Vorwort zur Buchausgabe |
Das Interesse, das der Politikphilosoph Eric Voegelin im deutschsprachigen Raum findet, scheint in den letzten Jahren mehr und mehr zu wachsen. Des öfteren schon waren in der jüngsten Zeit Artikel über Eric Voegelin sogar in den Feuilletons überregionaler Tageszeitungen zu lesen‚
Leider ist aber gerade die Art und Weise, wie Eric Voegelin das Verhältnis von Religion und Politik bestimmt, in keiner Weise geeignet, die Schwierigkeiten, vor denen wir damit in der Gegenwart stehen, zu lösen. Voegelins “Lösung” schafft eher noch zusätzliche Probleme, als dass sie die bestehenden Schwierigkeiten beseitigt. Weshalb das so ist, will ich an dieser Stelle kurz erläutern.
Will man die normative Frage untersuchen, in welchem Verhältnis Religion und Politik zueinander stehen sollten, so dass weder die politische Ordnung Schaden nimmt noch die Religion in unnötiger Weise beeinträchtigt wird, dann muss man zwei verschiedene Unterscheidungen sorgfältig voneinander trennen:
Die erste dieser beiden Unterscheidungen lässt sich wissenschaftlich-objektiv überhaupt nicht treffen. Es gibt keine wissenschaftliche Methode, mit der wir über die Wahrheit und Falschheit von Religionen urteilen könnten. Die “religiösen Wahrheiten” sind der Wissenschaft nicht zugänglich und es ist das Beste, sie aus allen wissenschaftlichen Betrachtungen auszuklammern und innerhalb der Wissenschaft ihnen gegenüber strikte Neutralität zu wahren.
Die zweite Unterscheidung müssen wir jedoch treffen, weil dazu eine praktische Notwendigkeit besteht. Diese Unterscheidung hat eine ethische und eine empirische Seite. Die ethische Seite betrifft die Werte, die unserer Überzeugung nach das gesellschaftliche Zusammenleben regeln sollten, und die durch die politische Ordnung geschützt werden müssen. Die Gestalt der politischen Ordnung hängt ganz wesentlich davon ab, welche Werte wir als wichtig erachten. Vertritt man die Wertfreiheit in der Wissenschaft, dann lässt sich über die Richtigkeit und Falschheit dieser Werte wissenschaftlich ebenfalls nicht urteilen. Als Menschen müssen wir uns jedoch für bestimmte Werte entscheiden und es ist nicht möglich abweichende Werte bei Anderen uneingeschränkt zu tolerieren. Die empirische Seite der Unterscheidung betrifft die Frage, wie sich bestimmte religiöse Einstellungen oder bestimmte religiöse Praktiken kausal auf die politische Ordnung auswirken oder – ebenfalls eine Frage kausaler Zusammenhänge – wie gut sie mit der politischen Ordnung verträglich sind. Die kausalen Zusammenhänge zwischen Religion und politischer Ordnung sind einer wissenschaftlichen Methodik prinzipiell zugänglich und ihre wissenschaftliche Untersuchung ist von größtem Interesse.
Es ist wichtig, diese beiden Unterscheidungen auseinander zu halten, weil wir nur so die ethischen Fragen, über die wir uns streiten müssen, von den religiös-metaphysischen Fragen, über die wir es nicht ernsthaft zum Streit kommen lassen sollten, sorgfältig trennen können (siehe dazu auch Kapitel ). Gerade diese Unterscheidung verwischt Voegelin aber, was, nebenbei bemerkt, einer der Gründe für den an vielen seiner Schriften so auffälligen polemisch-intoleranten Zug sein könnte. Voegelin meinte nämlich, dass es erstens sehr wohl möglich ist, über die Wahrheit und Falschheit religiöser Überzeugungen ein wissenschaftlich begründetes Urteil zu fällen, und dass zweitens ein äußerst enger kausaler Zusammenhang zwischen der Richtigkeit oder Falschheit der religiösen Einstellung und ihrer Wirkung auf die politische Ordnung besteht. Wie ich in diesem Buch darzulegen versuche, hat Voegelin sich in beiden Punkten geirrt.
Die Wahrheit oder Falschheit religiöser Überzeugungen schien für Voegelin davon abhängig zu sein, ob sie Ausdruck intakter oder verdorbener religiöser Erfahrungen sind. Wie soll man aber die Intaktheit oder Verderbtheit religiöser Erfahrungen wissenschaftlich beurteilen können? Religiöse Erfahrungen sind doch, sollte man meinen, zunächst einmal sehr persönliche Erfahrungen jedes Einzelnen, und wenn der eine diese religiösen Erfahrungen macht und der andere jene, wer wollte damit rechten und sich anmaßen zu behaupten, die Erfahrungen des einen wären echter und unverdorbener als die des anderen? Genau das tut Voegelin aber, und die “wissenschaftliche” Methodik, deren er sich dazu bedient, besteht unter anderem in bewusstseinsphilosophischen Untersuchungen, mit denen er meint, die Natur unserer Transzendenzerfahrungen ergründen zu können. Diese bewusstseinsphilosophischen Untersuchungen bilden den Hauptgegenstand des vorliegenden Buches (besonders des . Kapitels), und ich glaube zeigen zu können, dass Voegelin mit seinem bewusstseinsphilosophischen Unterfangen gescheitert ist. Es gibt keine wissenschaftliche Methode, die die Bewertung religiöser Erfahrungen erlaubt, und auch Voegelins Bewusstseinsphilosophie kann das nicht leisten. Die Ergebnisse meiner Kritik von Voegelins Bewusstseinsphilosophie sind in Kapitel und Kapitel zusammengefasst.
Trotz dieses Irrtums wäre Voegelins Werk für die wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Beziehung von Religion und Politik immer noch dann von großer Bedeutung, wenn Voegelin wenigstens einen Beitrag zur Untersuchung der kausalen Beziehungen zwischen religiösen Einstellungen und politischer Ordnung geleistet hätte. Angesichts der theoretischen Grundprämisse Voegelins, dass die Qualität der politischen Ordnung sehr stark vom Zustand des religiösen Bewusstseins abhängt, müsste man erwarten, dass Voegelin höchstes Interesse an der wissenschaftlichen Bestimmung der entsprechenden Kausalzusammenhänge gehabt hätte. Erstaunlicherweise findet sich in Voegelins Oevre jedoch so gut wie nirgendwo ein substantieller Beitrag zur wissenschaftlichen Untersuchung dieser Kausalbeziehungen. Voegelin beschränkt sich vielmehr fast vollständig auf die geistesgeschichtlich-hermeneutische Deutung des religiösen und philosophischen Schrifttums bedeutender Epochen der Menschheitsgeschichte. Zwar werden in seinem Hauptwerk “Order and History” auch immer mal wieder die politischen Zustände der von ihm untersuchten historischen Gesellschaften referiert, aber die Zusammenhänge zwischen den politischen Zuständen und dem geistig-religiösen Hintergrund bleiben weitgehend im Dunkeln, von einer differenzierten Beurteilung dieser Zusammenhänge ganz zu schweigen. Abgesehen von Voegelins einseitiger methodischer Ausrichtung dürfte der Grund dafür ebenfalls in Voegelins dogmatischer Grundprämisse liegen, dass die Qualität der politischen Ordnung ganz unmittelbar von ihren spirituellen Grundlagen abhängt. Daher ist für Voegelin, wenn er nur den Zustand des religiösen Bewusstseins hermeneutisch bestimmt hat, immer schon alles klar. Ist das religiöse Bewusstsein deformiert, dann ergibt sich für Voegelin schon allein daraus, dass die politische Ordnung nichts taugen kann. Die Kritik dieser Grundprämisse bildet ebenfalls ein wichtiges Anliegen dieses Buches (siehe Kapitel ), wenn ich auch nicht ganz so ausführlich darauf eingehe wie auf Voegelins Bewusstseinsphilosophie selbst.
Dieses Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Magisterarbeit über “Voegelins Bewusstseinsphilosophie (als Grundlage politischer Ordnung)”, die ich im Jahr 2000 an der Universität Bonn verfasst habe, und die in ihrer ursprünglichen Form seitdem auf meiner Website abrufbar war.
Ein weiterer Grund dafür, dass ich mich entschlossen habe, meine Arbeit nun auch als Buch zu veröffentlichen, besteht darin, dass Internetquellen – zum Teil aus guten Gründen – nach wie vor oft nicht als zitierfähig angesehen werden. Ich möchte aber anderen Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, auf meine Thesen zu Eric Voegelin Bezug zu nehmen, und dazu ist die “verbindlichere” Form einer Buchveröffentlichung immer noch am besten geeignet.
Nimmt man nach mehreren Jahren eine ältere Arbeit wieder zur Hand, so bleibt nicht aus, dass man Vieles inzwischen anders schreiben würde. Ich bin daher für die Buchveröffentlichung die Magisterarbeit noch einmal durchgegangen und habe sie an vielen Stellen geändert, wo mir der Text unklar oder missverständlich erschien. Auch habe ich dort, wo es mir aufgefallen ist, weitere Literaturverweise eingefügt, ohne allerdings die seitdem erschienene oder damals unberücksichtigt gebliebene Sekundärliteratur systematisch einzuarbeiten. Der Aufwand dafür hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen, ohne dass die inhaltliche Aussage, um die es mir geht, und die mir nach wie vor zutreffend erscheint, dadurch wesentlich stärker geworden wäre. Da ich mit dem, was ich damals über Voegelin geschrieben habe, immer noch fast vollkommen übereinstimme, und meine Meinung über den Politikwissenschaftler Eric Voegelin seitdem eher noch kritischer geworden ist, bin ich mit Änderungen im Ganzen aber eher behutsam geblieben. Vollständig bzw. fast vollständig neu geschrieben habe ich lediglich die Kapitel und , die mir in der bisherigen Form zum Teil abwegig bzw. nicht verständlich genug erschienen sind. Beim wiederlesen der Arbeit ist mir auch aufgefallen, dass ich manchmal zu drastischen Formulierungen gegriffen habe, wie ich sie heute nicht mehr unbedingt wählen würde. Trotzdem habe ich mich entschlossen, bei der Überarbeitung den Stil nicht allzusehr zu glätten, denn ich blicke mit Wehmut auf die glückliche Zeit zurück, als ich noch nicht wusste, wie sehr man innerhalb akademischer Institutionen zuweilen gezwungen ist, sich intellektuell zu prostituieren. Die Art von intellektueller Konzessionslosigkeit, die ich an großen Philosophen wie Thomas Hobbes, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche oder Ludwig Wittgenstein so bewundere, und der auch Eric Voegelin auf eine allerdings eher törichte Weise huldigte, wird im Milieu der akademischen Philosophie ziemlich wirkungsvoll unterdrückt. Ob es wirklich besser wäre, sie generell zuzulassen, möchte ich gar nicht unbedingt behaupten, aber schade ist es trotzdem.
Zum Schluss will ich nicht versäumen, Erasmus Scheuer für die Hilfe beim Korrekturlesen zu danken.
Düsseldorf, den 31. August 2007
Das Thema dieses Buches ist die Bewusstseinsphilosophie Eric Voegelins.
Eric Voegelin vertrat die etwas eigentümliche und in der heutigen Zeit im westlichen Kulturkreis eher befremdlich wirkende Auf\/fassung, dass die religiösen Erfahrungen des Menschen eine notwendige Grundlage politischer Ordnung bilden. Damit ein politisches Gemeinwesen über eine stabile und im ethischen Sinne gute politische Ordnung verfügt, genügt es nach Voegelins Ansicht keineswegs, wenn sich diese Ordnung auf ein ausgeklügeltes System von Institutionen und auf eine wohldurchdachte Verfassung stützt. Für Voegelin muss die politische Ordnung darüber hinaus tief im religiösen Empfinden der Bürger verwurzelt sein. Nur dann kann sie eine ausreichende Resistenz gegenüber inneren und äußeren Anfechtungen entwickeln, und nur dann kann ihr eine ethische Qualität zugesprochen werden. In diesem Buch soll kritisch hinterfragt werden, ob die religiöse Erfahrung tatsächlich eine notwendige Voraussetzung politischer Ordnung bildet und ob eine solche Grundlegung der politischen Ordnung überhaupt wünschenswert ist.
Wenn für Voegelin die politische Ordnung im religiösen Empfinden oder, um es in seiner eigenen Terminologie zu formulieren, in den existentiellen „Erfahrungen“ der Bürger verwurzelt sein muss, so ist dies bei Voegelin nicht in der Weise zu verstehen, dass der Staat den religiösen Bereich der menschlichen Natur für seine Zwecke einspannen soll, wie dies die totalitären Staaten anstreben. Das religiöse Empfinden geht nicht vom Staat oder vom gesellschaftlichen Kollektiv aus, sondern es entspringt dem existentiellen Erleben des Einzelnen, und nach Maßgabe dieses im individuellen Erleben verankerten religiösen Empfindens muss die politische Ordnung gestaltet werden. Damit dies funktioniert, ist natürlich die Intaktheit des religiösen Empfindens von größter Bedeutung. Die intakte „Ordnungserfahrung“ bildet für Voegelin nicht nur eine notwendige Voraussetzung (guter) politischer Ordnung, sie stellt auch eine, zwar nicht unbedingt allein hinreichende, aber doch stark begünstigende Bedingung dar, gegenüber der alle pragmatischen Probleme politischer Ordnung, wie z.B. die Einzelheiten der Verfassungsordnung, vergleichsweise sekundär sind.
Kommt dem Unterschied zwischen intaktem und nicht intaktem religiös-existentiellen Empfinden eine derartig große Bedeutung zu wie bei Voegelin, so ergibt sich, dass die politische Philosophie einer Auseinandersetzung mit der Religion auf der inhaltlichen Ebene der religiösen Dogmen und Erfahrungen
Voegelin geht es nicht darum, empirisch den Zusammenhang zwischen vorfindlichen politischen Ordnungsgefügen und den sie fundierenden religiösen Erfahrungen aufzuweisen. Vielmehr verfolgt Voegelin in erster Linie die normative Absicht, durch die bewusstseinsphilosophische Aufdeckung der religiösen Erfahrungsquellen die verbindliche Grundlage einer humanen und totalitarismusresistenten politischen Ordnung für die Gegenwart zu finden, welche für ihn in vielen westlichen Demokratien, die ihm in Ermangelung religiöser Grundlagen auf Sand gebaut schienen, noch unzureichend verwirklicht war. In diesem Buch steht die Untersuchung dieses normativen Aspektes im Vordergrund. Es geht mir nicht um die Frage, ob Voegelins Modellvorstellung von politischer Ordnung auf das alte Ägypten oder das römische Kaiserreich anwendbar ist, sondern es soll versucht werden zu klären, ob Voegelins Vorstellungen in der heutigen Zeit unter den Bedingungen pluralistischer und sich entwickelnder multikultureller Gesellschaften noch tragfähig sind und normative Gültigkeit beanspruchen dürfen. Letzteres ist natürlich nicht nur eine Frage von Zeitumständen, sondern vor allem eine Frage der Begründungsqualität.
Die Untersuchungsmethode, die in diesem Buch angewandt wird, ist die einer rationalen Rekonstruktion, d.h. es wird versucht, anhand einzelner Texte Voegelins dessen Thesen zu rekonstruieren und ihre Begründung kritisch zu prüfen. Nur am Rande wird dagegen auf philologische und historische Fragen eingegangen wie die, welche Entwicklung Voegelins Begriffe innerhalb seines Werkes durchgemacht haben, durch welche Philosophen er geprägt wurde oder welche zeitgeschichtlichen Umstände auf sein Denken Einfluss genommen haben. Im Vordergrund steht stattdessen die Frage der Gültigkeit von Voegelins Theorie.
Gegen eine derartige Herangehensweise sind von zwei gegensätzlichen Richtungen her Einwände denkbar. Einerseits könnte eingewandt werden, dass Voegelin heutzutage keineswegs mehr aktuell und eine theoretische Auseinandersetzung mit seinen Gedanken daher nicht mehr von Interesse sei. Andererseits könnte gegen die Methode der rationalen Rekonstruktion und Kritik der Vorwurf erhoben werden, dass sie, da einem positivistischen Wissenschaftsideal verpflichtet, dem Denken Voegelins nicht gerecht werden könne.
Der erste Einwand ließe sich dahingehend weiter ausführen, dass Voegelin als ein typischer Vertreter der Epoche des kalten Krieges inzwischen nurmehr eine historische Erscheinung sei.
Dem zweiten Einwand liegt die Frage zu Grunde, ob die Methode der rationalen Rekonstruktion für eine Untersuchung von Voegelins Werk angemessen ist. Voegelin wünschte sich von seinen Lesern eine ganz bestimmte Lesehaltung, die weniger durch eine kritisch-rationale Einstellung als durch den meditativen Nachvollzug seiner Gedanken bestimmt sein sollte, denn er glaubte, eine besondere Art von Wissenschaft zu verfertigen, bei der es gerade nicht auf das Aufstellen von Thesen und das kritische Abwägen von Argumenten ankommt. Aber zugleich beanspruchte Voegelin, mit seinen Schriften die theoretischen Grundlagen politischer Ordnung zu bestimmen. Ob diese Grundlagen tragfähig sind, lässt sich jedoch nur überprüfen, indem man sie rational analysiert. Die Rechtfertigung für meine, dem Denken Voegelins vielleicht etwas fremde, analytische Herangehensweise liegt also in Voegelins eigener Zielvorgabe, die geistigen Grundlagen guter politischer Ordnung zu finden. Da eine politische Ordnung für jeden, der in ihr lebt, verbindliche Geltung haben soll, so muss ihre Begründung auch intersubjektiv nachvollziehbar sein. Übrigens nahm Voegelin für seine Art von Politikwissenschaft in Anspruch, dass sie rationale Wissenschaft sei. Aber dies beruht, wie noch zu zeigen sein wird‚
Anders, als sich dies für die Methode der rationalen Rekonstruktion eigentlich empfiehlt, erfolgt die Darstellung von Voegelins bewusstseinsphilosophischen Schriften nicht durch eine Zuspitzung von Voegelins Aussagen zu einzelnen Thesen, sondern in der Form einer Wiedergabe seines Gedankenganges. Der Grund hierfür besteht darin, dass Voegelins Texte in hohem Maße einem erzählerischen Stilprinzip verpflichtet sind und sich daher gegen eine Zuspitzung zu einzelnen klaren Thesen sträuben. Eine Zusammenfassung in Thesen würde deshalb bereits ein sehr hohes Maß von Interpretation in Voegelins Texte hineintragen, so dass nicht mehr leicht zu erkennen wäre, wie die Thesen aus Voegelins Worten entnommen worden sind. Aus diesem Grund wird der Inhalt eines jeden untersuchten Textes zunächst ausführlich mit eigenen Worten wiedergegeben, so dass sich meine Interpretation leicht nachvollziehen lässt. Unmittelbar an die Darstellung eines jeden Textes oder auch einzelner Textpassagen schließt sich eine eingehende Kritik dieser Textpassagen an. Mag dieses Verfahren der intermittierenden Kritik auch einen Eindruck von Voreiligkeit und Nicht-ausreden-lassen-wollen erwecken, so ist es doch dadurch gerechtfertigt, dass die untersuchten Texte bezüglich ihrer Entstehungszeit teilweise recht weit auseinanderliegen und dementsprechend unterschiedliche Fragen aufwerfen. Außerdem lässt sich eine ins Einzelne gehende Kritik nur schwer an eine umfassende Darstellung anschließen, nach welcher den Lesern und Leserinnen nur noch die groben Züge des Gedankenganges im Gedächtnis geblieben sind. Eine Detail-Untersuchung ist aber beabsichtigt, denn der Wert einer Philosophie entscheidet sich meiner Ansicht nach weniger an den großen Linien der ihr zu Grunde liegenden metaphysischen Weltauf\/fassung als an der Qualität ihrer Durchführung im Detail.
Dieses Buch beabsichtigt eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den wichtigsten bewusstseinsphilosophischen Standpunkten Voegelins, beansprucht aber keinesfalls eine umfassende Darstellung von Voegelins Bewusstseinsphilosophie zu sein. Bewusstseinsphilosophische Überlegungen begleiten Voegelins Schaffen von seinen frühesten Schriften bis zu den spätesten Werken‚
Aus pragmatischen Gründen beschränkt sich dieses Buch daher auf die Untersuchung von „Anamnesis“, dem einzigen ausdrücklich als bewusstseinsphilosophisch ausgewiesenen größeren Werk, welches Voegelin zu dieser Thematik selbst veröffentlicht hat. Weiterhin werden aus dem Werk „Anamnesis“, das neben bewusstseinsphilosophischen auch eine Reihe von historischen Aufsätzen Voegelins versammelt, nur die im engeren Sinne bewusstseinsphilosophischen Aufsätze berücksichtigt, welche den ersten und dritten Teil dieses Werkes bilden, während der zweite Teil von „Anamnesis“ überwiegend historische Probleme behandelt. Durch die Beschränkung auf „Anamnesis“ bleiben die späteren Entwicklungen von Voegelins Bewusstseinsphilosophie außen vor. So wird Voegelins Auseinandersetzung mit dem Thema „Egophanie“ (Selbstbezogenheit des modernen Menschen im Gegensatz zur Gottbezogenheit), welches in „Order and History IV“ einen so großen Raum einnimmt‚
Die Lage der Sekundärliteratur zu Eric Voegelin und zu seiner Bewusstseinsphilosophie ist nicht in jeder Hinsicht günstig. Zwar gibt es über Eric Voegelin und besonders zu seinem Hauptwerk „Order and History“ schon ein beachtliches Schrifttum‚
Außer der Sekundärliteratur zu Eric Voegelin wird auch philosophische Literatur zu den Themen, die Voegelin in seinen bewusstseinsphilosophischen Texten anspricht, herangezogen. Hier besteht allerdings die Schwierigkeit, dass es in der Philosophie kein Expertentum gibt, und dass man daher je nachdem, auf welche Schule man zurückgreift, zu einer sehr unterschiedlichen Ansicht des Gegenstandes gelangen kann. In diesem Buch wurden vor allem die Autoren zu Rate gezogen, die auch Voegelin in seinen Schriften anspricht. Dies bereitet für die Untersuchung des ersten Teils von „Anamnesis“ keine Probleme, da klar ist, dass Voegelin sich hier vornehmlich mit der Phänomenologie auseinandersetzt. Schwieriger ist dies jedoch für dritten Teil von „Anamnesis“ zu realisieren, da Voegelin hier wesentlich selbständiger vorgeht. Weiterhin werden solche Autoren mit einbezogen, die von Voegelin zwar nicht immer ausdrücklich erwähnt werden, auf die er sich jedoch stillschweigend zu beziehen scheint.
Das Buch ist in drei Teile untergliedert. Der erste Teil (Kapitel ) gibt einen Grundriss von Voegelins politischer Philosophie. Ziel ist es, die Hauptthesen von Voegelins politischer Philosophie darzustellen sowie seinen methodischen Ansatz zu bestimmen. Insbesondere soll gezeigt werden, wie und an welcher Stelle bewusstseinsphilosophische Voraussetzungen in Voegelins politisches Denken eingehen. In diesem Teil beziehe ich mich überwiegend auf Voegelins „Neue Wissenschaft der Politik“‚
Im zweiten Teil, der seiner Länge wegen auf mehrere Kapitel verteilt ist (Kapitel , , ), werden ausführlich Voegelins bewusstseinsphilosophische Schriften dargestellt und einer eingehenden Detailkritik unterzogen. Den Abschluss des zweiten Teils (Kapitel ) bildet die Diskussion einiger Grundprobleme von Voegelins Bewusstseinsphilosophie, wobei die kritische Betrachtung von Voegelins Begriff der (religiösen) Erfahrung im Zentrum steht. Es gilt dabei kritisch Bilanz zu ziehen, ob der in Voegelins Denken zentrale Begriff der „Erfahrung“ hinreichend durch die bewusstseinsphilosophischen Überlegungen Voegelins begründet und erläutert ist, um für das Verständnis und die Gestaltung politischer Ordnung fruchtbar gemacht werden zu können.
Im letzten, mehr essayistisch gehaltenen Teil des Buches (Kapitel ), wird schließlich auf einer etwas allgemeineren Ebene die Frage angesprochen, ob gute politische Ordnung einer religiösen Grundlage bedarf. Dabei wird zu zeigen versucht, dass eine religiös-spirituelle Grundlegung der Politik, wie sie Voegelin vorschwebte, sowohl aus grundsätzlichen Überlegungen als auch insbesondere unter den Bedingungen einer pluralistischen und zunehmend multikulturellen Gesellschaft vor erheblichen Schwierigkeiten steht. Zugleich wird die Frage aufgeworfen, ob eine rein säkulare, durch Konsens bestimmte Grundlegung politischer Ordnung auf Basis eines Gesellschaftsvertrages denkbar ist, und ob daher politische Ordnung des transzendenten Bezuges nicht ohnehin gänzlich entraten kann. Eine Frage, die ich ziemlich uneingeschränkt bejahe.
Den Abschluss des Buches (Kapitel ) bilden schließlich einige Gedanken zu der Frage, ob Eric Voegelins kulturhistorischer Ansatz der gegenwärtigen Politikwissenschaft noch etwas mitzuteilen hat, selbst wenn die meisten seiner Ansichten inzwischen als überholt gelten müssen.