserl in diesem Zusammenhang zu dem Thema der Geschichtsteleologie zu sagen hat, rückt seine Darstellung in der Tat stark in die Nähe einer Geschichtsideologie. Husserl zufolge ist dieses Telos nämlich ein aus der Geschichte ablesbarer höherer Wille, der auf die Entwicklung der phänomenologischen Philosophie hinzielt.\footnote{Vgl. Husserl, Krisis, S. 14-19 (§ 6,7).} Dieser Wille darf keineswegs verwechselt werden mit den Absichten einzelner Philosophen, vielmehr ist er als eine durch den einzelnen Philosophen "`hindurchgehende Willensrichtung"'\footnote{Husserl, Krisis, S. 78.} zu verstehen. Deshalb kann dieser Wille auch nicht den Selbstzeugnissen dieser Philosophen entnommen werden, sondern muss unter Zuhilfenahme einer kunstvollen hermeneutischen Interpretationstechnik im historischen Rückblick aus dem Verborgenen hervorgehoben werden.\footnote{Vgl. Husserl, Krisis, S. 62-64 (§ 9 l) ) / S. 77-80 (§ 15), S. 109.} Entstanden ist dieser Wille in den beiden "`Urstiftungen"' der antiken griechischen Philosophie und des philosophischen Neuanfangs durch Descartes. Diese Urstiftungen verlangen ihrem Wesen nach (und nicht bloß, wie man denken könnte, ihrem Namen nach) nach einer "`Endstiftung"',\footnote{Vgl. Husserl, Krisis, S. 79.} für welche aus philosophisch-sachlichen Gründen nur die transzendentale Phänomenologie in Frage kommt. Urstiftungen und Endstiftungen sind dabei keine kontingenten historischen Ereignisse, sondern Ausdruck einer im "`Menschentum"' beschlossenen "`Vernunftentelechie"'.\footnote{Vgl. Husserl, Krisis, S. 15.} Die Autorität, die hinter diesem "`Telos"' steht, ist die Autorität der Geschichte und der Tradition oder, wie es Husserl auch ausdrückt, der "`Wille der geistigen Vorväter"'\footnote{Husserl, Krisis, S. 78.}. Philosophieren in der Gegenwart ist nur im reflektierten Rückbezug auf die Tradition möglich, da jeder Versuch, sich von den Vorurteilen der Tradition zu lösen, nur unter Rückgriff auf "`Selbstverständlichkeiten"' erfolgen kann, die wiederum einer Tradition entspringen.\footnote{Vgl. Husserl, S. 78-79.} Sind die Philosophen nun aber nicht willens oder in der Lage, sich der Aufgabe, die ihnen durch das historische Telos gegeben ist, zu stellen, so würde dies zu den in Husserls Augen erschreckenden Konsequenzen führen, dass die Geschichte keinen Sinn hätte, dass das europäische Menschentum keine "`absolute Idee"' in sich trüge und "`ein bloß anthropologischer Typus wie `China' oder `Indien' "' wäre, und dass das "`Schauspiel der Europäisierung aller fremden Menschheiten"'\footnote{Husserl, Krisis, S. 16.} nicht zum Sinn der Geschichte gehören würde. (Für Husserl, der seine besten Mannesjahre im Zeitalter der Kolonialherrschaft verlebt hat, war die "`Europäisierung aller fremden Menschheiten"', wie man sieht, noch nicht mit der Vorstellung bitteren Unrechts verknüpft, so dass sich ihm auch nicht die Frage stellte, was wohl die "`fremden Menschheiten"' von seiner Geschichtsphilosophie halten würden.) Die Verantwortung der Philosophen ist denn auch denkbar groß, denn die "`eigentlichen Geisteskämpfe des europäischen Menschentums als solchen spielen sich als {\it Kämpfe der Philosophien} ab"'\footnote{Husserl, Krisis, S. 15. (Hervorhebungen im Original.)}, und die Philosophen sind gar "`{\it Funktionäre der Menschheit}"'.\footnote{Husserl, Krisis, S. 17. (Hervorhebungen im Original.)} \subsection{Voegelins Kritik des Husserlschen Geschichtsbildes} Voegelin teilt seine Kritik an Husserls Krisis-Schrift in einem Brief an Alfred Schütz mit, den er später in seinem Werk "`Anamnesis"' veröffentlicht hat.\footnote{Brief an Alfred Schütz über Edmund Husserl, 17. September 1943, in: Voegelin, Anamnesis, S. 21-36.} Er war von Husserls Schrift einerseits sehr positiv beeindruckt. Ihn überzeugte vor allem Husserls Darstellung des "`Physikalismus"'. Schließlich hätte er darin auch eine Bestätigung seiner eigenen Kritik an der Verabsolutierung einzelner Seinsbereiche sehen können. Auch Husserls Positivismuskritik, seine Klage darüber, dass die positivistisch reduzierten Wissenschaften keine Orientierung für die drängenden Lebensfragen der Zeit zu bieten vermöchten, liegt genau auf Voegelins Linie. Lobend äußert sich Voegelin zudem über die von Husserl an Descartes herausgearbeitete subtile Differenzierung zwischen transzendentalem und psychologischem Ego. Enttäuscht war er andererseits von Husserls fast rein erkenntnistheoretischem Ansatz. Nicht nur, dass Voegelin selbst die erkenntnistheoretischen Probleme nicht für die wirklich wichtigen philosophischen Fundamentalprobleme hält, was noch als eine Frage bloßer Vorlieben abgetan werden könnte, sondern Voegelin ist darüber hinaus der Ansicht, dass erkenntnistheoretische Fragen nicht isoliert betrachtet werden können.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 21-22.} Allerdings führt er in diesem Brief an Schütz keine näheren Gründe dafür an. Den größten Teil des Briefes an Schütz füllt jedoch die Kritik an zwei Aspekten von Husserls Schrift aus, die Voegelin ganz und gar nicht gefielen: Die Hinwendung Husserls zur Geschichte und Husserls stiefmütterliche Behandlung von Descartes' dritter und den folgenden Meditationen. Nicht dass Voegelin an einer Hinwendung zur Geschichte in der Absicht philosophischer Selbstbesinnung an sich etwas auszusetzen gehabt hätte, aber in der Art und Weise, wie sich Husserl des Themas Geschichte in der "`Krisis"'-Schrift annimmt, konnte Voegelin nur zu gut einige der fatalen Züge wiedererkennen, die ihm von seiner Auseinandersetzung mit den neuzeitlichen Geschichtsideologien her wohlbekannt waren. An Descartes verkennt Husserl nach Voegelins Ansicht vollkommen den Zweck der Meditationen, der entsprechend der christlichen Tradition, welche Descartes, wie Voegelin meint, aufgreift, nicht in argumentativer Begründung sondern in meditativer Besinnung liegt und daher auch nicht argumentativ angreifbar ist. An Husserls Behandlung der Geschichte missfällt Voegelin nun zweierlei: Zum einen entspricht die von Husserl vorgenommene Auswahl historisch wichtiger Epochen (griechische Antike, Neuzeit von Descartes bis Kant, Phänomenologie) nicht Voegelins Geschmack. Zum anderen lehnt Voegelin die kollektivistischen Züge von Husserls Geschichtsinterpretation ab. Die Auswahl historischer Epochen bei Husserl erscheint Voegelin deshalb so mangelhaft, weil sie nach seiner Ansicht erhebliche Lücken enthält. So ist weder das christliche Mittelalter in Husserls Darstellung enthalten, noch wird die Philosophie des Deutschen Idealismus angemessen historisch gewürdigt.\footnote{In Husserls "`Krisis"' erscheint der Deutsche Idealismus nur als Annex zur Philosophie Kants. Vgl. Husserl, Krisis, S. 109-112.} Von einer ernsthaften Berücksichtigung nicht-europäischer Kulturkreise kann schon gar keine Rede sein. Damit fallen aber einige Abschnitte der Menschheitsgeschichte weg, welche Voegelin für überaus bedeutend hielt.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 22-23.} Es stellt sich die Frage, ob Voegelins Kritik in diesem Punkt berechtigt ist. Wäre Husserl verpflichtet gewesen, im Rahmen einer Einleitung in die Phänomenologie nicht nur die Phasen der Philosophiegeschichte anzusprechen, die die Vorgeschichte der Phänomenologie bilden, sondern alle Phasen, welche für die geistige Entwicklung der Menschheit insgesamt bedeutsam waren? Wenn man nicht gerade einen dogmatischen Holismus vertritt, zu welchem Voegelin gelegentlich neigt, so würde eine Einleitung in die Phänomenologie es höchstens erfordern, die Vorgeschichte der Phänomenologie darzustellen, nicht aber, auf die Geistesgeschichte im Ganzen einzugehen oder auch nur auf Zusammenhänge zur allgemeinen Geistesgeschichte hinzuweisen. % Es ist ja auch nicht erforderlich, z.B. in einer Geschichte der % Naturwissenschaften den Auszug aus Ägypten, den Apostel Paulus oder den % heiligen Thomas von Aquin zu erwähnen, denn keine dieser Personen und % Ereignisse hat einen Beitrag zur Entwicklung der Naturwissenschaften % geleistet. Husserls Geschichtsdarstellung erscheint jedoch in einem ganz anderen Licht, wenn man berücksichtigt, dass es Husserl auch und vor allem um den Sinn der Geschichte überhaupt ging und dass er in der Geschichte ein Telos zu finden meinte, welches für alle Menschen verbindlich sein sollte und nicht nur für die Phänomenologie betreibenden Philosophen, wiewohl diese Philosophen durch ihre schmeichelhafte Führungsrolle als "`Funktionäre der Menschheit"'\footnote{Husserl, Krisis, S. 17.} noch einmal besonders hervorgehoben werden. Angesichts dieses hohen geschichtsphilosophischen Anspruchs tadelt Voegelin zu Recht das armselige Bild der Geistesgeschichte der Menschheit, welches Husserl zeichnet. Die Missachtung wichtiger Epochen der Menschheitsgeschichte kann bei diesem Anspruch nicht mehr als thematische Beschränkung entschuldigt werden. Doch die Ablehnung von Husserls Geschichtsbild ist noch grundsätzlicher, denn der Anspruch, das Telos der Geschichte bestimmen zu können, ist unabhängig von der Tiefe und Vollständigkeit der Geschichtsdarstellung, die diesen Anspruch untermauern soll, als solcher höchst fragwürdig. Er mündet bei Husserl, so wie Voegelin es nennt, in eine "`averroistische[..] Spekulation"'.\footnote{Voegelin, Anamnesis, S. 26.} Unter "`averroistischen Spekulationen"' versteht Voegelin Varianten des Grundgedankens vom Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen. Die ungewöhnliche Bezeichnung leitet Voegelin vom Namen des mittelalterlichen mohammedanischen Philosophen Averroes ab, der neben Avicenna einer der bedeutendsten Vermittler des Aristoteles und der antiken Philosophie war. Durch ihn fand die aristotelische Philosophie Eingang in das Denken des christlichen Mittelalters. Was Voegelin "`averroistische Spekulation"' nennt, ist denn auch eine Vorstellung, die schon in der antiken Philosophie ihre Grundlage hat.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 26.} Es handelt sich dabei -- soweit man es Voegelins Text entnehmen kann -- um eine sehr allgemeine und etwas vage metaphysische Vorstellung, nach der es einen Primat der Wahrheit, des Wertes und der Wirklichkeit des Allgemeinen vor dem Speziellen, der Klasse vor dem Individuum oder des Ganzen vor dem Teil gibt. Diese Grundvorstellung kann in den verschiedensten Formen und bezogen auf die verschiedensten Gegenstände auftauchen. Auf gesellschaftspolitischer Ebene führt dieser Gedanke sehr rasch zum Kollektivismus. Besonders problematisch wird die "`averroistische Spekulation"', wenn sie im Verein mit einem Exklusivitätsprinzip auftritt, nach welchem bestimmte Gruppen oder Individuen aus dem maßgeblichen Kollektiv ausgeschlossen werden.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 26-27. -- Vgl. auch Eric Voegelin: Der autoritäre Staat. Ein Versuch über das österreichische Staatsproblem, Wien / New York 1997 (zuerst 1936), im folgenden zitiert als: Voegelin, Autoritärer Staat, S. 25-26.} Der averroistisch-spekulative Charakter von Husserls Geschichtsbild wird besonders deutlich, wenn Husserl das Telos der Geschichte als eine durch den Einzelnen "`{\it hindurchgehende} Willensrichtung"'\footnote{Husserl, Krisis, S. 78.} darstellt. Der Einzelne wird zu einem bloßen Agenten oder Medium jener höheren Willensrichtung, auf die allein es ankommt. Voegelin spricht deshalb auch von dem "`kollektivistische[n] Telos"'\footnote{Voegelin, Anamnesis, S. 27.} Husserls. Auch die Beschränkung auf ein maßgebliches Kollektiv, welches dieses Telos vertritt, kommt bei Husserl in der Einschränkung des eigentlichen Menschentums auf das europäische Menschentum vor. In historischer Perspektive drückt sich nach Voegelin dieser Gedanke bei Husserl dadurch aus, dass der überwiegende Teil der Menschheitsgeschichte schlicht übergangen wird zugunsten der vermeintlich wesentlichen Etappen, welche die Entfaltung des "`Telos"' verkörpern.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 27-28.} Aber Husserl ist für Voegelin nicht nur "`Fortschrittsphilosoph im besten Stile der Reichsgründerzeit"'.\footnote{Voegelin, Anamnesis, S. 28.} Darüber hinaus erblickt Voegelin in Husserls durch die beiden Wendemarken der Urstiftung und der Endstiftung unterteilten Geschichte jenes Drei-Phasen-Geschichtsbild, welches, von der christlichen Heilsgeschichte herstammend, Eingang in so viele Geschichtsideologien der Neuzeit gefunden hat. Die messianische Endzeit, die in diesen Geschichtsideologien anders als in der christlichen Heilslehre nicht überzeitlich sondern geschichtsimmanent verstanden wird, beginnt bei Husserl mit der Endstiftung. Natürlich hütet sich Voegelin, Husserl mit gewalttätigen politischen Bewegungen wie dem Kommunismus oder dem Nationalsozialismus in eine Reihe zu stellen. Aber die Strukturverwandtschaft von Husserls Geschichtsbild und manchen modernen Geschichtsideologien scheint ihm doch unverkennbar.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 28-31.} Einige Interpreten der Husserlschen Philosophie versuchen Husserl vor dem Verdacht der Geschichtsideologie in Schutz zu nehmen, indem sie behaupten, dass Husserl nur als Phänomenologe innerhalb der "`Epoché"', jener phänomenologischen Operation der Konzentration auf das Phänomen in seiner Selbstgegebenheit und unter Absehung von dessen Wirklichkeitsprätentionen,\footnote{Vgl. Edmund Husserl: Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I (Hrsg. von Klaus Held), Stuttgart 1985, S. 141-143.} gesprochen habe. Seine geschichtsphilosophischen Ausführungen seien daher eher als unverbindliche Besinnungen persönlicher Art auf die ganz privaten Absichten und Zwecke des Phänomenologen Husserl zu verstehen.\footnote{Vgl. Gilbert Weiss: Theorie, Relevanz, Wahrheit. Zum Briefwechsel zwischen Eric Voegelin und Alfred Schütz (1938-1959), München 1997, S. 24-28. -- Vgl. die Einleitung von Elisabeth Ströker in: Husserl, Krisis, S. XXIX.} Diese Art der Apologie ist jedoch nicht überzeugend, denn die phänomenologische Epoché dient nicht minder der Gewinnung allgemeinverbindlicher Resultate als irgendeine wissenschaftliche Forschungsmethode. Idealiter liefert sie sogar Ergebnisse von "`apodiktischer Evidenz"'. Selbst wenn Husserl, ohne es übrigens irgendwo zu erwähnen, innerhalb der Epoché gesprochen hätte, so würden seine Äußerungen dadurch keineswegs akzeptabler. Husserl hätte dann, statt zu behaupten, die Geschichte habe ein Telos, lediglich behauptet, die Geschichte stelle sich uns notwendig so dar, als habe sie ein Telos, was aber nicht weniger fragwürdig wäre. Man mag einwenden, dass mit diesem recht kritischen Ergebnis das geistesgeschichtliche Verdienst von Husserls Krisis-Schrift ungenügend gewürdigt wird. Geistesgeschichtlich gesehen, stellt Husserls Krisis-Schrift einen höchst bemerkenswerten Versuch einer Verbindung von Traditionalismus und Rationalismus, von geschichtlichem Denken und systematischer Philosophie, von religiösem Patriarchalismus und Vernunfterkenntnis dar, eine Synthese, die trotz der Wilhelminischen Einlassungen Beachtung verdient. Allerdings zeigt auch gerade Voegelins Kritik, dass diese Synthese nicht aufgeht. \subsection{Voegelins Einwände gegen die Fortschrittsgeschichte} Über die Verfehltheit von Ideologien einer geschichtlichen Endzeit lässt sich Voegelin in seinem Brief an Alfred Schütz nicht weiter aus. (Sie ist ohnehin offensichtlich genug.) Was hat Voegelin aber daran auszusetzen, die Geschichte, so wie es bei Husserl geschieht, als eine Geschichte des Fortschritts zu schreiben? Für Voegelin spielt dabei sowohl ein moralisches als auch ein eher wissenschaftliches Motiv eine Rolle. Moralisch kritikwürdig erscheint Voegelin die Inhumanität, die darin liegt, die vergangenen Epochen und das Streben der damals lebenden Menschen nur als Mittel zum Zweck für die Gegenwart zu betrachten. Wissenschaftliche Schwierigkeiten entstehen für Voegelin dadurch, dass vergangene Epochen nicht angemessen verstanden werden können, wenn in ihnen nur eine Vorstufe der Gegenwart gesehen wird. Die moralische Problematik der Fortschrittsphilosophie erläutert Voegelin unter Rückgriff auf Kant. Kant teilte mit vielen anderen Aufklärern die Ansicht, dass es in der Geschichte einen Fortschritt zum Besseren gibt, so dass sich der Zustand der menschlichen Gesellschaft immer mehr, wenn auch niemals endgültig, einem moralischen Optimum (jeder handelt gut und keinem geschieht ein Unrecht) annähert. Zugleich äußert Kant jedoch auch sein "`Befremden"' darüber, dass die späteren Generationen von allen Fortschritten der vorhergehenden profitieren, welche ihrerseits, obwohl sie denselben Beitrag zum Fortschritt geleistet haben, nicht in gleichem Maße die Vorteile davon genießen können.\footnote{Vgl. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Dritter Satz), in: Immanuel Kant: Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1985, S. 21-39 (S. 25). In Voegelins Kant-Interpretation tritt gegenüber Kant eine leichte Bedeutungsverschiebung ein. Während Voegelin hier eine Frage des Sinns sieht, geht es bei Kant (wenigstens dem Sachzusammenhang nach, wenn auch noch andere Motive im Hintergrund eine Rolle spielen mögen) eher um eine Frage des materiellen Ausgleichs. Dies hat natürlich auch Folgen für die Interpretation der geistesgeschichtlichen Rolle Kants, die hier jedoch nur kurz angedeutet werden können: Es erscheint grundsätzlich fragwürdig, in Kants Geschichtsphilosophie (bzw. in den Geschichtsvorstellungen der Aufklärer überhaupt) eine "`averroistische Konzeption"' zu sehen. Die Geschichtsphilosophie Kants war durchaus keine Geschichtssinntheorie (wie die Geschichtsphilosophien des Deutschen Idealismus), denn nicht die Geschichte verleiht bei Kant dem Leben und Schaffen des Einzelnen Sinn und Wert (und auch nicht die Glückseligkeit, die nur eine Belohnung ist, auf die er nach dem Tode hoffen darf), sondern die Erfüllung der Pflicht (meine Interpretation). Kants Fortschrittsphilosophie war der Ausdruck der optimistischen Hoffnung, dass sich das Gute einmal durchsetzen wird, aber das Gute ist bei Kant (noch) nicht dadurch definiert, wer in der Geschichte siegreich bleibt. Die grundsätzliche Möglichkeit, Geschichte als Fortschrittsgeschichte zu schreiben, ohne in "`averroistische Spekulationen"' zu verfallen, kann auch Voegelin nicht leugnen, sonst müsste er sich wegen der Fortschritte der spirituellen Ausbrüche, von denen "`Order and History"' handelt, selbst der "`averroistischen Spekulation"' bezichtigen. Voegelins Bild einer Kontinuität von der aufklärerischen Fortschrittsphilosophie (Geschichtsideologie ist Fortschrittsphilosophie minus Humanität plus Endzeitglaube) zu den modernen Geschichtsideologien erscheint deshalb teilweise fragwürdig.} Voegelin erblickt in Kants Befremden eine humane Hemmung, die früheren Generationen nur als Mittel zum Zweck der Verwirklichung eines geschichtlichen Telos zu sehen, welches bei Kant in der Vervollkommnung der Vernunftanlagen besteht. Bei Husserl fehlt diese Humanität und zudem tritt die "`Endstiftung"' anders als Kants Vervollkommnung des Vernunftgebrauchs tatsächlich in der Geschichte ein. Diese beiden Punkte markieren für Voegelin den Übergang von der averroistischen Konzeption aufklärerischer Fortschrittsgeschichte zu den noch militanteren averroistischen Spekulationen, die sich in den modernen Geschichtsideologien und, folgt man Voegelin, sogar in seriösen historischen Untersuchungen wie Otto Gierkes Genossenschaftsrecht finden. Husserls Geschichtsbild stellt für Voegelin deshalb eine durchaus zeittypische Erscheinung dar.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 28-30.} Die weniger ethische als wissenschaftliche Problematik dieser Art von Geschichtsdarstellung besteht für Voegelin darin, dass der Historiker "`die eigene geistige Position, mit ihrer historischen Bedingtheit, verabsolutiert"'\footnote{Voegelin, Anamnesis, S. 31.} und auf die historischen Fakten nur zurückgreift, um die eigene Position zu stützen, ohne dabei jemals verstehend in das historische Material einzudringen. Bei Husserl tritt diese Verabsolutierung in besonders krasser Form auf, da Husserl sich nach Voegelins Ansicht gegen die Möglichkeit empirischer Kritik systematisch abschirmt. Voegelin spielt hier wahrscheinlich auf Husserls theoretische Vorgabe an, dass der Sinn der philosophischen Positionen der Vergangenheit nicht aus den Selbstzeugnissen der Denker, sondern nur durch die Heraushebung einer erst rückblickend aus der Gegenwart erkennbaren latenten "`Willensrichtung"' zu bestimmen sei.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 31. -- Vgl. Husserl, Krisis, S. 78-80.} Wie sieht für Voegelin aber die Alternative zu diesen Formen von Geschichtsklitterung aus? Nach Voegelins Überzeugung ist es die Aufgabe des Historikers, in der Geistesgeschichte "`jede geschichtlich geistige Position bis zu dem Punkt zu durchdringen, an dem sie in sich selbst ruht, d.h. in dem sie in den Transzendenzerfahrungen des betreffenden Denkers verwurzelt ist."'\footnote{Voegelin, Anamnesis, S. 31.} Es kommt weiterhin darauf an, "`die geistig-geschichtliche Gestalt des andern bis zu ihrem Transzendenzpunkt zu durchdringen und in solcher Durchdringung die eigene Ausformung der Transzendenzerfahrung zu schulen und zu klären."'\footnote{Voegelin, Anamnesis, S. 31.} Die recht verstandene Geistesgeschichte verfolgt also zwei Ziele: Verstehen der geistigen "`Gestalten"' der Vergangenheit und Klärung der eigenen Beziehung zur Transzendenz. \label{Selbstzeugnisse1} Das Verstehen hat dabei strikt am "`Leitfaden"' der "` `Selbstzeugnisse' der Denker"'\footnote{Voegelin, Anamnesis, S. 32.} zu erfolgen. Die Klärung des Selbstverständnisses durch das "`geistesgeschichtliche Verstehen"' zielt letztlich auf eine "`Kathar[s]is, eine {\it purificatio} im mystischen Sinn, mit dem persönlichen Ziel der {\it illuminatio} und der {\it unio mystica}"'.\footnote{Voegelin, Anamnesis, S. 31.} Wird dieses "`geistesgeschichtliche Verstehen"' systematisch ausgeübt, so kann es "`zur Herausarbeitung von Ordnungsreihen in der geschichtlichen Offenbarung des Geistes führen."'\footnote{Voegelin, Anamnesis, S. 32.} % Das "`philosophische % Ziel"' der Geistesgeschichte besteht nämlich für Voegelin darin, "`jede % geschichtlich geistige Position bis zu dem Punkt zu durchdringen, an dem sie % in sich selbst ruht, d.h. in dem sie in den Transzendenzerfahrungen des % betreffenden Denkers verwurzelt ist."' Es ist zu berücksichtigen, dass Voegelin dies 1943, also noch lange vor seinem geschichtlichen Hauptwerk "`Order and History"', geschrieben hat. Voegelins Ausführungen sind also eher noch als ein frühes Programm zu verstehen.\footnote{Vgl. Jürgen Gebhardt: Toward the Process of universal Mankind. The Formation of Voegelin's Philosophy of History, in: Ellis Sandoz (Hrsg.): Eric Voegelins Thought. A critical appraisal, Durham N.C. 1982, S. 67-86, S. 78.} Dennoch kann die Frage aufgeworfen werden, ob dieses Programm eine gangbare Alternative zu den von Voegelin abgelehnten "`averroistischen Konzeptionen"' von Geschichte darstellt. In dieser Hinsicht fällt auf, dass Voegelins Programm bereits sehr erhebliche Vorentscheidungen über das Wesen der Geistesgeschichte enthält. Voegelin unterstellt, dass jeder bedeutsamen geschichtlichen Gestalt des Geistes eine Transzendenzerfahrung zu Grunde liegt. Aber nicht alle Denker gründen ihr Denken auf Transzendenzerfahrungen. Die meisten Philosophen gelangen zu ihren Resultaten durch Überlegungen, welche mit einer Auslegung von Transzendenzerfahrungen nichts gemein haben. Es könnte nun behauptet werden, dass die Nichtbeachtung der Transzendenz ebenfalls eine bestimmte, wenn auch eine deformierte Beziehung zur Transzendenz repräsentiert. Wird dies behauptet, so wird jedoch gleichzeitig eine andere methodische Forderung Voegelins vernachlässigt, nämlich die, "`jede geschichtlich geistige Position bis zu dem Punkt zu durchdringen, an dem sie in sich selbst ruht"',\footnote{Voegelin, Anamnesis, S. 31.} denn durch Betrachtung eines nicht-religiösen Denkers unter dem Gesichtspunkt der Transzendenzerfahrungen werden an diesen Denker völlig heteronome Maßstäbe herangetragen. Voegelin stellt hier also zwei einander widersprechende methodische Forderungen auf: Zum einen, die Denker der Vergangenheit strikt auf Grundlage ihrer Selbstzeugnisse zu erfassen, und zum anderen, jede geistige Position in der Vergangenheit zwingend als Ausdruck einer Transzendenzerfahrung zu verstehen. Betrachtet man dieses frühe historische Programm im Hinblick auf sein späteres geschichtliches Werk, dann fallen einige Abweichungen auf: So ließ sich etwa die Forderung, vom Selbstverständnis der Denker der Vergangenheit auszugehen, nicht durchhalten. Wenigstens für bestimmte philosophische Systeme gibt Voegelin diese Forderung später auch explizit auf.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 310. -- Siehe auch Seite \pageref{Selbstzeugnisse2} in diesem Buch.} Weiterhin kann die scharfe Kritik, die Voegelin etwa an Otto Gierkes "`phantastischer Vergewaltigung Bodins"'\footnote{Voegelin, Anamnesis, S. 30.} übt, auch gegen Voegelins eigene Klassikerinterpretationen gekehrt werden, die nicht selten eher kongenial als historisch und philologisch zuverlässig sind. Sogar der Vorwurf der "`averroistischen Spekulation"' könnte gegen Voegelin selbst gerichtet werden, wenn er in seinen späteren Schriften das menschliche Bewusstsein an einem Prozess partizipieren lässt, "`durch den die Wahrheit der Realität sich ihrer selbst bewusst wird"',\footnote{Eric Voegelin: Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte, in: Eric Voegelin, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte, Späte Schriften (Hrsg. von Peter J. Optiz), Stuttgart 1988, S. 99-126 (S. 123).} was von Husserls durch die konkreten Philosophen hindurchgehender Willensrichtung nicht allzu weit entfernt ist. Voegelins eigene Geschichtskonstruktion ist in diesen Punkten derjenigen Husserls, die er zu recht kritisiert, näher, als dies die Entschiedenheit seiner Vorwürfe erwarten lassen sollte. % \footnote{Für Voegelin war es offenbar % selbstverständlich, daß einen Menschen verstehen heißt, seine % Transzendenzerfahrungen nachzuvollziehen. Es gibt hier eine Parallele zur % Einleitung von Order and History II., wo Voegelin die Frage nach dem % Zusammenhang der Menschheit mit der allen gemeinsamen Mission der Suche nach % Wahrheit (Quest for truth) beantwortet. Er behauptet sogar, daß dies die % einzige Möglichkeit sei und schließt damit andere denkbare Alternativen % (z.B. gleiche Sehsüchte und Wünsche, Nöte und Freuden weltlicher Art) von % vornherein aus.} \subsection{Voegelins Descartes-Deutung} Dass Voegelin sich große Interpretationsfreiheiten erlaubt, wird auch an seiner Auseinandersetzung mit Husserls Descartes-Bild deutlich, denn die rationale und wissenschaftliche Ausrichtung von Descartes' Denken lässt im Grunde wenig Raum für die Eindrücke von Transzendenzerfahrungen. Für Voegelin greift Husserls Descartes-Interpretation zu kurz, weil Husserl der Philosophie des Descartes eine rein erkenntnistheoretische Bedeutung unterstellt, und weil Husserl nach Voegelins Ansicht den tieferen Sinn von Descartes Gottesbeweis in der dritten Meditation missversteht. Was die rein erkenntnistheoretische Deutung des Descartes durch Husserl betrifft, so gilt dasselbe, was bereits über Voegelins Kritik an Husserls Geschichtsbild gesagt wurde: Sofern es Husserl um eine Einleitung in die Phänomenologie geht, ist es sein gutes Recht, die Aspekte der Philosophie von Descartes herauszugreifen, die für die Phänomenologie von Bedeutung sind, und dies sind nun einmal die erkenntnistheoretischen. Da Husserls "`Krisis"' aber noch von wesentlich höheren Aspirationen getragen wird, sind Einwände gegen das Herausgreifen bestimmter Einzelaspekte der Philosophie des Descartes grundsätzlich legitim. Etwas anders verhält es sich jedoch mit Husserls Vernachlässigung des Gottesbeweises in der dritten Meditation von Descartes "`Meditationen über die Grundlagen der Philosophie"'. Husserl erwähnt in der "`Krisis"' nur kurz, dass der Gottesbeweis falsch sei, und geht auf die dritte und die folgenden Meditationen gar nicht weiter ein.\footnote{Vgl. Husserl, Krisis, S. 82.} Er scheint sich hier an eine damals wie heute geläufige Lesart zu halten, nach der die dritte bis sechste Meditation von Descartes noch durch und durch scholastisch sind, und philosophisch Belangvolles nur in den ersten beiden Meditationen zu finden ist.\footnote{Vgl. Bertrand Russell: A History of Western Philosophy, London, Sidney, Wellington 1990, im folgenden zitiert als: Russell, History of Western Philosophy, S. 550.} Auch Voegelin sieht in Descartes' Meditationen ein durchaus traditionelles Unternehmen. Für ihn sind die gesamten "`Meditationen"' des Descartes eine Spielart der christlichen Meditation, wie sie seit Augustinus insbesondere bei den mystischen Denkern üblich war. Wenn man Voegelin Glauben schenkt, so war es das Ziel der Meditationen von Descartes, wie in der christlichen Meditation üblich, in der Abkehr von der Welt den Kontakt zur Transzendenz als der höchsten Wirklichkeit zu finden. Das Neue bei Descartes besteht nach Voegelin darin, dass Descartes -- anders als seine Vorläufer -- die Meditation nicht aus einer Haltung der Verachtung der Welt heraus unternimmt, sondern in der Absicht, sich durch den Kontakt zur höchsten Realität der Realität bzw. der Objektivität der Welt zu versichern. Der Gottesbeweis in der dritten Meditation ist, Voegelin zufolge, in diesem Zusammenhang nicht als logische Beweisführung, sondern als sekundärer, in der Stilform der {\it demonstratio} gefasster Ausdruck der als solcher unmittelbaren und eines Beweises nicht bedürftigen Gotteserfahrung zu sehen.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 32-35.} Voegelins Descartes-Interpretation ergibt sich nicht ganz zwanglos aus dem Text der "`Meditationes"', da dort von der Gotteserfahrung nur sehr am Rande die Rede ist. Wäre mit der Erfahrung Gottes schon seine Existenz und darüber hinaus die Existenz der Welt mitgegeben, so erscheint es ganz und gar unnötig, dass Descartes versucht, mit Hilfe scholastischer Schlussweisen, deren Falschheit Voegelin gar nicht bestreitet, zu zeigen, dass die Vorstellung Gottes anders als alle anderen Vorstellungen die Existenz des Vorgestellten impliziert.\footnote{Vgl. René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1993, S. 36ff.} Darüber hinaus unterscheidet sich Descartes' Text nicht nur in der Intention der Weltvergewisserung sondern auch in der Art und Weise der Darstellung recht deutlich von den "`ekstatischen Konfessionen"'\footnote{So der Titel einer Sammlung mystischer Erfahrungsberichte, die teilweise mit den Mitteilungen "`Cloud of Unknowing"', die von Voegelin in diesem Zusammenhang angeführt wird, vergleichbar sind (z.B. der Auszug aus der Erzählung des Tewekhul-Beg, Schüler des Moll\^a-Sch\^ah, über sein mystisches Noviziat, S. 47-49.) in: Buber, Martin (Hrsg.): Ekstatische Konfessionen, Leipzig 1921.} von Mystikern wie etwa dem anonymen Autor der von Voegelin zum Vergleich herangezogenen "`Cloud of Unknowing"'.\footnote{Vgl. A Book of Contemplation wich is called the Cloud of Unknowing, in which a Soul is oned with God. (ed. Evelyn Underhill, 2nd ed. John M. Watkins), London 1922, auf: http://www.ccel.org/u/unknowing/cloud.htm (Host: Christian Classics Ethereal Library at Calvin College. Zugriff am: 5.4.2000). -- Ein Vergleich mit Descartes, wie Voegelin ihn anstellt (vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 33) bietet sich noch am ehesten an, wenn man das Ende des vierten und das fünfte Kapitel dieses Werkes dem Beginn von Descartes' dritter Meditation gegenüberstellt. Aber die oberflächlichen Ähnlichkeiten, die sich dabei auf\/finden lassen, können kaum über den himmelweiten Unterschied in Inhalt, Gegenstand, Absicht, Ausführung und Ziel dieser beiden Werke hinwegtäuschen.} Es fällt daher nicht unbedingt leicht, die "`Meditationen"' unter dieser Art von Literatur einzureihen. Aber selbst wenn man einmal annimmt, dass die "`Meditationen"' von Descartes nur eine mit anderen Mitteln vorgenommene Artikulation derselben mystischen Transzendenzerfahrung sind, so stellt sich die Frage, ob damit irgendetwas gewonnen ist. Wenn schon der Versuch, die Existenz der Außenwelt argumentativ zu beweisen, fehlgeschlagen ist, dann kann die Existenz der Außenwelt durch den Rückgriff auf eine Transzendenzerfahrung ebensowenig begründet werden. Denn es ist zwar vorstellbar, dass eine Transzendenzerfahrung ein sehr starkes Vertrauen in das Sein der Welt einflößt, aber außer der bloßen Erfahrung einer Transzendenz ist nicht auch das Sein der Transzendenz selbst und außerdem noch das objektive Sein der Welt in dieser Erfahrung mitgegeben, da auch bei einer Transzendenzerfahrung eine Täuschung denkbar ist, genauso wie eine Halluzination oder Sinnestäuschung bei der Sinneserfahrung. Die Erfahrung der Transzendenz, was immer das für eine Erfahrung auch sein mag, bleibt deshalb für das erkenntnistheoretische Problem der Existenz der Außenwelt ohne Belang. Bloße Gefühle der Gewissheit, wie sie sich in einer Meditation einstellen mögen, sind eben noch keine Gewissheit. Einzuräumen ist jedoch, dass Voegelin einen Schwachpunkt von Husserls Theorie der "`Konstitution"' des Seins durch Leistungen des Ego trifft, wenn er in diesem Zusammenhang die Frage aufwirft, woher das Ego die Funktion bekommt, "`aus der Subjektivität die Objektivität der Welt zu fundieren"'\footnote{Voegelin, Anamnesis, S. 36. -- Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 84-91 (§ 40-41).}. Husserls phänomenologische Methode gerät in der Tat an ihre Grenzen, wenn es darum geht, das Selbstsein anderer Menschen oder auch nur von Dingen zu begründen. %%% Local Variables: %%% mode: latex %%% TeX-master: "Main" %%% End: