%%% Local Variables: %%% mode: latex %%% TeX-master: "Main" %%% End: \chapter{Die Grundzüge von Voegelins Philosophie} \label{Grundzuege} \section{Voegelins theoretischer Ansatz} Voegelins theoretischer Ansatz ist durch drei zentrale Elemente bestimmt: 1) Einer entschieden kritischen Frontstellung gegen das positivistische Ideal der wertfreien, empirisch-tatsachenorientierten Wissenschaft, 2) Voegelins eigenem Ideal einer normativ-ontologischen Ordnungswissenschaft, das religiöse Erfahrungen als politisch ordnungsstiftendes Moment und zugleich als Grundlage normativ-wissenschaftlicher Urteile einbezieht und 3) einer Geschichtsphilosophie, der zufolge es eine Entwicklung von primitiven ("`kompakten"') zu immer "`differenzierteren"' religiösen Ordnungserfahrungen gibt, die aber -- mit verhängnisvollen politischen Folgen -- unterbrochen werden kann durch Phasen, in denen verfälschte Ordnungserfahrungen ("`Gnosis"') dominieren. Die Neuzeit ist für Voegelin eine solche Phase verhängnisvoller Ordnungsstörung. Diese drei Elemente von Voegelins theoretischen Ansatz sollen in diesem Kapitel näher erläutert werden. \subsection{Die Kritik des Positivismus} Eric Voegelin entwickelte seinen eigenen wissenschaftlichen Ansatz in ausdrücklicher Opposition zu den herkömmlichen Vorgehensweisen in den Sozialwissenschaften, wobei er sich insbesondere gegen die "`szientistischen"' Ansätze in den Gesellschaftswissenschaften wandte. Diese kritische Seite der wissenschaftlichen Neuorientierung, die Voegelin in der "`Neue[n] Wissenschaft der Politik"' vornimmt, betrifft das an den Naturwissenschaften orientierte Methodenideal des Positivismus sowie die von Max Weber aufgestellte Forderung der Wertfreiheit der Wissenschaft. Voegelin unternimmt in der "`Neuen Wissenschaft der Politik"' nicht die Auseinandersetzung mit einer bestimmten, elaborierten positivistischen Wissenschaftstheorie. Es geht ihm vielmehr um die Charakterisierung der geistesgeschichtlichen Strömung des Positivismus und um die Kritik des geistigen Klimas, welches diese Strömung in den Gesellschaftswissenschaften hervorgerufen hat. Den Begriff des Positivismus fasst Voegelin dabei vergleichsweise weit. Seiner skizzenhaften historischen Darstellung zufolge ging der Positivismus aus der Rezeption der Newtonschen Physik durch die Aufklärer hervor und lief von diesem Ausgangspunkt über Auguste Comte als seinem ersten vorläufigen Höhepunkt fort bis zur Entwicklung der Methodologie am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Methodologie trägt als eine skeptische und ideologiekritische Erscheinung allerdings auch schon den Keim der Gegenbewegung in sich.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.24-31. -- Eine ausführliche Darstellung von Voegelins Positivismuskritik in: Barry Cooper: Eric Voegelin and the Foundations of Modern Political Science, Columbia and London 1999, S. 67ff. -- Eine sorgfältige Analyse von Voegelins Positivismuskritik in der "`Neuen Wissenschaft der Politik"', sowie eine wohlbegründete Zurückweisung von dessen völlig überzogenen Vorwürfen bei: Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 11ff. -- Vgl. auch Eckhart Arnold: Nachwort: Voegelins "`Neue Wissenschaft"' im Lichte von Kelsens Kritik, in: Kelsen, ebd., S. 109-137, im folgenden zitiert als: Arnold, Nachwort zu Kelsens Voegelin-Kritik, S. 119-122.} Das positivistische Denken führt nach Voegelins Ansicht dazu, dass als Untersuchungsgegenstand der Wissenschaft nur noch dasjenige zugelassen wird, was sich mit einem bestimmten Kanon quasi-naturwissenschaftlicher Methoden erfassen lässt. Hierdurch wird in Voegelins Augen die Relevanzordnung der Wissenschaft geradezu umgekehrt. Denn anstatt dass das Thema bzw. die wissenschaftliche Fragestellung vorgegeben ist und der Wissenschaftler sich nun nach den geeigneten Methoden zur Bearbeitung dieses Themas umsieht, gibt nach dem positivistischen Wissenschaftsverständnis der Methodenkatalog vor, welche Fragen überhaupt gestellt werden können.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 24. -- Dies ist vielleicht der einzige Punkt, in dem Voegelins Positivismuskritik m.E. ein berechtigtes Anliegen formuliert, auch wenn Voegelin es versäumt, seine Kritik durch Beispiele zu untermauern. Zur jüngeren Kritik an der "`methodengetriebenen"' Wissenschaft vgl. Donald Green / Ian Shapiro: The Pathologies of Rational Choice Theory. A Critique of Applications in Political Science, New Haven \& London 1994, sowie neuerlich: Ian Shapiro: The Flight from Reality in the Human Sciences, Princeton 2005, im folgenden zitiert als: Shapiro, Flight from Reality.} Nun gibt es aber Fragen, die nicht nur für das Leben des Einzelnen von größter Bedeutung sind, sondern deren Beantwortung auch die Gestalt der Gesellschaft und die Form der politischen Ordnung entscheidend prägt, welche aber unter den methodologischen Vorgaben des Positivismus kaum angemessen untersucht werden können. Hierzu gehören beispielsweise die Frage nach dem, was moralisch gut und richtig ist, oder auch die Frage nach dem Sinn des Lebens oder dem Sinn der Welt im Ganzen. Es ist offensichtlich, dass jede Gesellschaft vor der Herausforderung steht, auf die erste dieser Fragen eine gemeinverbindliche Antwort zu geben. Und die Antwort auf die zweite Frage ist ersichtlich wenigstens dort von öffentlicher Bedeutung, wo die Religion einen großen Einfluss auf die Politik ausübt. Nach dem positivistischen Verständnis ist es jedoch unmöglich, auf irgendeine dieser Fragen eine objektive Antwort zu geben. Gegenstand der Wissenschaft kann nach positivistischer Auf\/fassung daher bestenfalls sein, welche Antworten Gesellschaften oder einzelne Menschen auf diese Fragen geben oder unter welchen Bedingungen Menschen dazu neigen, derartige Fragen aufzuwerfen und dann auf diese oder jene Weise zu beantworten. Ausgeschlossen ist jedoch die Erörterung moralischer oder spiritueller Fragen durch die Wissenschaft selbst. Solche Fragen dürfen vom Forscher, wenn überhaupt, dann höchstens privat und nach Feierabend gestellt werden.\footnote{Gerade dies ist es, was Max Weber mit gar nicht schlechten Gründen fordert. Vgl. Max Weber: Der Sinn der "`Wertfreiheit"' der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, im folgenden zitiert als: Weber, Wissenschaftslehre, S. 489-540 (S. 492/493).} Genau dies hält Voegelin aber für einen untragbaren Zustand. Wichtiger vielleicht noch als das Problem der massenhaften Anhäufung irrelevanter Nebensächlichkeiten, welches Voegelin dem Positivismus ebenfalls vorwirft,\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 27. -- Vgl. auch die Diskussion des Relevanzproblems im Briefwechsel zwischen Voegelin und Alfred Schütz, der in dieser Frage eine klarere Auf\/fassung vertritt, in: Eric Voegelin / Alfred Schütz / Leo Strauss / Aron Gurwitsch: Briefwechsel über "`Die Neue Wissenschaft der Politik"' (Hrsg. von Peter J. Opitz), München 1993, 55ff. Schütz geht von einer bloß relativen Relevanz wissenschaftlicher Themen in Bezug auf bestimmte Fragestellungen aus. Voegelin gerät dagegen in Schwierigkeiten bei dem Versuch den Anspruch absoluter Relevanz von bestimmten Fragestellungen begründen will.} ist es daher, dass einige der relevantesten Fragen der Menschheit vom Positivismus unter ein wissenschaftstheoretisches Tabu gestellt werden. Wie soll, so könnte man im Sinne Voegelins fragen, Politikwissenschaft möglich sein, wenn sie auf die Frage, ob der Faschismus dem Kommunismus vorzuziehen sei oder beiden vielleicht der Liberalismus, nur mit einem Achselzucken oder allenfalls mit dem (natürlich wertfrei zu haltenden) Hinweis auf die möglichen Folgen der Entscheidung antworten kann? Das Problem der Möglichkeit von Werturteilen in der Wissenschaft wird von Voegelin besonders detailliert an Max Weber herausgearbeitet. Max Weber vertrat die Ansicht, dass Wertfragen nicht objektiv beantwortet werden können. Daher kann auch nicht wissenschaftlich über die Richtigkeit und Falschheit von Werten befunden werden. Wertfragen müssen vielmehr entschieden werden. Weber hat diese Art von Entscheidungen, die letztlich ohne rationale Anhaltspunkte getroffen werden müssen, Voegelin zufolge auch des öfteren als "`dämonisch"' charakterisiert.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 33/34. -- Zu der recht komplexen Beziehung Voegelins zu Webers Werk, auf die hier nicht ausführlich eingegangen werden kann, vgl. Peter J. Opitz: Max Weber und Eric Voegelin, in: Eric Voegelin: Die Größe Max Webers. (Hrsg. von Peter J. Opitz), München 1995, S. 105-133.} Dennoch spielen Werte in der Wissenschaft in einem anderen Zusammenhang bei Max Weber durchaus eine Rolle. Die Auswahl des Gegenstandes der Wissenschaft erfolgt nämlich wertgesteuert durch die wissenschaftliche Interessenrichtung des Forschers.\footnote{Vgl. Max Weber: Die "`Objektivität"' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Weber, Wissenschaftslehre, S. 146-214. (S. 175-185).} Dies ist einer der Punkte, an denen Voegelins Kritik am Wertfreiheitsdogma ansetzt. Wenn Werte nicht wissenschaftlich begründet werden können, sie aber gleichzeitig die Voraussetzung zur "`Konstitution des Gegenstandes der Wissenschaft"'\footnote{Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 37.} bilden, dann gibt es ebenso viele Wissenschaften, wie es Werte gibt. Das Ergebnis wäre ein Relativismus als Konsequenz der Objektivitätsforderung.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 37.} Für Voegelin hat Max Weber damit das Prinzip der wertfreien Wissenschaft ad absurdum geführt. Voegelin anerkennt durchaus das historische Verdienst Max Webers, welches für ihn darin besteht, dass Max Weber das Problematische des Positivismus reflektiert hat, wenn er auch immer noch in den positivistischen Tabus seiner Zeit befangen blieb. Dass Max Weber der Durchbruch zu einer umfassenden, d.h. auch Werte mit einschließenden politischen Ordnungswissenschaft nicht gelungen ist, erklärt sich Voegelin mit eben dieser Befangenheit Webers und damit, dass Weber bei seinen historischen Studien genau die Epochen und Denker ausließ, bei denen er auf eine solche Ordnungswissenschaft hätte stoßen können, nämlich die Epochen der griechischen Antike und des vorreformatorischen Christentums, in denen Denker wie Platon und Aristoteles oder, im anderen Fall, Thomas von Aquin über eine politische Ordnungswissenschaft verfügten.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.41.} Es gibt jedoch einen Punkt, über den Voegelin bei seiner Auseinandersetzung mit Max Weber mit einer gewissen Ungeduld hinweggeht. Dass Max Weber Werte für rational unbegründbar hält, hängt nicht bloß mit dem ungünstigen historischen Umstand zusammen, dass er in einer positivistisch geprägten Epoche lebte, noch kann es ernsthaft dadurch erklärt werden, dass Max Weber die Auseinandersetzung mit dem christlichen Mittelalter und Vertretern der Ordnungswissenschaft wie Thomas von Aquin, Platon und Aristoteles peinlichst vermieden hätte.\footnote{Vgl. zu dieser wenig glaubwürdigen Unterstellung Voegelins auch Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 27.} Vielmehr besaß Max Weber sachliche Gründe für die Annahme, dass sich Werte nicht rational begründen lassen. Bisher, und dies gilt auch noch 80 Jahre nach Max Weber, ist es noch niemandem gelungen, die Gültigkeit irgendeiner moralischen Norm vollständig zu beweisen. Das Einzige, was erreicht worden ist, ist die Rückführung moralischer Normen auf andere Normen. Irgendwann einmal gelangt man auf diese Weise jedoch zu einer obersten Norm (z.B. Menschenliebe, kategorischer Imperativ oder dergleichen), die sich nicht auf weitere Normen zurückführen lässt. Es kann nun behauptet werden, dass diese Norm ein "`Faktum der Vernunft"'\footnote{Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg 1990, S.36.} oder ein Befehl Gottes ist oder dass sie von Natur aus gilt. Aber all das sind lediglich eloquente Beteuerungen ihrer Gültigkeit und keine rationalen Begründungen. Max Weber hielt Wertfragen deshalb wissenschaftlich nicht für entscheidbar. Mit gutem Grund sprach er sich daher dagegen aus, in der Wissenschaft Werturteile zu fällen, und nicht bloß, weil er ein Opfer des positivistischen Zeitgeistes gewesen wäre.\footnote{Vgl. Max Weber: Die "`Objektivität"' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Weber, Wissenschaftslehre, S. 146-214 (S. 151-157). -- Vgl. Max Weber: Der Sinn der "`Wertfreiheit"' der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Weber, Wissenschaftslehre, S. 489-540 (S. 508). -- Zur Diskussion über die Wertfreiheit in den Sozialwissenschaften: Hans Albert / Ernst Topitsch (Hrsg.): Werturteilsstreit, Darmstadt 1971, im folgenden zitiert als: Albert/Topitsch, Werturteilsstreit. Darin besonders deutlich gegen die Möglichkeit wissenschaftlicher Wertbegründung: Walter Dubislav: Zur Unbegründbarkeit der Forderungssätze, S. 439-454. Noch am ehesten mit Voegelins Auf\/fassung vergleichbar: Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, S. 334-364 (S. 337).} Daher ist es auch kaum anzunehmen, dass Max Weber seine Auf\/fassungen zur Werturteilsproblematik hätte revidieren müssen, wenn er die Zeitalter von Aristoteles oder von Thomas von Aquin in seinen Forschungen stärker berücksichtigt hätte, denn weder Aristoteles noch Thomas von Aquin haben eine Methode gefunden, mit der Wertfragen wissenschaftlich entschieden werden können. Ebensowenig stimmt es, dass die interessengeleitete bzw. wertbezogene Auswahl der Gegenstände wissenschaftlicher Forschung -- Voegelin spricht hier mit einer sehr unklaren phänomenologischen Terminologie von der "`Konstitution des Gegenstandes der Wissenschaft"'\footnote{Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 37.} -- zum Relativismus führt. Von Relativismus kann nur dann die Rede sein, wenn es sich um widersprüchliche Aussagen zu ein und demselben Gegenstand handelt, die alle vom jeweiligen Standpunkt aus gleichermaßen berechtigt erscheinen. Da sich die Wertbezogenheit aber nur auf die Auswahl der Untersuchungsgegenstände bezieht und nicht die Aussagen über diese Gegenstände selbst und die Verfahren zur Prüfung der Richtigkeit der Aussagen betrifft, wird die Gefahr des Relativismus vermieden.\footnote{Vgl. Ernest Nagel: Der Einfluß von Wertorientierungen auf die Sozialforschung, in: Albert/Topitsch, Werturteilsstreit, S. 237-250 (S. 237-239). Eine m.E. Voegelins Sichtweise ähnelnde Auf\/fassung vertritt dagegen Hans Albert, in: Hans Albert: Kritische Vernunft und menschliche Praxis, Stuttgart 1977, S. 71f. Albert scheint jedoch zu übersehen, dass die Normierungen, die den Erkenntnisprozess durchsetzen, ausschließlich von der Art der hypothetischen Imperative Kants sind, welche kein eigentliches Wertbegründungsproblem aufwerfen.} Max Weber gerät auch nicht in einen Widerspruch, wenn er ungeachtet der Wertfreiheit der Wissenschaft den Marxismus wissenschaftlich kritisiert, denn das Wertesystem des Marxismus bleibt von dieser Kritik unberührt. Lediglich die Sachaussagen des Marxismus, also etwa Aussagen über den vermuteten Verlauf der künftigen Geschichte, können wissenschaftlich kritisiert werden. Die Positivismuskritik Voegelins bedarf ebenfalls einer gewissen Differenzierung: Das zentrale Motiv wenigstens des Neupositivismus ist nicht so sehr die Forderung nach Imitation der naturwissenschaftlichen Methoden in allen Wissensbereichen.\footnote{Vgl. andererseits die Schwächen, die Shapiro bei den Anhängern des logisch-empiristischen Wissenschaftsideals in den Gesellschaftswissenschaften diagnostiziert, in: Shapiro, a.a.O., S. 23ff.} Dem Neupositivismus geht es vielmehr darum, dass Erkenntnis nur möglich ist, wenn sich Kriterien anführen lassen, die es erlauben, die Richtigkeit oder Falschheit von Behauptungen festzustellen.\footnote{Vgl. Richard von Mises: Kleines Lehrbuch des Positivismus. Einführung in die empiristische Wissenschaftsauf\/fassung, Frankfurt am Main 1990 (zuerst: Den Haag 1939), S. 135ff. -- Ob Voegelins Kritik tatsächlich auch auf den Neupositivismus, wie er vom Wiener Kreis um Moritz Schlick entwickelt wurde, abzielt, lässt sich der Darstellung in der "`Neuen Wissenschaft der Politik"' nicht unmittelbar entnehmen. Aber schwerlich kann Voegelin nur Auguste Comte im Auge haben, der zu der Zeit, als die "`Neue Wissenschaft der Politik"' erschien, in der philosophischen und wissenschaftlichen Diskussion keine Rolle mehr spielte. (Vgl. Robert A. Dahl: The Science of politics: New and Old, in: World Politics Vol. VII (April 1955), S. 484-489.)} Nur dann lässt sich überhaupt zwischen echter Erkenntnis und bloßer Meinung unterscheiden. Zumindest bezogen auf wissenschaftliche Erkenntnis ist kaum zu bestreiten, dass diese Forderung berechtigt ist, wobei allerdings über die erforderliche Strenge der Prüfungskriterien unterschiedliche Auf\/fassungen bestehen können. Die Bemerkungen, die Voegelin zu dem Problem der Überprüfung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der "`Neue[n] Wissenschaft der Politik"' fallen lässt, sind wenig erhellend. Sie besagen kaum mehr, als dass die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung die Erwartungen des Wissenschaftlers erfüllen müssen.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.23. Voegelin äußert sich dort mit Worten wie diesen: "`Wenn die Methode das anfangs nur trübe Geschaute zu wesenhafter Klarheit gebracht hat, dann war sie adäquat; ..."'. -- Interessanterweise kritisiert Voegelin eben diesen Grundsatz, dass die Wahrheit der Prämissen durch das Ergebnis der Untersuchung gerechtfertigt wird, einige Jahre später bei Hegel auf das Schärfste. Vgl. Eric Voegelin: Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959, im folgenden zitiert als: Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, S. 55.} Dies garantiert jedoch noch keine Erkenntnis und könnte schlimmstenfalls sogar auf die bloße Bestätigung der Vorurteile des Forschers hinauslaufen. Ist Voegelins Kritik des Positivismus daher zwar in mancher Hinsicht unzulänglich, so wird in diesem Zusammenhang doch zumindest seine Grundintention deutlich, die auf die Schaffung der Politikwissenschaft als einer umfassenden Ordnungswissenschaft zielt, welche sich auch den Wert- und Sinnfragen nicht verschließt. Wie sieht nun diese umfassende Ordnungswissenschaft aus? \subsection{Politikwissenschaft als Ordnungswissenschaft} Voegelin verfolgt mit seiner Politikwissenschaft sowohl eine rein theoretische als auch eine normative Absicht. Zum einen stellt er Prinzipien zur Analyse bestehender politischer Ordnungen auf, zum anderen glaubt er, Kriterien angeben zu können, mit denen über den Wert einer politischen Ordnung objektiv entschieden werden kann. Beidem liegt jedoch ein und dieselbe dogmatische Vorstellung vom Wesen politischer Ordnung zu Grunde: Politische Ordnung ist Voegelin zufolge stets ein Abbild der Seinsordnung, wie sie von der jeweiligen Gesellschaft in spiritueller Erfahrung erlebt wird. \subsubsection{"`Artikulation"' und "`Repräsentation"' als Grundfunktionen politischer Ordnung} Im Zentrum des nicht-normativen Teils des politikwissenschaftlichen Programms der "`Neuen Wissenschaft der Politik"' stehen die Begriffe der Artikulation, der Repräsentation und der Erfahrung. Unter Artikulation versteht Voegelin den Prozess der Entstehung einer politischen Gesellschaft. Voegelin spricht auch davon, dass sich eine Gesellschaft "`zur historischen Existenz"' artikuliert.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 61., S. 67.} Den Ausdruck "`Artikulation"' gebraucht Voegelin deshalb, weil die Symbole, mit denen eine Gesellschaft ihr Selbstverständnis ausdrückt, in seinen Augen bereits einen wesentlichen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausmachen und dadurch die politische Gemeinschaft recht eigentlich erst hervorbringen.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 50.} Voegelin bezeichnet diesen Komplex von Symbolen, die das Selbstverständnis einer Gesellschaft ausdrücken, auch als "`Symbolismus"'.\footnote{Der Ausdruck "`Symbolismus"' könnte an Ernst Cassirers "`Philosophie der symbolischen Formen"' angelehnt sein. Auch Cassirer hält die Fähigkeit, Symbole zu bilden, für eine menschliche Leistung {\it sui generis} und betrachtet den Begriff der "`symbolischen Form"' daher als einen irreduziblen Grundbegriff der Humanwissenschaften, ohne allerdings so weitreichende Konsequenzen zu ziehen wie Voegelin. Vgl. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, S. 49.} In dem Ausdruck "`Artikulation"' klingt darüber hinaus etwas von Voegelins spezifischem Verständnis von politischer Ordnung an. Voegelin zufolge äußern die politischen Gesellschaften nicht bloß irgendein beliebiges Selbstverständnis, sondern durch ihre Ordnung "`artikulieren"' sie zugleich ihr Verständnis der Ordnung des Seins.\footnote{In der "`History of Political Ideas"' spricht Voegelin noch etwas plastischer von "`Evokation"'. (Vgl. Voegelin, "`Introduction"' zur "`History of Political Ideas"', S. 23ff.) Möglicherweise erschien Voegelin der Ausdruck "`Evokation"' später zu relativistisch, indem dieses Wort suggeriert, dass die "`evozierte"' Realität ein gesellschaftliches Artefakt ist und nicht Ausdruck von spirituellen Erfahrungen.} Zur Artikulation, d.h. zur Entstehung und Erhaltung einer politischen Gesellschaft gehört aber auch eine Form herrschaftlicher Organisation dieser Gesellschaft. Diesen Aspekt beschreibt Voegelin mit dem Begriff der Repräsentation. Unter Repräsentation versteht Voegelin, abweichend von der im politikwissenschaftlichen Kontext üblichen Bedeutung von Repräsentation als demokratischer Volksvertretung, eine herrschaftliche Vertretung beliebiger Art im politischen Handeln der Gesellschaft.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 60 unten, S. 61 oben, wo sehr deutlich wird, dass Voegelin mit "`Repräsentation"' eigentlich eher Herrschaft als Repräsentation im Sinne einer ganz bestimmten, nämlich demokratischen Form der Herrschaftsbestellung meint. -- Die Verworrenheiten von Voegelins Repräsentationsbegriff sind mit größter Klarheit von Hans Kelsen aufgedeckt worden. Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 29-76. -- Vgl. auch Arnold, Nachwort zu Kelsens Voegelin-Kritik, S. 122ff.} Voegelin unterscheidet drei Ebenen der Repräsentation: deskriptive Repräsentation, existenzielle Repräsentation und transzendente Repräsentation. Unter deskriptiver Repräsentation versteht Voegelin ein beliebiges System institutioneller Regelungen, welches handlungsbevollmächtigte Vertreter einer politischen Gemeinschaft hervorbringt. Ausgeschlossen bleiben auf dieser Ebene noch Fragen wie die nach der Legitimität, Effizienz und auch der tieferen Wahrheit eines solchen Systems.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 57. -- Auch wenn Voegelin es anfangs so erscheinen lässt, deckt sich sein Begriff deskriptiver Repräsentation nicht mit dem in der (westlichen) Politikwissenschaft üblichen Begriff von Repräsentation, denn das herkömmliche Verständnis von Repräsentation umfasst auch den Legitimitätsaspekt und beschränkt den Begriff andererseits auf die demokratische Repräsentation, so dass es ein klarer Missbrauch dieses Ausdruckes wäre, so wie Voegelin es tut, im Falle des Sowjetsystems von repräsentativer Regierung zu reden. Vgl. dazu Kelsen, A New Science of Politics, S. 41.} Von existenzieller Repräsentation spricht Voegelin, wenn eine "`deskriptive Repräsentation"' vorliegt, durch die eine Herrschaft hervorgebracht wird, deren Anordnungen Gehorsam finden und die in der Lage ist, die vitalen Bedürfnisse einer politischen Gesellschaft (also Schutz nach außen und Sicherheit im Inneren) zu garantieren. Der Begriff entspricht weitgehend dem, was man üblicherweise eine legitime Herrschaft nennt.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 77.} Bis zu diesem Punkt bietet Voegelin, abgesehen von seiner eigenwilligen Terminologie, nichts Ungewöhnliches. Ein grundlegend neuer Aspekt tritt jedoch mit der dritten Bedeutungsebene von Voegelins Repräsentationsbegriff, der "`transzendenten Repräsentation"', hinzu. Die transzendente Repräsentation bezieht sich nicht mehr nur auf Regierung und Herrschaft, sondern auf die politische Ordnung einer Gesellschaft im Ganzen. Alle politischen Gesellschaften halten ihrem Selbstverständnis nach ihre eigene politische Ordnung für die wahre Ordnung. Voegelin fasst dies so auf, dass die politischen Gesellschaften durch ihre politische Ordnung eine höhere Wahrheit repräsentieren.\footnote{Vgl. Voegelin, S. 81ff.} So glaubten etwa die Menschen in Mesopotamien oder im alten Ägypten, dass sich in ihrer politischen Ordnung die Ordnung des Kosmos widerspiegele bzw. fortsetze. Doch ist dies nicht die einzige Möglichkeit der Wahrheitsrepräsentation. In Platons idealem Staat etwa repräsentiert die politische Ordnung eine Wahrheit, derer der Philosoph im Inneren seiner Seele gewahr wird. Voegelin sieht deshalb im Auftreten Platons den Durchbruch zu einem neuen Typus von transzendenter Repräsentation.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 93.} \subsubsection{Der Begriff der "`Erfahrung"' als Zentralbegriff von Voegelins Theorie politischer Ordnung} Eine zentrale Stellung kommt in diesem Zusammenhang dem Begriff der Erfahrung zu. Die Wahrheit, die die politischen Gesellschaften repräsentieren, beruht nach Voegelins Ansicht auf einer spirituellen Erfahrung der Ordnung des Seins. Dieser Begriff der Erfahrung verlangt auf Grund seiner großen Bedeutung für Voegelins Verständnis von politischer Ordnung eine etwas eingehendere Untersuchung.\footnote{Zur Genese des Begriffes der Erfahrung im Werk Eric Voegelins: Vgl. Peter J. Opitz: Rückkehr zur Realität: Grundzüge der politischen Philosophie Eric Voegelins, in: Peter J. Opitz / Gregor Sebba (Hrsg.): The Philosophy of Order. Essays on History, Consciousness and Politics, Stuttgart 1981, S. 21-73.} Erfahrung spielt bereits in Voegelins frühesten Schriften eine Rolle, in welchen der Nachvollzug der seelischen Hintergründe und motivierenden Erfahrungen zu den grundlegenden Methoden des Verständnisses philosophischer Texte gehört.\footnote{Deutlich wird dies etwa in: Eric Voegelin: On the Form of the american Mind, Baton Rouge / London 1995, S. 23ff.} Voll entfaltet und für das Verständnis politischer Ordnungen fruchtbar gemacht wird dieser Begriff jedoch erst mit "`Order and History"'. Der Begriff der Erfahrung ist nicht nur einer der wichtigsten Begriffe bei Voegelin, sondern angesichts der in ihn eingehenden theoretischen Voraussetzungen zugleich auch einer der anspruchsvollsten Begriffe Voegelins. Um Verwechselungen zu vermeiden, soll zunächst geklärt werden, was "`Erfahrung"' bei Voegelin nicht bedeutet: "`Erfahrung"' bedeutet bei Voegelin nicht wissenschaftliche Empirie. Die wissenschaftliche Empirie bezieht sich auf deutlich abgrenzbare und klar beschreibbare Sinneserfahrungen. Erfahrung im Sinne Voegelins meint dagegen eher ein schwer fassbares inneres Erleben. Zwar spricht Voegelin an einer Stelle davon, dass man sich zur empirischen Überprüfung auf die Erfahrung zu beziehen habe, aber dies geschieht wohl vornehmlich aus dem Wunsch heraus, seinen eigenen Begriff von Erfahrung an die Stelle der wissenschaftlichen Empirie treten zu lassen, und nicht weil diese beiden Begriffe irgendetwas gemeinsam hätten.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.96.} Dass die Erfahrungen, von denen Voegelin spricht, ihrerseits nicht als Kriterium für die Überprüfung wissenschaftlicher Theorien taugen, wird besonders daran deutlich, dass Voegelin zwar einerseits von einer Überprüfung an der Erfahrung spricht, dass dann aber, wenn sich bei bestimmten Menschen die Erfahrungen, die er meint, nicht einstellen, die Betreffenden kurzerhand für verstockt und ihre Erfahrungen für deformiert erklärt werden.\footnote{Vgl. auch Ted V. McAllister: Revolt against modernity. Leo Strauss, Eric Voegelin \& the Search For a Postliberal Order, Kansas 1995, S. 172. (McAllister scheint das Problematische an Voegelins Erfahrungsbegriff freilich nicht recht zu sehen.)} Unter solchen Bedingungen ist eine Überprüfung anhand der Erfahrung natürlich ausgeschlossen. Weiterhin meint Voegelin (um auch dieses mögliche Missverständnis auszuschließen), wenn er von "`Ordnungserfahrung"' spricht, niemals den Komplex täglicher Lebenserfahrungen, die wir in einer geordneten gesellschaftlichen Umwelt haben. Dies würde Voegelins Konzeption geradezu auf den Kopf stellen, denn für Voegelin resultiert die gesellschaftliche Ordnung aus der Ordnungserfahrung und nicht umgekehrt. Was bedeutet aber nun "`Erfahrung"', wenn es sich nicht um Sinneserfahrungen handelt? Mit "`Erfahrung"' meint Voegelin hauptsächlich ein bestimmtes inneres Erleben mystisch-religiöser Art. Diese Erfahrung existiert in unterschiedlichen Varianten. So unterscheidet Voegelin die Erfahrungen hinsichtlich ihres Niveaus nach kompakten und differenzierten Erfahrungen. Auf dem kompakten Erfahrungsniveau, welches vor allem für die älteren kosmologischen Gesellschaften charakteristisch ist, ist die Erfahrung als inneres Erlebnis noch gar nicht bewusst und unauflöslich mit dem allgemeinen Daseinsgefühl verwoben. Der Gegensatz "`kompakt-differenziert"' wird bei der Darstellung von Voegelins Geschichtsphilosophie noch genauer erörtert werden. Es sei nur soviel vorweggenommen, dass Voegelin an eine historische Entwicklungstendenz hin zu immer differenzierteren Erfahrungen glaubte. Obwohl nämlich die Erfahrung als inneres Erlebnis eine höchst individuelle, ja geradezu intim persönliche Angelegenheit darstellt, ist sie dennoch durch ein erstaunliches Maß von gesellschaftsinterner Einförmigkeit gekennzeichnet. Alle Individuen einer Gesellschaft haben bei Voegelin offenbar die gleichen seelischen Erlebnisse, solange bis ein Prophet oder Philosoph kommt und ihnen eine neue Art des seelischen Empfindens nahe bringt.\footnote{Nicht eindeutig lässt sich übrigens die Frage klären, ob und wodurch sich bei Voegelin die Erfahrung des Propheten von den Erfahrungen seiner Anhänger unterscheidet: Gibt es (1.) keinen Unterschied oder besteht (2.) bloß ein Unterschied der Intensität oder liegt (3.) auch hier ein Unterschied der Differenziertheit vor? Für das Letztere spricht, dass es bei Voegelin gelegentlich den Anschein hat, als sei nur eine gesellschaftliche Elite starker Seelen der differenziertesten Erfahrung fähig. Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 172-174. Die Theorie, die Voegelin an dieser Stelle vertritt, ist übrigens in jeder Hinsicht unglaubwürdig: 1. Unsicherheit ist -- anders als Voegelin behauptet -- gewiss nicht das Wesen des Christentums. Jeder christliche Priester wird uns ganz im Gegenteil bestätigen, dass gerade der Glaube der unsicheren, zufälligen und schutzlosen Existenz des Menschen Halt und Sicherheit zu geben vermag. (Vgl. dazu auch Kelsen, A New Science of Politics, a.a.0., S. 87/88.) 2. Die Annahme, dass die gnostischen Turbulenzen des Mittelalters und der Neuzeit ursprünglich dadurch verursacht wurden, dass mit der Ausbreitung und Zunahme höherer Bildung im Zuge der Verstädterung im Spätmittelalter zunehmend auch Unberufene mit der vollen und, wie Voegelin glaubt, nur für ganz starke Seelen erträglichen Wahrheit des Christentum in Berührung kommen, kann man kaum ernst nehmen. Möglicherweise entspringt der Geistes- und Seelenaristokratismus, der dabei zum Ausdruck kommt, Voegelins Beschäftigung mit den Schriften des George-Kreises in den 20er und 30er Jahren. Zu Voegelins George-Rezeption vgl. Thomas Hollweck: Der Dichter als Führer. Dichtung und Repräsentanz in Voegelins frühen Arbeiten, München 1996.} Wenn die Erfahrung ein inneres Erleben ist, so stellt sich die Frage, was dort eigentlich erlebt wird. Was ist der Inhalt der Erfahrung? Dies ist eine Frage, bei deren Beantwortung auch Voegelin vor großen Schwierigkeiten stand. Oberflächlich könnte der Eindruck entstehen, dass je nach historischem Erfahrungsniveau unterschiedliche Dinge erfahren werden: In der kosmischen Erfahrung wird der Kosmos erfahren, auf differenzierterem Erfahrungsniveau dagegen wird die Transzendenz erfahren.\footnote{Siehe dazu auch Fußnote \ref{FNErfahrung}.} Aber Voegelin wollte es nicht bei einem unvermittelbaren Gegensatz zwischen den verschiedenen Erfahrungstypen bewenden lassen. In seinen Augen ist die Erfahrung der Transzendenz schon auf kompaktem Niveau unbewusst mitgegenwärtig. Will man die übergreifenden Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Erfahrungstypen herausstellen, so lässt sich in etwa festhalten, dass nach Voegelins Vorstellung in jedem Falle das Sein im Ganzen und die Stellung des Menschen im Sein erfahren wird, nur dass auf kompaktem Erfahrungsniveau das Sein als sinnhaft geordneter Kosmos erlebt wird, während es auf differenziertem Niveau als Stufenfolge immanenter und transzendenter Seinsstufen erfasst wird. Entscheidend ist, dass in jedem Falle die ontologische Ordnung ein und desselben Seins erfahren wird.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 305.} \subsubsection{Von der Ordnungserfahrung zur politischen Ordnung} Die Beziehung zwischen Erfahrung und Ordnung stellt sich bei Voegelin in der Weise dar, dass die spirituelle Erfahrung die Quelle der politischen Ordnung ist. Man könnte etwas überspitzt sagen, dass bei Voegelin die Erfahrung die Basis bildet, während die politischen Ideen und Institutionen den Überbau verkörpern, wobei Voegelin allerdings nicht gänzlich leugnet, dass es auf der Ebene pragmatischer Politik auch Probleme gibt, deren Lösung weitgehend unabhängig von dem ist, was sich auf der spirituellen Basis-Ebene abspielt. Ordnung existiert dabei auf insgesamt drei Ebenen: Als Ordnung des Seins, als Ordnung der Seele und als Ordnung der Gesellschaft.\footnote{Als viertes könnte noch die "`Ordnung der Geschichte"' hinzugefügt werden, die in der Regel allerdings keine Voraussetzung der politischen Ordnung einer Gesellschaft darstellt (außer m.E. in dem denkbaren Fall sich selbst primär geschichtlich legitimierender Gesellschaften), sondern sich für Voegelin umgekehrt aus der Abfolge politischer Ordnungen in der Geschichte ergibt.} Die Reihenfolge dieser Ordnungen ist nicht umkehrbar: Zunächst existiert die Ordnung des Seins. Diese wird vom Menschen erfahren und verleiht ihm dadurch eine Ordnung der Seele, welche sich wiederum auf die Ordnung der Gesellschaft auswirkt. Voegelin scheint es für ausgeschlossen zu halten, dass es zu diesem Weg, eine Ordnung der Seele und eine Ordnung der Gesellschaft zu erlangen, eine legitime Alternative gibt.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 349.} Es handelt sich dabei um einen der vielen dogmatischen Grundsätze von Voegelins Theorie, die er voraussetzt aber niemals begründet. Die Ordnungserfahrungen unterschiedlicher Kulturen sind nun allerdings häufig höchst gegensätzlich beschaffen und stehen oft in unvereinbarem Gegensatz zueinander.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 86-90.} Voegelin hält es dennoch für möglich, politische Ordnungen nach ihrer Wertigkeit zu unterscheiden.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 91.} Maßstab hierfür sind nicht irgendwelche moralischen Ideale, etwa Humanität oder Gerechtigkeit, sondern die spirituelle Erfahrung selbst. Hieraus ergibt sich die normative Zielsetzung. Um zur normativ richtigen politischen Ordnung zu gelangen, ist es erforderlich, eine spirituelle Empfindsamkeit auf höchstem Niveau zu kultivieren, was Voegelin in Anlehnung an Henri Bergson als das "`Öffnen der Seele"' bezeichnet.\footnote{Vgl. Henri Bergson: Die beiden Quellen der Moral und der Religion, Olten 1980, S. 33-36. Bei Voegelin wird das "`Öffnen der Seele"' im Gegensatz zu Bergson jedoch eher sensitiv als schöpferisch gedacht.} Dieses "`Öffnen der Seele"' ermöglicht es, die Ordnung des Seins angemessen zu erfahren und dadurch einen "`autoritativ"' gültigen Maßstab für die richtige politische Ordnung zu gewinnen.\footnote{Vgl. Voegelin, Order and History II, S. 6/7.} \subsubsection{Probleme der Voegelinschen Konzeption politischer Ordnung} An dieser Stelle steht die normative Konzeption Voegelins vor einem schwierigen Problem: Wie kann gültig zwischen richtiger und falscher Erfahrung von der Ordnung des Seins unterschieden werden? In der "`Neuen Wissenschaft der Politik"' gibt Voegelin auf diese Frage keine zufriedenstellende Antwort. Der Hinweis auf das unterschiedliche, kompakte oder differenzierte Niveau von Erfahrungen hilft kaum weiter, da gerade das Niveau aus der jeweiligen Sicht der unterschiedlichen Erfahrungen gegensätzlich beurteilt werden dürfte.\footnote{Das Problem der Relativität der Wertungen wird von Voegelin zwar öfters angesprochen und manchmal auch eine Weile verfolgt (z.B. anlässlich der Interpretation von Aristoteles in: Eric Voegelin: Order and History. Volume Three. Plato and Aristotle, Baton Rouge / London 1986 (zuerst: 1957), im folgenden zitiert als: Voegelin, Order and History III, S.299-302.), aber niemals glaubhaft gelöst.} Zweifelhaft ist auch Voegelins Voraussetzung, dass es eine Ordnung des Seins gibt, die jenseits naturgesetzlicher Bestimmtheit einen sinnhaften Zusammenhang der Dinge herstellt. Selbst wenn eine solche Ordnung des Seins objektiv vorhanden wäre, so ist noch längst nicht geklärt, ob diese Ordnung des Seins auch dazu geeignet ist, die Grundlage der politischen Ordnung einer Gesellschaft abzugeben. Woher können wir die Sicherheit nehmen, dass die Normen, die aus der Ordnung des Seins abgeleitet sind, moralisch akzeptabel und mit den praktischen Erfordernissen der Politik verträglich sind? Ohne eine schlüssige Antwort auf diese Frage dürfte Voegelins normatives Programm, welches die Revitalisierung eines spirituell-religiös eingebundenen Politikverständnisses in der heutigen Zeit anstrebt, kaum bei der Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Praxis hilfreich sein. Aber nicht nur die normative Seite von Voegelins politikwissenschaftlichem Ansatz bereitet Schwierigkeiten. Auch Voegelins analytische Konzeption ruht auf einer Reihe von sehr anspruchsvollen und längst nicht restlos geklärten Voraussetzungen. Schon die Annahme, dass alle politischen Ordnungen auf einer metaphysischen Erfahrung der Ordnung des Seins beruhen müssen, fordert Widerspruch heraus, denn offensichtlich kommen die liberalen Demokratien ohne eine derartige Grundlage aus. Voegelin versucht diese Tatsache zu leugnen, indem er entweder die Situation des Liberalismus als höchst gefährdet und prekär darstellt, weil ihm eine solche Grundlage fehlt,\footnote{Vgl. Eric Voegelin: Der Liberalismus und seine Geschichte, in: Karl Forster (Hrsg.): Christentum und Liberalismus, München 1960, S. 13-42 (S. 35-42).} oder den liberalen Demokratien unterstellt, in verschleierter Form (als "`common sense"') doch ein solches metaphysisches Ordnungswissen zu konservieren.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 352-354. Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 259.} Hier zeigt sich wiederum die an Voegelins spirituellem Erfahrungsbegriff zu Tage getretene erkenntnistheoretische Gefahr des normativ-ontologischen Ansatzes. Wird nämlich ein und dieselbe Theorie zur Sacherklärung wie zur normativen Kritik verwandt, so liegt es nahe, diejenigen Fälle, die der Theorie widersprechen könnten, nicht als falsifizierende Gegenbeispiele in Betracht zu ziehen, sondern als illegitime Fälle der normativen Kritik zu unterwerfen.\footnote{Dies wird auch besonders an Voegelins Behandlung der Philosophiegeschichte deutlich. Philosophien, die Voegelin nicht als Artikulation von Seinserfahrungen deuten kann, verwirft er in der Regel als törichte oder gefährliche Abirrungen.} Darüber hinaus wirft Voegelins Erfahrungsbegriff als methodisches Analysewerkzeug einige Probleme auf. Die Aufgabe des Verstehens politischer Ordnung besteht für Voegelin darin, in die Erfahrungen der entsprechenden Gesellschaft oder, wenn es sich um die Untersuchung einer politischen Theorie handelt, in die Erfahrung des entsprechenden Theoretikers einzudringen. Voegelin unterscheidet dieses Eindringen in die motivierenden Erfahrungen klar von der bloßen Rekonstruktion einer Theorie auf der Ebene der politischen Ideen.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 115-117, S. 176. -- Auf Seite 176 schreibt Voegelin: "`Es wird .. nicht überflüssig sein, sich des Prinzips zu erinnern, daß die Substanz der Geschichte auf der Ebene der Erlebnisse, nicht auf der Ebene der Ideen zu finden ist"'.} Die Ideen sind nur die Oberfläche, während die Erfahrungen das seelische Innere repräsentieren, auf das es eigentlich ankommt. Um also beispielsweise die politische Theorie Platons zu verstehen, genügt es nicht zu untersuchen, welche Institutionen und Gesetze Platon vorschlägt. Vielmehr ist danach zu fragen, welche motivierenden inneren Erlebnisse Platons Denken zu Grunde liegen. Aber wie kann man den seelischen Erfahrungshintergrund einer Theorie sicher rekonstruieren? Das Verfahren, welches Voegelin zur Ergründung der Erfahrungen anwendet, scheint eines der Innervation mit anschließender Selbstauslegung zu sein. Naturgemäß sind daher die Ergebnisse, zu denen Voegelin gelangt, stark subjektiv gefärbt. So findet Voegelin beispielsweise bei Thomas von Aquin die tiefste und reinste Transzendenzerfahrung, während er der Reformation eine echte Erfahrungsgrundlage offenbar nicht in gleichem Maße zubilligen will.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 188.} Oft lässt sich bereits die Auswahl der von Voegelin als relevant eingestuften und zur Deutung herangezogenen Quellen nicht ohne weiteres nachvollziehen. Indessen muss eingeräumt werden, dass die Beweggründe des Handelns und Denkens von Menschen in der Tat häufig in inneren seelischen Regungen bestehen, die als solche niemals nach außen dringen, so dass man in derartigen Fällen entweder auf jede Chance des Verstehens ganz verzichten oder einen Versuch auf dem unsicheren Wege psychologischer Einfühlung wagen muss. Nur bleibt es dann immer noch grundsätzlich fragwürdig, ob für das Verständnis einer Theorie das Verständnis des Theoretikers und seiner Motive überhaupt eine notwendige Voraussetzung bildet. Die Wahrheit oder Falschheit einer Theorie entscheidet sich schließlich nicht an den Motiven des Erfinders der Theorie. % \footnote{Für Voegelin gelten als vollwertige politische Theorien von % vornherein nur diejenigen Theorien, die als Ausdruck von % Transzendenzerlebnissen verstanden werden können. Unter dieser Vorgabe % wären die seelischen Hintergründe in der Tat relevant.} Im Ganzen beruht Voegelins politikwissenschaftliches Paradigma mit seiner starken Betonung der religiös-mystischen Erfahrung in hohem Maße auf bewusstseinsphilosophischen oder sogar theologischen Voraussetzungen. Dass es Voegelin kaum gelingt, diese Voraussetzungen hinreichend plausibel zu begründen, wird auch bei der Analyse seiner Bewusstseinsphilosophie in Kapitel \ref{VoegelinsBewusstseinsphilosophie} deutlich werden. \section{Voegelins Geschichtsdeutung} Eine sehr große Bedeutung misst Voegelin der Geschichte und der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz bei. Voegelin folgt damit nicht nur einer Mode seiner Zeit, sondern die Untersuchung der historischen Entwicklung der politischen Ordnungsvorstellungen bildet neben der Erfahrungsanalyse auch einen wichtigen Bestandteil von Voegelins Methode des Verständnisses politischer Ordnungsvorstellungen. Eine politische Ordnungsvorstellung verstehen heißt bei Voegelin, ihre motivierenden Erfahrungen aufzudecken und sie auf ihre historische Urform zurückzuführen. Um ein vollständiges Bild von Voegelins politischem Denken zu geben, ist es daher unerlässlich, auch auf seine Geschichtsdeutung einzugehen. Dabei soll die Darstellung von Voegelins Geschichtsphilosophie, d.h. seiner Grundvorstellung vom Ablauf und der Bedeutung der Geschichte im Vordergrund stehen. Voegelin hat seine Geschichtsdeutung neben der "`History of Political Ideas"' vor allem in den fünf Bänden von "`Order and History"', seinem eigentlichen wissenschaftlichen Hauptwerk, entfaltet.\footnote{Angaben im Literaturverzeichnis.} Die philosophischen Grundlagen dieser Geschichtsdeutung legt Voegelin dabei insbesondere in den Einleitungen zu den Einzelbänden dar. "`Order and History"' lässt sich am ehesten als eine Geschichte der spirituellen Entwicklung der Menschheit in theologischer Absicht charakterisieren. Um eine Geschichte der spirituellen Entwicklung handelt es sich, weil Voegelin sich darin fast ausschließlich der Deutung von religiösen und (stets spirituell interpretierten) philosophischen Weltauf\/fassungen widmet, während der Zusammenhang dieser Weltauf\/fassungen mit der gesellschaftlichen und institutionellen Ordnung nur am Rande behandelt wird. Von einer theologischen Absicht bei diesem Unternehmen kann man deshalb sprechen, weil Voegelin sich nicht darauf beschränkt, die unterschiedlichen religiösen Vorstellungswelten darzustellen, sondern das Ziel verfolgt aufzuzeigen, wie sich aus der geistigen Entwicklung der Menschheit nach und nach so etwas wie spirituelle Wahrheit herausschält. Diese Geschichtsdeutung wird von Voegelin durch eine zum Teil an anderer Stelle dargelegte historische Metaphysik überwölbt, nach welcher die Geschichte als ein theogonischer Prozess aufzufassen ist, in dessen Verlauf sich ein transzendentes ewiges Sein in der Zeit verwirklicht, indem es über das Medium des menschlichen Bewusstseins in die Immanenz eindringt.\footnote{Zu Voegelins Geschichtsphilosophie: Vgl. Eugene Webb: Eric Voegelin. Philosopher of History, Seattle and London 1981. -- Vgl. Jürgen Gebhardt: Toward the process of universal mankind: The formation of Voegelin's philosophy of history, in: Ellis Sandoz (Hrsg.): Eric Voegelins Thought. A critical appraisal, Durham N.C. 1982, S. 67-86.} \subsection{Geschichte als Geschichte der spirituellen Entwicklung der Menschheit} Voegelins Geschichtsphilosophie ist im wesentlichen die einer Entwicklungs- und Fortschrittsgeschichte. Anders als die Fortschrittsgeschichten beispielsweise der Aufklärer ist Voegelins Fortschrittsgeschichte jedoch eine Geschichte des spirituellen und nicht des moralischen oder technischen Fortschritts. Dieser Geschichte des spirituellen Fortschritts liegt allerdings ein ahistorischer Kern in Form einer religiös-existenzialistischen Metaphysik zu Grunde, die Voegelins Auf\/fassung von der existenziellen Situation des Menschen widerspiegelt: Der Mensch findet sich in einer Welt wieder, deren Sinn er nicht kennt. Er ist sich zwar dunkel bewusst, dass er in dieser Welt eine Rolle zu spielen hat, die er nicht selbst bestimmen darf, dennoch weiß er nicht, was für eine Rolle dies ist. Anfänglich kann er diese Rolle nur schwach ahnen, doch er glaubt, dass sie etwas mit der Ordnung des Seins zu tun hat.\footnote{Vgl. Voegelin, Order and History I, S. 1/2.} Das Trachten des Menschen zielt nun darauf ab, diese Ordnung zu finden und seine eigene Existenz sowie die Ordnung der Gesellschaft in Einklang mit ihr zu bringen, weil er hofft, dadurch seiner flüchtigen Existenz etwas mehr Dauerhaftigkeit zu verleihen. Die Suche nach der Ordnung des Seins bestimmt nun die Entwicklung der Geschichte. Die Dynamik dieser Entwicklung entspringt den wechselnden Auf\/fassungen davon, was die richtige Ordnung des Seins ist. Da der Mensch die wahre Ordnung des Seins nur ahndungsvoll spüren kann, ist es ihm nicht möglich, seiner Auf\/fassung von der richtigen Ordnung anders Ausdruck zu verleihen als dadurch, dass er sein Gefühl der Ordnung bzw. seine Ordnungserfahrung durch Analogien in Symbole fasst. Aus den solcherart artikulierten Ordnungsauf\/fassungen bestehen die bereits erwähnten Symbolismen. In der geschichtlichen Abfolge der Symbolismen glaubt Voegelin nun einen Fortschritt erkennen zu können, der, wie Voegelin es nennt, von "`kompakteren"' zu "`differenzierteren"' Symbolismen führt.\footnote{\label{FNErfahrung} Die Einleitung von Order and History I legt die Auf\/fassung nahe, dass es stets dieselbe Seinserfahrung ist, die nur unterschiedlich vollkommen artikuliert wird. (Vgl. Voegelin, Order and History I, S.1-11.) Im Schlusskapitel von "`Anamnesis"' unterscheidet Voegelin dann unterschiedlich differenzierte Ordnungserfahrungen. Nur das Sein (bzw. die Realität) bleibt dasselbe, und sogar dies gilt nur unter Einschränkungen. (Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 286ff.)} Der Fortgang von einem Symbolismus zum nächsten tritt oft plötzlich und sprunghaft infolge neuer spiritueller Erlebnisse einzelner Personen ein, die Voegelin als "`spirituelle Ausbrüche"' bezeichnet und die sich von den Menschen, denen sie widerfahren, auf den Rest der Gesellschaft übertragen (sofern dieser nicht gerade an einer törichten Verstocktheit leidet). Wenn der Übergang sehr plötzlich eintritt und der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Symbolismus besonders groß ist, dann spricht Voegelin von einem "`Sprung im Sein"'.\footnote{Vgl. Voegelin, Order and History I, S. 123. Dort definiert Voegelin den Begriff "`Sprung im Sein"' als die "`Entdeckung des transzendenten Seins als die Quelle der Ordnung im Menschen und der Gesellschaft"' (meine Übersetzung, E.A.). Nach dieser Definition dürfte es (wenigstens innerhalb der Geschichte einer Zivilisation) eigentlich nur einen einzigen "`Sprung im Sein"' geben. Allerdings gebraucht Voegelin den Ausdruck auch häufig als Synonym für "`spiritueller Ausbruch"'.} Ein solcher "`Sprung im Sein"' fand zum Beispiel statt, als Moses das Volk Israel aus Ägypten führte, denn dabei wurde -- abgesehen davon, dass dieses Ereignis die Geburtsstunde des Monotheismus war -- der kosmische Symbolismus, welcher typischerweise mit einer zyklischen Geschichtsauf\/fassung verbunden ist, durch den völlig neuartigen {\em historischen Symbolismus} ersetzt.\footnote{Vgl. Voegelin, Order and History I, S. 116ff.} Später hat Voegelin diese Auf\/fassung allerdings teilweise revidiert, nachdem er festgestellt hatte, dass unabhängig von diesem einmaligen Ereignis auch andere Völker auf die Idee gekommen waren, die Geschichte nicht nur zyklisch zu betrachten.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 79ff. -- Vgl. Eric Voegelin: Order and History. Volume Four. The Ecumenic Age, Baton Rouge / London 1986 (zuerst: 1974), im folgenden zitiert als: Voegelin, Order and History IV, S. 7-13.} Weitere wichtige Übergänge sind für Voegelin unter anderem die Entwicklung vom Judentum zum Christentum und der Übergang von der Mythologie zur Philosophie im antiken Griechenland. Wenn Voegelin in diesen Übergängen einen Fortschritt sieht, so stellt sich natürlich die Frage, was die nachfolgenden Symbolismen gegenüber den vorhergehenden als überlegen auszeichnet. Warum ist die mosaische Religion der ägyptischen überlegen, und was verleiht dem Christentum vor dem Judentum den Vorzug, fortschrittlicher zu sein? Voegelin versucht meist, solche Wertungen mit der Behauptung der größeren Differenziertheit des seiner Ansicht nach besseren Symbolismus zu begründen. Da dem Konzept der Differenzierung für Voegelins Vorstellung vom Fortschritt (oder auch gelegentlichem Rückschritt) der Geschichte eine zentrale Bedeutung zukommt, soll es etwas ausführlicher untersucht werden. \subsection{Exkurs: Die Begriffe "`Kompaktheit"' und "`Differenzierung"'} \label{KompaktDifferenziert} Das Begriffpaar "`kompakt-differenziert"' ist neben dem Begriff der (spirituellen) Erfahrung ein weiteres großes Feigenblatt der Voegelinschen Geschichtsphilosophie, denn mit diesem Begriffspaar kaschiert Voegelin eine Reihe von Begründungsproblemen, Unklarheiten und fragwürdigen Voraussetzungen. Der Gegensatz "`kompakt-differenziert"' kann zunächst auf einer rein formalen Ebene verstanden werden. Aber es zeigt sich rasch, dass die formale Bedeutung nicht ausreicht, um alle Funktionen dieses Gegensatzpaares zu rechtfertigen. Auf der formalen Ebene bedeutet Differenzierung das Auseinandertreten von zuvor wesensmäßig nicht unterschiedenem Sein in unterschiedliche Seinsklassen. Insbesondere im Auseinandertreten von immanentem weltlichen und transzendentem göttlichen Sein sieht Voegelin einen bedeutenden Differenzierungsfortschritt. In etwas stärkerer Anlehnung an die Bewusstseinsphilosophie kann die Essenz der formalen Bedeutungsebene dieses Begriffspaares in etwa folgendermaßen wiedergegeben werden: Zunächst findet sich der Mensch vor einer verwirrenden Vielfalt von Bewusstseinserlebnissen wieder. Erst nach und nach und unter großen Unsicherheiten lernt der Mensch das Innere vom Äußeren, das Transzendente vom Immanenten und die immanenten Dinge voneinander zu unterscheiden.\footnote{Vgl. Order and History I, S. 3.} Soweit beschreibt der Begriff der Differenziertheit lediglich gewisse phänomenale Eigenschaften von Weltauf\/fassungen. Unzulänglich bleibt der rein formale Differenzierungsbegriff, weil es auf der phänomenalen Ebene oft der Willkür überlassen bleibt, was als kompakt und was als differenziert bezeichnet wird. So vertritt Voegelin beispielsweise die Ansicht, dass der Monotheismus wegen der deutlicheren Erkenntnis des welttranszendenten Charakters des Göttlichen differenzierter ist als der Polytheismus.\footnote{Vgl. Eric Voegelin: Die geistige und politische Zukunft der westlichen Welt (Hrsg. von Peter J. Opitz und Dietmar Herz), München 1996, S. 25.} Aber ebensogut könnte man behaupten, dass der Polytheismus differenzierter ist, weil im Polytheismus die vielfältigen Funktionen des undifferenziert Göttlichen des Monotheismus deutlich auf eine Vielzahl von Göttern verteilt sind. Das Begiffspaar "`kompakt-differenziert"' drückt auf dieser Bedeutungsebene ähnlich wie viele andere abstrakte Begriffspaare (z.B. "`formal-material"') lediglich einen Unterschied aus, ohne diesen zu qualifizieren. Damit die Unterscheidung zwischen kompakten und differenzierten Symbolismen zu wertenden Vergleichen, wie Voegelin sie anstellt, herangezogen werden kann, müssen noch weitere Voraussetzungen erfüllt sein: Die verglichenen Symbolismen müssen sich auf denselben Gegenstand beziehen, damit ein Vergleich stattfinden kann, und es muss ein gültiger Bewertungsmaßstab vorhanden sein, um die Bewertung der Symbolismen durchzuführen. Die Voraussetzung, dass sich die verglichenen Symbolismen auf den gleichen Gegenstand beziehen müssen, ist nicht schon dann erfüllt, wenn beide Symbolismen eine Antwort auf dieselbe Herausforderung geben, etwa auf die Frage nach dem Sinn der Welt oder nach dem Wesen Gottes. An einem Beispiel lässt sich dies verdeutlichen: Voegelin ist der Ansicht, dass die christliche Gnadenlehre gegenüber dem bei Platon und Aristoteles vorherrschenden Gottesverständnis eine Differenzierung darstellt, da bei den griechischen Philosophen Gott bloß Ziel menschlicher Sehnsucht ist, während nach christlichem Verständnis Gott dieser Sehnsucht durch die Gnade auch entgegen kommt.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 113-114.} Gegen dieses Argument liegt freilich der Einwand nahe, dass es sich hier um unterschiedliche Gottesvorstellungen handelt, und dass nach der griechischen Vorstellung Gott nun einmal nicht die Eigenschaft der Gnade besitzt. Das christliche Verständnis scheint also eher eine Modifikation als eine Differenzierung darzustellen. Der Gebrauch des Ausdruckes "`Differenzierung"' kann genaugenommen nur dann als voll gerechtfertigt betrachtet werden, wenn der differenziertere Symbolismus nichts anderes ausdrückt als das, was im kompakteren Symbolismus bereits gemeint aber noch unvollkommen ausgedrückt ist. Es braucht wohl kaum dargelegt werden, dass dies im Einzelfall äußerst schwierig nachzuweisen sein dürfte, sofern man nicht dogmatisch unterstellt, dass ohnehin alle Symbolismen nur denselben vorgegebenen Bestand von Erfahrungen ausdrücken, die genau zu kennen sich der Interpret zudem anmaßen muss.\footnote{Vgl. auch Eugene Webb: Philosophers of Consciousness. Polanyi, Lonergan, Voegelin, Ricoeur, Girard, Kierkegaard, Seatle and London 1988, S. 126ff.} Nicht weniger dunkel bleibt, woher Voegelin die Bewertungsmaßstäbe nimmt, nach denen er die verschiedenen Symbolismen beurteilt. Selbst wenn man bei dem eben angeführten Beispiel einmal annimmt, dass sich beide Gottesvorstellungen nachweisbar auf dieselbe religiöse Erfahrung stützen, so fehlt immer noch jeder Anhaltspunkt, aus dem heraus die christliche Gnadenlehre im inhaltlich-wertenden Sinne als differenzierterer Ausdruck der zugrunde liegenden religiösen Erfahrung beurteilt werden kann als die Gottesvorstellung der griechischen Philosophen. Wie auch bei anderen methodischen Problemen hat es den Anschein, dass Voegelin glaubt, diese Frage im Einzelfall ad-hoc, durch genaues Hinschauen und ein wenig Genialität in evidenter Weise beantworten zu können. \subsection{Der Sinn der Geschichte} Wenn Voegelin Religionen, Philosophien und auch die konkreten politischen Ordnungen als Ausdruck einer Suche nach der Ordnung des Seins deutet, so ist dies nicht bloß die heuristische Voraussetzung eines besonders einfühlsamen Geistesgeschichtlers. Voegelin ist vielmehr fest davon überzeugt, dass es eine objektive, sinngebende und wertvermittelnde höhere Ordnung des Seins gibt. Die Suche nach dieser Ordnung betrachtet Voegelin als das historische Projekt der Menschheit. Durch dieses menschheitliche Projekt der Suche nach Ordnung wird für Voegelin zu allererst die Einheit der Menschheit und der Sinn der Geschichte hergestellt.\footnote{Vgl. Eric Voegelin: Order and History. Volume Two. The World of the Polis, Baton Rouge / London 1986 (zuerst: 1957), im folgenden zitiert als: Voegelin, Order and History II, S.1-7. Auch wenn Voegelin leugnet, dass es einen erkennbaren Sinn der Geschichte geben kann, so scheint Voegelins Geschichtsphilosophie dennoch wenigstens so etwas wie den vorläufigen Sinn der Geschichte beschreiben zu wollen. Anders als auf den Sinn der Geschichte bezogen lassen sich Äußerungen wie die, dass die menschliche Existenz in Gesellschaft eine Geschichte habe, weil sie eine Dimension der Spiritualität habe (Vgl. ebd., S. 2), kaum verstehen. Denn Geschichte im Sinne einer Abfolge wechselnder Gesellschaftszustände gäbe es ja auch ohne die Spiritualität. -- Siehe auch die Anmerkungen zu den kollektivistischen Zügen von Voegelins Geschichtsphilosophie auf Seite \ref{HistorischerKollektivismus} und Seite \ref{KritikHistorischerKollektivismus} dieses Buches.} Voegelin leugnet allerdings entschieden, dass dem Menschen das Ziel der Geschichte bekannt werden kann und dass ihr Ausgang vorhersagbar wäre.\footnote{Implizit gibt es jedoch auch in Voegelins Geschichtsphilosophie ein Ende der Geschichte, denn über das optimal differenzierte Ordnungswissen hinaus ist keine weitere Steigerung von Ordnungswissen mehr denkbar (und alle anderen geschichtlichen Entwicklungen sind politische Profangeschichte, für die Voegelin sich nicht interessiert). Den bisherigen geistigen Höhepunkt der geschichtlichen Entwicklung stellt für Voegelin jedenfalls das christliche Mittelalter dar.} Hierin setzt sich Voegelin in ausdrücklichen Gegensatz zu manchen Geschichtsphilosophien der Hegelschen Machart, durch die er ansonsten durchaus beeinflusst ist. Weiterhin vertritt Voegelin einen konsequenten individualistischen Vorbehalt, was die Verkörperung des Geistes in der Geschichte angeht. Geist verkörpert sich bei Voegelin in der Geschichte niemals durch kollektive Gebilde wie den Staat oder die Nation. Vielmehr dringt der Geist ausschließlich über das konkrete Bewusstsein des menschlichen Individuums in die Geschichte ein.\footnote{Vgl. Voegelins gegen Hegel gerichtete Bemerkungen, in: Eric Voegelin: "`Structures of Consciousness"', in: Voegelin-Research News Volume II, No 3, September 1996, auf: http://alcor.concordia.ca/\~{ }vorenews/v-rnII3.html (Host: Eric Voegelin Institute, Lousiana State University), im folgenden zitiert als: Voegelin, Structures of Consciousness, Abschnitt I (1).} Partikularismen gegenüber, seien sie nationaler oder anderer Art, ist Voegelin eher abgeneigt. Ohne die Realität partikulärer Gebilde zu leugnen, bleibt für Voegelin zumindest vor der Geschichte die höchste Gemeinschaft stets die ganze Menschheit.\footnote{Vgl. Voegelin, Order and History II, S. 1-20.} In diesem Bezug auf die Menschheit, und zwar nicht nur auf die gegenwärtige Menschheit, sondern auf die Menschheit in ihrer gesamten Geschichte, kommt ein moralisches Anliegen Voegelins zum Ausdruck, welches auch seine Kritik an der aufklärerischen Fortschrittsgeschichte motiviert. Die Fortschrittsgeschichte entwertet in Voegelins Augen die vergangene Menschheit, indem sie in der Vergangenheit nur die Vorstufe und das Mittel zum Zweck der Gegenwart erblickt. Sie vergisst dabei, dass die vergangenen Menschen auch einmal eine Gegenwart hatten, die sie genauso durchleben mussten, wie die heute lebenden Menschen ihre Gegenwart bewältigen müssen.\footnote{Vgl. Voegelin, Order and History II, S. 3.} Freilich stellt sich die Frage, wie Voegelin nun seinerseits derartige Entwertungen vermeiden will. Und an Voegelins Kritik der Neuzeit als einem gnostischen Zeitalter wird deutlich, dass auch Voegelin ganze historische Epochen verdammen konnte. Mit dem vierten Band von "`Order and History"' tritt ein Bruch in Voegelins historischem Programm ein. Dieser Bruch resultiert zu einem Teil aus der Feststellung, dass die Geschichte nicht linear, sondern in vielfältigen Verzweigungen, Verästelungen und unabhängig nebeneinander herlaufenden Entwicklungssträngen verläuft.\footnote{Vgl. Voegelin, Order and History IV, S. 1-6.} Dieses Faktum war Voegelin schon zuvor bewusst, wenn er auch dessen Ausmaß unterschätzte, und er es daher in der Konzeption von "`Order and History"' zunächst eher vernachlässigt hat. Zum anderen Teil kommt der Bruch durch die Entdeckung zustande, dass die Idee einer fortschreitenden, nicht zyklischen geschichtlichen Entwicklung keineswegs einzigartig mit dem "`Sprung im Sein"' zur Zeit von Moses verbunden ist, sondern sehr häufig bereits im Rahmen kosmischer Symbolismen auftritt. Voegelin geht nun noch stärker als zuvor davon aus, dass es in der Praxis zu einer Verschränkung kosmischer und nach-kosmischer Symbolismen und weniger zu einer deutlichen Ablösung des einen durch den anderen kommt.\footnote{Vgl. Order and History IV, S. 7-12.} Seine Grundvorstellung von der Geschichte als Prozess der zunehmenden Differenzierung spiritueller Erfahrungen behält Voegelin jedoch bei. In dieser Hinsicht bleibt der Bruch weniger dramatisch, als es die Einleitung von "`Order and History IV"' zunächst vermuten lässt. Voegelins Geschichtsphilosophie ist eingebettet in eine kosmische Geschichtsmetaphysik, der zufolge die Geschichte die Verwirklichung eines ewigen Seins in der Zeit darstellt.\footnote{Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 254ff.} Dieser Prozess, den Voegelin gelegentlich bis in die Naturgeschichte und die Evolution zurückverlängert,\footnote{Vgl. Voegelin, Structures of Consciousness, Abschnitt I (2).} verursacht und bestimmt auch die Menschheitsgeschichte, indem das ewige Sein im menschlichen Bewusstsein als anziehender transzendenter Pol wirkt. Diese Geschichtsmetaphysik ist wenig überzeugend: Da die Menschheitsgeschichte nicht erkennbar auf einen Punkt zuläuft, sondern sich vielfältig verzweigt, wäre es sehr viel naheliegender, im "`ewigen Sein"' eine dem menschlichen Bewusstsein entspringende Vorstellung und nicht ein in das Bewusstsein eindringendes transzendentes Sein zu vermuten. Ohnehin verwundert es ein wenig, dass sich das transzendente Sein zu seiner immanenten Verwirklichung als Ort gerade die Erde -- ein Staubkorn im Weltall, wie man es sich unbedeutender gar nicht vorstellen kann -- ausgesucht hat, wo doch das ganze Universum zur Verfügung gestanden hätte. (Oder hängt die Verwirklichung der Transzendenz in der Immanenz etwa von Wasser, Kohlenstoff und günstigen Temperaturbedingungen ab?) Voegelin wandelt mit seiner Geschichtsmetaphysik ersichtlich auf den Spuren der Geschichtsphilosophien des deutschen Idealismus, wonach die Geschichte ein Prozess ist, in welchem der Geist zu sich selbst kommt. Nicht anders als die Philosophen des Deutschen Idealismus verliert sich Voegelin dabei in metaphysische Spekulationen ohne Maß und Zügel. Bei Voegelin ist es jedoch im Unterschied zu den Philosophen des Deutschen Idealismus nicht der Geist sondern die "`Realität"', die sich im Menschen selbst erhellt. Voegelin begründet dies damit, dass der Mensch Teil der Realität ist, und dass folglich, wenn der Mensch die Realität erkennt, diese sich selbst zwar nicht geradewegs erkennt, aber doch erhellt.\footnote{Vgl. Voegelin, Structures in Consciousness, Abschnitt I (2)-(3).} Die Logik dieser Begründung ist ungefähr die folgende: Wenn ich durch meine Heimatstadt spazieren gehe und die Häuser anschaue, dann erblickt, da ich ja ein Teil meiner Heimatstadt bin, die Stadt sich selbst. Wie man sieht handelt es sich um eine Trivialität, die nur durch die philosophisch-abstrakte Ausdrucksweise den Schein tiefsinniger Bedeutsamkeit annimmt. So sehr Voegelin im übrigen auch die Historizität der menschlichen Existenz betont, es bleibt hier eine schwer überbrückbare Spannung zu den mehr ahistorischen Zügen seiner Philosophie bestehen. Sowohl Voegelins existenzialistisches Menschenbild als auch seine Seinsmetaphysik und seine Bewusstseinsphilosophie sind wesentlich ahistorisch.\footnote{Vgl. zur unreflektierten Ahistorizität von Voegelins prozesstheologischer Geschichtsdeutung die Diskussion über Voegelins Vortrag über "`Ewiges Sein in der Zeit"'. Dort insbesondere Baumgartners treffende Einwürfe, in: Helmut Kuhn / Franz Wiedmann (Hrsg.): Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München 1964, S. 340.} Hinzu kommt Voegelins Neigung, sich gelegentlich recht unbekümmert über die Jahrhunderte hinweg mit Philosophen und Propheten auseinanderzusetzen als wären es Zeitgenossen. Nicht selten trägt er dabei in anachronistischer Weise Konzepte in die Interpretation der Klassiker hinein, die der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts entnommen sind.\footnote{Vgl. Zdravko Planinc: The Uses of Plato in Voegelin's Philosophy of Con\-s\-cious\-ness: Reflections prompted by Voegelin's Lecture, "`Structures of Con\-s\-cious\-ness"', in: Voegelin-Re\-search News Volume II, No 3, September 1996, auf: http:\-//alcor.concordia.ca/\~{ }vorenews/v-rnII3.html (Host: Eric Voegelin Institute, Lousiana State University).} Wenn dies nicht immer sogleich auf\/fällt, so hängt das auch damit zusammen, dass Voegelin ein wenig zögerlich war, die moderne Herkunft seiner Ideen auch stets anzuerkennen. Wird versucht, die Beziehung zwischen den historischen und ahistorischen Zügen von Voegelins Philosophie näher zu bestimmten, so lässt sich dabei feststellen, dass -- ebenso wie in Bezug auf politische Ordnung -- auch hinsichtlich der Geschichte die Bewusstseinsphilosophie und die Seinsmetaphysik die theoretische Grundlage bilden, auf der die geschichtlichen Prozesse von Voegelin gedeutet werden. \section{Gnosisbegriff und Zeitkritik} Da sich für Voegelin gute politische Ordnung auf ein richtiges Verständnis der höheren Ordnung des Seins und auf eine wohlausgebildete Ordnung der Seele gründet, so liegt es für ihn natürlich nahe, den Ursprung politischer Unordnung in spiritueller Desorientierung zu suchen. Der Gnosisbegriff, mit dem Voegelin lange Zeit die Formen spiritueller Desorientierung beschrieb, bildet zugleich das Hauptinstrument seiner politischen Gegenwartskritik, einer Kritik, die sich auf die gesamte Neuzeit, insbesondere aber auf das 20. Jahrhundert bezieht. Die Ursprünge des Gnosisbegriffs reichen zurück bis zu Voegelins Schrift über die "`politischen Religionen"' von 1938,\footnote{Eric Voegelin: Die politischen Religionen, München 1996 (zuerst 1938).} einer Kampfschrift gegen den Nationalsozialismus, die er geradezu panikartig verfasste, nachdem er mit einer gewissen Verspätung dessen Gefährlichkeit erkannt hatte.\footnote{Vgl. Eckhart Arnold: Eric Voegelin als Schüler Hans Kelsens, a.a.O., S. 4-5 (die Seitenzahlen folgen der Entwurfsfassung).} Ausgehend von dem dort noch verwendeten Begriff der "`politischen Religion"' bildet Voegelin später seine Theorie von der Neuzeit als einem Zeitalter der wiedererwachten Gnosis, welche ihren prägnantesten Ausdruck in den totalitären Herrschaftsformen des 20. Jahrhunderts gefunden hat. Voegelins Gnosistheorie kann daher auch als seine Form der Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Totalitarismus verstanden werden, zumal sie merklich durch den zeitgeschichtlichen Kontext ihrer Entstehung geprägt ist. Unter Gnosis versteht Voegelin eine spirituelle Desorientierung im Zusammenhang mit der Erfahrung der Transzendenz, die unter bestimmten Bedingungen den Glauben mit sich führen kann, dass ein geschichtlicher Endzustand von vollendeter Glückseligkeit innerhalb einer absehbaren Zeit die gegenwärtige schlechte Welt ablösen kann.\footnote{Zur Definition des Begriffes bei Voegelin: Vgl. Dante Germino: Eric Voegelin on the Gnostic Roots of Violence, München 1998, im folgenden zitiert als: Germino, Voegelin on the Gnostic Roots of Violence, S. 26. -- Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 169-171. -- Vgl. Voegelin, Order and History IV, S. 18-27. -- Vgl. Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, S. 17-19.} Diese recht allgemeine Bedeutung erlaubt es Voegelin, den Begriff der Gnosis von den üblicherweise mit diesem Namen bezeichneten häretischen Glaubensströmungen des Vor- und Frühchristentums und des Mittelalters auf die chiliastischen politischen Bewegungen der Neuzeit zu übertragen. Die Gnosis stellt in Voegelins Augen insofern ein spirituelles Missverständnis dar, als sie auf einer seiner Ansicht nach falschen Vorstellung vom Wesen der Transzendenz beruht. Zwar liegt der Gnosis dieselbe religiöse Erfahrungssubstanz zugrunde wie dem Christentum, nämlich die differenzierende Erfahrung eines transzendenten göttlichen Seins, aber in der Gnosis wird das transzendente Sein als so überwältigend erlebt, dass die Immanenz in die Sinnlosigkeit absinkt und dem Welthass verfällt. Die Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz, welche für Voegelin recht eigentlich die Realität des menschlichen Existierens ausmacht, wird dadurch zu Gunsten einer einseitigen, geradezu tagträumerischen Fixierung auf das transzendente Ziel aufgelöst.\footnote{Vgl. Voegelin, Order and History IV, S. 19/20.} Ist das Gefühl für die Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz aber erst einmal verlorengegangen, so kann an der Stelle des transzendenten Zieles leicht auch irgendein immanenter Weltgehalt untergeschoben werden, der dann alle Attribute des göttlichen Seins erbt und zum Gegenstand eines äußerst unheiligen Götzenkultes erhoben wird. Dieser Fall von "`gnostischem Immanentismus"' ist in Voegelins Augen höchst charakteristisch für die gesamte Neuzeit.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 175-180, S. 229ff.} Voegelin trifft innerhalb dessen, was er als Gnosis bezeichnet, noch allerlei Einzelunterscheidungen, die ihm aber letzten Endes nur dazu dienen, recht wahllos alle politischen und geistigen Strömungen der Neuzeit, denen in irgendeiner Weise nachgesagt werden kann, dass sie ein Ideal vertreten, unter dem Begriff des gnostischen Immanentismus zu versammeln. So nennt Voegelin als gnostische Bewegungen Progressivismus, Liberalismus, Humanismus, Marxismus, Kommunismus, Faschismus, Psychoanalyse und je nach Bedarf noch einige mehr.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 176. -- Vgl. Germino, Voegelin on the Gnostic Roots of Violence, S. 27.} Angesichts dieser breit gefächerten Auswahl neuzeitlicher gnostischer Bewegungen verwundert es nicht, dass Voegelin im Gnostizismus das Wesen der Moderne überhaupt erblickt. Der gnostische Immanentismus führt, da dem Menschen das transzendente Ordnungskorrektiv verlorengeht, in letzter Instanz zur Selbstvergottung des Menschen. Neben Auguste Comte ist Friedrich Nietzsche Voegelins Hauptbeispiel und zugleich sein wichtigster Gewährsmann für diese These.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 182-184.} Voegelin lässt sich nicht dadurch irritieren, dass es säkularistische Philosophien gibt, die nicht die Konsequenz der Selbstvergottung ziehen. Im Zweifelsfall interpretiert Voegelin solche scheinbar harmlosen Säkularismen als Schritte auf dem Wege, der unvermeidlich zur Selbstvergottung des Menschen führt. So ist Voegelin beispielsweise überzeugt, dass der Liberalismus ohne spirituelle Basis mit innerer Logik zum Kommunismus führt.\footnote{Vgl. Eric Voegelin: Der Liberalismus und seine Geschichte, in: Karl Forster (Hrsg.): Christentum und Liberalismus, München 1960, S. 28-31 (S. 11-42).} Plausibel wird diese Auf\/fassung freilich nur, wenn man das Dogma zu Grunde legt, dass der Mensch nicht nicht-religiös sein kann, und dass dementsprechend die Säkularisierung nicht zum Verschwinden religiöser Absolutheitsansprüche, sondern bloß zu deren Fehlbesetzung führen kann. Die Vollendung der menschlichen Selbstvergottung und Herrschsucht erreicht der gnostische Immanentismus im politischen Bereich in den totalitären Herrschaftsformen. Der Totalitarismus ist für Voegelin ein unmittelbares Resultat der antichristlichen Unterdrückung der "`Wahrheit der Seele"' sowie des Irrglaubens, dass in der Geschichte mit Hilfe politischer Aktion ein Endzustand glückseliger Verklärtheit herbeigeführt werden kann. Voegelin hat allerdings nie ernsthaft versucht, den Zusammenhang von religiösen Abirrungen und gewalttätiger Politik auf der Ebene des konkreten politischen Geschehens detailliert nachzuzeichnen. Seine Erklärung verbleibt auf einer rein hermeneutisch-geistesgeschichtlichen Ebene und ihre Glaubwürdigkeit hängt von einer empirisch nicht überprüften Einschätzung der Bedeutsamkeit des religiösen Faktors im politischen Geschehen ab. Auch aus anderen Gründen ist der Gnosisbegriff zur Beschreibung chiliastischer politischer Bewegungen ungünstig gewählt: Der historischen Gnosis, deren Gewaltpotential sich kaum mit dem ihrer rechtgläubigen Verfolger messen kann, wird Voegelin am allerwenigsten gerecht. Es genügt eben nicht, den vermeintlichen Welthass oder irgendwelche spirituellen Missverständnisse (aus Sicht der eigenen Religiosität!) festzustellen, um daraus auf die latente Gewalttätigkeit der Gnosis zu schließen.\footnote{Vgl. Eric Voegelin: Das Volk Gottes. Sektenbewegungen und der Geist der Moderne (Hrsg. von Peter J.Opitz), München 1994, S. 74. Dort schreibt Voegelin über die häretischen Bewegungen des späten Mittelalters: "`Da die eschatologische Gewalt jenseits von Gut und Böse liegt, und da der Krieg für die Welt des Lichtes eine transzendentale geistige Operation ist, in der die Mächte der Finsternis aus dem Kosmos entfernt werden, werden sich die Gläubigen zwangsläufig [{\em sic!}] in einer Gründlichkeit der Vernichtung ergehen, die von der Warte der Realität aus als Bestialität und Grausamkeit erscheint."' -- Viel zu sehr vereinfacht wird dies auch von Dante Germino. Vgl. Germino, Eric Voegelin on the Gnostic Roots of Violence, S. 28. Darüber hinaus lässt sich Germinos These, dass in expressiver Gewalt, also in einer Form von {\em Hooliganism}, das Wesen der totalitären Gewalt besteht, nicht leicht mit der administrativen und planvollen Form der Durchführung totalitärer Massenmorde vereinbaren. Bei bestimmten Tätergruppen -- etwa Gestalten wie Eichmann oder jenen "`ganz normalen Männern"' (C.Browning), die als Befehlsempfänger die Morde durchführten -- kann man ein expressives Moment ihrer Gewalttaten nur schwer auf\/finden.} Dass es gerade die Vergöttlichung eines Teilinhaltes der Welt sein soll, die die exzessive Gewalttätigkeit nach sich zieht, ist nicht besonders einleuchtend, da ja auch im Namen des transzendenten Gottes in Form von Kreuzzügen, Progromen oder Hexenverfolgungen so mancher Exzess der Gewalt stattfand, wobei sich das vorreformatorische Christentum -- von Voegelin romantisch als letzter Hort intakten Ordnungswissens verklärt -- zuweilen auf eine ausgesprochen unschöne Weise hervorgetan hat. Die Gefahr dürfte wohl eher von dem Irrglauben, über eine absolute, umfassende und für alle Menschen verpflichtende Wahrheit zu verfügen, ausgehen als vom Säkularismus oder der Gnosis. Voegelins Konzept der Politischen Religion ist ebenso wie sein Begriff der Gnosis nicht nur allzu undifferenziert, sondern er verfehlt darüber hinaus auch das Wesentliche, indem er die Neigung zur Gewalttätigkeit nicht primär als eine Frage der Form (fanatisch oder tolerant), sondern als eine Frage des Inhalts des Glaubens auf\/fasst, womit er sich auf die Ebene religiös-konfessioneller Polemik begibt.\footnote{Es verwundert daher auch nicht, dass Voegelin -- vermutlich von Carl Schmitt dazu inspiriert -- zum Verständnis der politischen Bewegungen der Neuzeit die Lektüre des Werkes "`Adversus Haereses"' des Kirchenvaters Iraeneus (2.Jh. nach Christus!) empfiehlt. Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.178. -- Nicht ganz zu unrecht wird Voegelin von Albrecht Kiel als "`katholischer Fundamentalist"' gesehen. Vgl. Albrecht Kiel: Gottesstaat und Pax Americana. Zur Politischen Theologie von Carl Schmitt und Eric Voegelin, Cuxhaven und Dartford 1998, S. 3, S. 95ff.} Als Analysewerkzeug zum Verständnis der chiliastischen politischen Bewegungen der Neuzeit entwertet Voegelin seinen Gnosis-Begriff dadurch, dass er auf ihn zurückgreift, um einer wenig qualifizierten politischen Polemik Ausdruck zu verleihen.\footnote{Vgl. beispielsweise Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, 6.Kapitel, S. 224-259. -- Als eine Form von politischem Moralismus weisen sich Voegelins Äußerungen an dieser Stelle dadurch aus, dass er den Sachproblemcharakter schwieriger politischer Entscheidungsdilemmata leugnet, indem er ihre Lösung zu einer jedem Einsichtigen völlig selbstverständlichen Banalität stilisiert (Ebda. S. 236-238), wodurch er im zweiten Schritt die Verfehlung jener vermeintlich eindeutig und offensichtlich richtigen Lösungen auf billige Weise moralischen Makeln der Entscheidungsträger anlasten kann. -- Dass der Gnosis-Begriff als solcher, wenn er mit Augenmaß eingesetzt wird, zur Analyse {\em bestimmter} moderner Geistesströmungen auch durchaus sinnvoll eingesetzt werden kann, führt Micha Brumlik vor. Vgl. Micha Brumlik: Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen, Frankfurt am Main 1992.} % Voegelin % geht auch bei der Untersuchung von fremden Theorien des öfteren so vor, daß % er die Theorie zunächst als völlig abwegig darstellt, um dann ihre Erfindung % für "`aufklärungsbedürftig"' zu erklären und ungesäumt zur klinischen % Diagnose des Falles überzugehen.} Als Totalitarismustheorie gehört Voegelins Gnosistheorie insgesamt noch eher einer Phase der (natürlich legitimen) emotionalen Auseinandersetzung und inneren Abwehr des Phänomens an. Sie erscheint als eine Erklärung des Totalitarismus, wie sie in den fünfziger Jahren nicht untypisch war: Der Totalitarismus wird mit einer historisch weitausholenden Fundamentalerklärung, als deren Haupterklärungsmoment ideologische Faktoren fungieren, erfasst und als die Folge des Abfalls von der Religion interpretiert. Besonders in dieser Hinsicht ähnelt Voegelins Gnosiskonzept jenen gerade in der Nachkriegszeit populären Säkularisierungstheorien, wie sie Hermann Lübbe eingehend untersucht hat.\footnote{Vgl. Hermann Lübbe: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, München 1965, S. 108ff. -- Stärker philosophisch als zeitgeschichtlich orientiert: Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt am Main 1996. (Vgl. S. 138.)} Die Erklärung Lübbes für das Auftreten der Säkularisierungstheorien lässt sich allerdings nur in Teilen auf Voegelin übertragen, da Voegelin als Emigrant nicht unbedingt apologetische Absichten hatte. Für Voegelin stellte im Gegenteil gerade die Ignoranz der Nachkriegsgesellschaft, die sich in Verdrängung, Verklärung und darin äußerte, dass gestandene Nazi-Schufte als angesehene Bürger gelten und in einzelnen Fällen sogar einflussreiche Posten besetzen konnten, einen Hinweis darauf dar, dass die tieferen existenziellen Bedingungen der politischen Katastrophe noch fortdauerten.\footnote{Vgl. Voegelins Vorlesung über "`Hitler und die Deutschen"', S. 1ff. (Typoskript im Eric-Voegelin-Archiv in München.) -- Vgl. Eric Voegelin: Die deutsche Universität und die Ordnung der deutschen Gesellschaft, in: Die deutsche Universität im Dritten Reich. Eine Vortragsreihe der Universität München, München 1966, S. 241-282 (S. 241ff.).} Wenn Voegelin die verschiedensten geistigen Strömungen der Neuzeit mehr oder weniger unterschiedslos als Gnosis identifiziert, so ist auch dies wohlmöglich die Folge eines Methodenmissbrauchs. Voegelin verwendet bei der Untersuchung der Geistesgeschichte häufig die Technik der Suche nach "`Strukturverwandtschaften"'. Eine Strukturverwandtschaft scheint dabei nicht viel mehr zu sein als eine sich in irgendeiner Weise aufdrängende Analogie zwischen zwei oder mehreren Theorien. So erkennt Voegelin zwischen dem in die Phasen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes unterteilten Geschichtsbild von Joachim Fiori und dem Dreistadiengesetz des Auguste Comte eine solche Strukturverwandtschaft. Zu diesen beiden Theorien steht wieder die nationalsozialistische Ideologie vom Dritten Reich in der Beziehung einer Strukturverwandtschaft.\footnote{Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 157-162.} Wie Hans Kelsen treffend heraus gestellt hat, ist dieser Befund jedoch ziemlich trivial und historisch bedeutungslos.\footnote{Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 77ff.} Dass Problem der Methode der Strukturverwandtschaften besteht nämlich darin, dass die Feststellung von Strukturverwandtschaften es allein noch nicht erlaubt, auf kausale Zusammenhänge oder auch nur auf eine historische Traditionslinie zu schließen. So wie Voegelin von dieser Methode Gebrauch macht, lädt sie zu extremen Versimplifizierungen geradezu ein.\footnote{Ein extremes Beispiel einer solchen Simplifizierung liefert Voegelin in einem Brief an Alfred Schütz, wo er den Abwurf der Atombombe zu einem Ausfluss des Phänomenalismus (nach Voegelins Wortgebrauch die Auf\/fassung, dass nur den (natur-)wissenschaftlich erfassbaren Phänomenen substantielle Wirklichkeit zukommt) stilisiert. Vgl. Gilbert Weiss: Theorie, Relevanz und Wahrheit. Zum Briefwechsel zwischen Eric Voegelin und Alfred Schütz, München 1997, S. 46-49. -- Ähnlich willkürlich wie die Strukturverwandtschaften scheint das Kriterium der Äquivalenz von Erfahrungen zu sein. Vgl. dazu Eric Voegelin: Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte, in: Eric Voegelin, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte, Späte Schriften (Hrsg. von Peter J. Optiz), Stuttgart 1988, S. 99-126 (S. 105-106 / S. 110).} Gehört Voegelins Gnosistheorie auch ohne Zweifel zu den schwächeren Seiten seiner Politikwissenschaft, so liegt in der grundsätzlichen Frage, ob der Verlust der Spiritualität nicht auch die Gefahr eines Wertverfalls nach sich zieht, indem mit der Spiritualität auch das innere Empfinden für den Sinn und die Bedeutung des Lebens verlorengeht, ein Vorbehalt, wie er sich auch heute noch manchem religiösen Menschen aufdrängen mag. Unter diesem Aspekt ist daher die Frage an Voegelins Bewusstseinsphilosophie zu richten, ob sie diesen Vorbehalt rechtfertigen kann. Gelingt es Voegelin -- so wird im Folgenden zu fragen sein -- zu zeigen, dass die Spiritualität im menschlichen Bewusstsein verankert ist, und dass ihre Leugnung oder ihr Verlust zu existenzieller Unsicherheit und möglicherweise (gefährlichen) kompensatorischen Gegenreaktionen führt? %%% Local Variables: %%% mode: latex %%% TeX-master: "Main" %%% End: