Vorwort zur Buchausgabe

Vorwort zur Buchausgabe

Das Interesse, das der Politikphilosoph Eric Voegelin im deutschsprachigen Raum findet, scheint in den letzten Jahren mehr und mehr zu wachsen. Des öfteren schon waren in der jüngsten Zeit Artikel über Eric Voegelin sogar in den Feuilletons überregionaler Tageszeitungen zu lesen‚1Jüngst zum Beispiel im Ressort Literatur und Kunst der Neuen Züricher Zeitung vom 28. April 2007: Peter Cornelius Mayer-Tasch: Auf der Suche nach einer Ordnung der historischen Ordnungen. Das Hauptwerk des Politikwissenschaftlers und Geschichtsphilosophen Eric Voegelin. was darauf schließen lässt, dass auch über den engen Kreis von Fachwissenschaftlern hinaus ein breiteres Interesse an Voegelins politischer Philosophie besteht. Das gesteigerte Interesse an Voegelin ist nicht verwunderlich, hat Voegelin sich in seinen Werken doch intensiv mit dem Verhältnis von Religion und Politik beschäftigt, einem Thema, das gerade heute wieder besonders aktuell ist.

Leider ist aber gerade die Art und Weise, wie Eric Voegelin das Verhältnis von Religion und Politik bestimmt, in keiner Weise geeignet, die Schwierigkeiten, vor denen wir damit in der Gegenwart stehen, zu lösen. Voegelins “Lösung” schafft eher noch zusätzliche Probleme, als dass sie die bestehenden Schwierigkeiten beseitigt. Weshalb das so ist, will ich an dieser Stelle kurz erläutern.

Will man die normative Frage untersuchen, in welchem Verhältnis Religion und Politik zueinander stehen sollten, so dass weder die politische Ordnung Schaden nimmt noch die Religion in unnötiger Weise beeinträchtigt wird, dann muss man zwei verschiedene Unterscheidungen sorgfältig voneinander trennen:

  1. Die Unterscheidung zwischen richtiger (bzw. „wahrer“) und falscher Religion.

  2. Die Unterscheidung zwischen guter, d.h. mit dem Erhalt politischer Ordnung verträglicher, und schlechter, d.h. mit dem Erhalt politischer Ordnung unverträglicher Religion.

Die erste dieser beiden Unterscheidungen lässt sich wissenschaftlich-objektiv überhaupt nicht treffen. Es gibt keine wissenschaftliche Methode, mit der wir über die Wahrheit und Falschheit von Religionen urteilen könnten. Die “religiösen Wahrheiten” sind der Wissenschaft nicht zugänglich und es ist das Beste, sie aus allen wissenschaftlichen Betrachtungen auszuklammern und innerhalb der Wissenschaft ihnen gegenüber strikte Neutralität zu wahren.

Die zweite Unterscheidung müssen wir jedoch treffen, weil dazu eine praktische Notwendigkeit besteht. Diese Unterscheidung hat eine ethische und eine empirische Seite. Die ethische Seite betrifft die Werte, die unserer Überzeugung nach das gesellschaftliche Zusammenleben regeln sollten, und die durch die politische Ordnung geschützt werden müssen. Die Gestalt der politischen Ordnung hängt ganz wesentlich davon ab, welche Werte wir als wichtig erachten. Vertritt man die Wertfreiheit in der Wissenschaft, dann lässt sich über die Richtigkeit und Falschheit dieser Werte wissenschaftlich ebenfalls nicht urteilen. Als Menschen müssen wir uns jedoch für bestimmte Werte entscheiden und es ist nicht möglich abweichende Werte bei Anderen uneingeschränkt zu tolerieren. Die empirische Seite der Unterscheidung betrifft die Frage, wie sich bestimmte religiöse Einstellungen oder bestimmte religiöse Praktiken kausal auf die politische Ordnung auswirken oder – ebenfalls eine Frage kausaler Zusammenhänge – wie gut sie mit der politischen Ordnung verträglich sind. Die kausalen Zusammenhänge zwischen Religion und politischer Ordnung sind einer wissenschaftlichen Methodik prinzipiell zugänglich und ihre wissenschaftliche Untersuchung ist von größtem Interesse.

Es ist wichtig, diese beiden Unterscheidungen auseinander zu halten, weil wir nur so die ethischen Fragen, über die wir uns streiten müssen, von den religiös-metaphysischen Fragen, über die wir es nicht ernsthaft zum Streit kommen lassen sollten, sorgfältig trennen können (siehe dazu auch Kapitel ). Gerade diese Unterscheidung verwischt Voegelin aber, was, nebenbei bemerkt, einer der Gründe für den an vielen seiner Schriften so auffälligen polemisch-intoleranten Zug sein könnte. Voegelin meinte nämlich, dass es erstens sehr wohl möglich ist, über die Wahrheit und Falschheit religiöser Überzeugungen ein wissenschaftlich begründetes Urteil zu fällen, und dass zweitens ein äußerst enger kausaler Zusammenhang zwischen der Richtigkeit oder Falschheit der religiösen Einstellung und ihrer Wirkung auf die politische Ordnung besteht. Wie ich in diesem Buch darzulegen versuche, hat Voegelin sich in beiden Punkten geirrt.

Die Wahrheit oder Falschheit religiöser Überzeugungen schien für Voegelin davon abhängig zu sein, ob sie Ausdruck intakter oder verdorbener religiöser Erfahrungen sind. Wie soll man aber die Intaktheit oder Verderbtheit religiöser Erfahrungen wissenschaftlich beurteilen können? Religiöse Erfahrungen sind doch, sollte man meinen, zunächst einmal sehr persönliche Erfahrungen jedes Einzelnen, und wenn der eine diese religiösen Erfahrungen macht und der andere jene, wer wollte damit rechten und sich anmaßen zu behaupten, die Erfahrungen des einen wären echter und unverdorbener als die des anderen? Genau das tut Voegelin aber, und die “wissenschaftliche” Methodik, deren er sich dazu bedient, besteht unter anderem in bewusstseinsphilosophischen Untersuchungen, mit denen er meint, die Natur unserer Transzendenzerfahrungen ergründen zu können. Diese bewusstseinsphilosophischen Untersuchungen bilden den Hauptgegenstand des vorliegenden Buches (besonders des . Kapitels), und ich glaube zeigen zu können, dass Voegelin mit seinem bewusstseinsphilosophischen Unterfangen gescheitert ist. Es gibt keine wissenschaftliche Methode, die die Bewertung religiöser Erfahrungen erlaubt, und auch Voegelins Bewusstseinsphilosophie kann das nicht leisten. Die Ergebnisse meiner Kritik von Voegelins Bewusstseinsphilosophie sind in Kapitel und Kapitel zusammengefasst.

Trotz dieses Irrtums wäre Voegelins Werk für die wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Beziehung von Religion und Politik immer noch dann von großer Bedeutung, wenn Voegelin wenigstens einen Beitrag zur Untersuchung der kausalen Beziehungen zwischen religiösen Einstellungen und politischer Ordnung geleistet hätte. Angesichts der theoretischen Grundprämisse Voegelins, dass die Qualität der politischen Ordnung sehr stark vom Zustand des religiösen Bewusstseins abhängt, müsste man erwarten, dass Voegelin höchstes Interesse an der wissenschaftlichen Bestimmung der entsprechenden Kausalzusammenhänge gehabt hätte. Erstaunlicherweise findet sich in Voegelins Oevre jedoch so gut wie nirgendwo ein substantieller Beitrag zur wissenschaftlichen Untersuchung dieser Kausalbeziehungen. Voegelin beschränkt sich vielmehr fast vollständig auf die geistesgeschichtlich-hermeneutische Deutung des religiösen und philosophischen Schrifttums bedeutender Epochen der Menschheitsgeschichte. Zwar werden in seinem Hauptwerk “Order and History” auch immer mal wieder die politischen Zustände der von ihm untersuchten historischen Gesellschaften referiert, aber die Zusammenhänge zwischen den politischen Zuständen und dem geistig-religiösen Hintergrund bleiben weitgehend im Dunkeln, von einer differenzierten Beurteilung dieser Zusammenhänge ganz zu schweigen. Abgesehen von Voegelins einseitiger methodischer Ausrichtung dürfte der Grund dafür ebenfalls in Voegelins dogmatischer Grundprämisse liegen, dass die Qualität der politischen Ordnung ganz unmittelbar von ihren spirituellen Grundlagen abhängt. Daher ist für Voegelin, wenn er nur den Zustand des religiösen Bewusstseins hermeneutisch bestimmt hat, immer schon alles klar. Ist das religiöse Bewusstsein deformiert, dann ergibt sich für Voegelin schon allein daraus, dass die politische Ordnung nichts taugen kann. Die Kritik dieser Grundprämisse bildet ebenfalls ein wichtiges Anliegen dieses Buches (siehe Kapitel ), wenn ich auch nicht ganz so ausführlich darauf eingehe wie auf Voegelins Bewusstseinsphilosophie selbst.

Dieses Buch ist eine überarbeitete Fassung meiner Magisterarbeit über “Voegelins Bewusstseinsphilosophie (als Grundlage politischer Ordnung)”, die ich im Jahr 2000 an der Universität Bonn verfasst habe, und die in ihrer ursprünglichen Form seitdem auf meiner Website abrufbar war.2www.eckhartarnbold.de/papers/voegelin Dass ich mich nun entschlossen habe, sie sieben Jahre nach ihrer Niederschrift in überarbeiteter Form als Buch zu veröffentlichen hat verschiedene Gründe. Einmal habe ich, wie schon oben erwähnt, den Eindruck, dass das Interesse an Voegelin in letzter Zeit gewachsen ist. Zugleich gilt aber, was ich schon damals bezüglich der Voegelin-Sekundärliteratur festgestellt habe: Sie ist ihrem Standpunkt nach oft einseitig und zuweilen, wie mir scheint, mehr der Gedächnispflege als der wissenschaftlichen Auseinandersetzung verpflichtet. Immerhin scheint sich das in jüngster Zeit langsam zu wandeln. Ein erfreuliches Beispiel bildet in dieser Hinsicht Michael Henkels Studie “Positivismuskritik und autoritärer Staat. Die Grundlagendebatte in der Weimarer Staatsrechtslehre und Eric Voegelins Weg zu einer neuen Wissenschaft der Politik (bis 1938)”, die vor kurzem in der ansonsten nicht immer höchste Qualität verbürgenden Reihe der vom Münchner Eric-Voegelin-Archiv herausgegebenen „Occasional Papers“ erschienen ist.3Michael Henkel: Positivismuskritik und autoritärer Staat. Die Grundlagendebatte in der Weimarer Staatsrechtslehre und Eric Voegelins Weg zu einer neuen Wissenschaft der Politik (bis 1938), 2. Aufl., München 2005. Der entschieden autoritäre Standpunkt, der Voegelins politisches Denken seit 1929 bestimmt, und der auch nach Voegelins Emigration in die USA in verschleierter Form noch nachwirkt, wird darin ehrlich angesprochen. Lesenswert erscheinen mir unter den jüngeren Publikationen auch Hans-Jörg Sigwarts “Intellektuell-biographische Studien zum Frühwerk Eric Voegelins”4Hans-Jörg Sigwart: Das Politische und die Wissenschaft. Intellektuell-biographische Studien zum Frühwerk Eric Voegelins, Würzburg 2005., auch wenn sich der Autor Voegelins Standpunkt mehr als notwendig zu eigen macht. Dezidiert kritische Beiträge sind allerdings trotz der längst überfällig gewesenen Veröffentlichung von Hans Kelsens Rezension zu Voegelins “Neuer Wissenschaft der Politik”5Hans Kelsen: A New Science of Politics. Hans Kelsen’s Reply to Eric Voegelin’s „New Science of Politics“. A Contribution to the Critique of Ideology (Ed. by Eckhart Arnold), Heusenstamm 2004. bisher eher selten geblieben. Und das, obwohl viele von Voegelins Ansichten geradezu hanebüchen sind. Deshalb hoffe ich, dass meine sehr kritische Auseinandersetzung mit Voegelins Bewusstseinsphilosophie mit dazu beiträgt eine Lücke in der Voegelin-Sekundärliteratur zu schließen.

Ein weiterer Grund dafür, dass ich mich entschlossen habe, meine Arbeit nun auch als Buch zu veröffentlichen, besteht darin, dass Internetquellen – zum Teil aus guten Gründen – nach wie vor oft nicht als zitierfähig angesehen werden. Ich möchte aber anderen Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, auf meine Thesen zu Eric Voegelin Bezug zu nehmen, und dazu ist die “verbindlichere” Form einer Buchveröffentlichung immer noch am besten geeignet.

Nimmt man nach mehreren Jahren eine ältere Arbeit wieder zur Hand, so bleibt nicht aus, dass man Vieles inzwischen anders schreiben würde. Ich bin daher für die Buchveröffentlichung die Magisterarbeit noch einmal durchgegangen und habe sie an vielen Stellen geändert, wo mir der Text unklar oder missverständlich erschien. Auch habe ich dort, wo es mir aufgefallen ist, weitere Literaturverweise eingefügt, ohne allerdings die seitdem erschienene oder damals unberücksichtigt gebliebene Sekundärliteratur systematisch einzuarbeiten. Der Aufwand dafür hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen, ohne dass die inhaltliche Aussage, um die es mir geht, und die mir nach wie vor zutreffend erscheint, dadurch wesentlich stärker geworden wäre. Da ich mit dem, was ich damals über Voegelin geschrieben habe, immer noch fast vollkommen übereinstimme, und meine Meinung über den Politikwissenschaftler Eric Voegelin seitdem eher noch kritischer geworden ist, bin ich mit Änderungen im Ganzen aber eher behutsam geblieben. Vollständig bzw. fast vollständig neu geschrieben habe ich lediglich die Kapitel und , die mir in der bisherigen Form zum Teil abwegig bzw. nicht verständlich genug erschienen sind. Beim wiederlesen der Arbeit ist mir auch aufgefallen, dass ich manchmal zu drastischen Formulierungen gegriffen habe, wie ich sie heute nicht mehr unbedingt wählen würde. Trotzdem habe ich mich entschlossen, bei der Überarbeitung den Stil nicht allzusehr zu glätten, denn ich blicke mit Wehmut auf die glückliche Zeit zurück, als ich noch nicht wusste, wie sehr man innerhalb akademischer Institutionen zuweilen gezwungen ist, sich intellektuell zu prostituieren. Die Art von intellektueller Konzessionslosigkeit, die ich an großen Philosophen wie Thomas Hobbes, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche oder Ludwig Wittgenstein so bewundere, und der auch Eric Voegelin auf eine allerdings eher törichte Weise huldigte, wird im Milieu der akademischen Philosophie ziemlich wirkungsvoll unterdrückt. Ob es wirklich besser wäre, sie generell zuzulassen, möchte ich gar nicht unbedingt behaupten, aber schade ist es trotzdem.

Zum Schluss will ich nicht versäumen, Erasmus Scheuer für die Hilfe beim Korrekturlesen zu danken.

Düsseldorf, den 31. August 2007

Einleitung

A. Thema

Das Thema dieses Buches ist die Bewusstseinsphilosophie Eric Voegelins.6Zur Biographie: Eric Voegelin wurde 1901 in Köln geboren. 1922 Promotion bei Hans Kelsen und Othmar Spann. 1929-38 Privatdozent und außerordentlicher Professor für Staats- und Gesellschaftslehre in Wien. 1938 Flucht vor den Nazis in die USA. 1942-58 Professor of Gouvernment an der Lousiana State University in Baton Rouge. 1958 Professor für Politikwissenschaft in München. 1969 Rückkehr in die USA. 1974 Senior Research Fellow an der Hoover Institution on War, Revolution and Peace in Stanford. 1985 Tod. (Angaben aus: Michael Henkel: Eric Voegelin zur Einführung, Hamburg 1998, S. 13-35, S. 198-199.) Sie wird untersucht unter dem besonderen Aspekt der Begründung politischer Ordnung durch religiöse Bewusstseinserfahrungen.

Eric Voegelin vertrat die etwas eigentümliche und in der heutigen Zeit im westlichen Kulturkreis eher befremdlich wirkende Auf\/fassung, dass die religiösen Erfahrungen des Menschen eine notwendige Grundlage politischer Ordnung bilden. Damit ein politisches Gemeinwesen über eine stabile und im ethischen Sinne gute politische Ordnung verfügt, genügt es nach Voegelins Ansicht keineswegs, wenn sich diese Ordnung auf ein ausgeklügeltes System von Institutionen und auf eine wohldurchdachte Verfassung stützt. Für Voegelin muss die politische Ordnung darüber hinaus tief im religiösen Empfinden der Bürger verwurzelt sein. Nur dann kann sie eine ausreichende Resistenz gegenüber inneren und äußeren Anfechtungen entwickeln, und nur dann kann ihr eine ethische Qualität zugesprochen werden. In diesem Buch soll kritisch hinterfragt werden, ob die religiöse Erfahrung tatsächlich eine notwendige Voraussetzung politischer Ordnung bildet und ob eine solche Grundlegung der politischen Ordnung überhaupt wünschenswert ist.

Wenn für Voegelin die politische Ordnung im religiösen Empfinden oder, um es in seiner eigenen Terminologie zu formulieren, in den existentiellen „Erfahrungen“ der Bürger verwurzelt sein muss, so ist dies bei Voegelin nicht in der Weise zu verstehen, dass der Staat den religiösen Bereich der menschlichen Natur für seine Zwecke einspannen soll, wie dies die totalitären Staaten anstreben. Das religiöse Empfinden geht nicht vom Staat oder vom gesellschaftlichen Kollektiv aus, sondern es entspringt dem existentiellen Erleben des Einzelnen, und nach Maßgabe dieses im individuellen Erleben verankerten religiösen Empfindens muss die politische Ordnung gestaltet werden. Damit dies funktioniert, ist natürlich die Intaktheit des religiösen Empfindens von größter Bedeutung. Die intakte „Ordnungserfahrung“ bildet für Voegelin nicht nur eine notwendige Voraussetzung (guter) politischer Ordnung, sie stellt auch eine, zwar nicht unbedingt allein hinreichende, aber doch stark begünstigende Bedingung dar, gegenüber der alle pragmatischen Probleme politischer Ordnung, wie z.B. die Einzelheiten der Verfassungsordnung, vergleichsweise sekundär sind.

Kommt dem Unterschied zwischen intaktem und nicht intaktem religiös-existentiellen Empfinden eine derartig große Bedeutung zu wie bei Voegelin, so ergibt sich, dass die politische Philosophie einer Auseinandersetzung mit der Religion auf der inhaltlichen Ebene der religiösen Dogmen und Erfahrungen7Voegelin beschränkt sich auf die Erfahrungen, da seinem eher mystischen Religionsverständnis gemäß auch die Dogmen nur Ausdruck von religiösen Erfahrungen (und nicht von offenbartem Wissen) seien können. nicht ausweichen kann. Wie kann aber hier zwischen echt und unecht, zwischen richtig und falsch unterschieden werden? Voegelin verfolgt in dieser Frage einen zweifachen Ansatz. Zum einen geht er historisch vor, indem er sich bemüht, die geschichtlichen Entwicklungsprozesse religiöser Erfahrung nachzuzeichnen und dabei die „differenziertesten“ Stufen religiös-existentiellen Welterlebens ausfindig zu machen. Zum anderen versucht Voegelin, auf bewusstseinsphilosophischem Wege das Wesen der religiösen bzw. existentiellen Erfahrungen zu ergründen und in unmittelbarer Selbsterfahrung nachzuvollziehen. Da letzten Endes auch die historische Beurteilung religiöser Erfahrungen nur am Maßstab der bewusstseinsphilosophisch ermittelten Wesensauf\/fassung möglich ist, muss der bewusstseinsphilosophische Ansatz als der grundlegendere dieser beiden Ansätze angesehen werden. Diesem Buch liegt daher die Interpretationsannahme zu Grunde, dass die Bewusstseinsphilosophie Voegelins innerhalb der Systematik seines Gedankengebäudes das Zentrum einnimmt.8Diese Annahme entspricht Voegelins Selbstdeutung. Vgl. Eric Voegelin: Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1996, im folgenden zitiert als: Voegelin, Anamnesis, S. 7.

Voegelin geht es nicht darum, empirisch den Zusammenhang zwischen vorfindlichen politischen Ordnungsgefügen und den sie fundierenden religiösen Erfahrungen aufzuweisen. Vielmehr verfolgt Voegelin in erster Linie die normative Absicht, durch die bewusstseinsphilosophische Aufdeckung der religiösen Erfahrungsquellen die verbindliche Grundlage einer humanen und totalitarismusresistenten politischen Ordnung für die Gegenwart zu finden, welche für ihn in vielen westlichen Demokratien, die ihm in Ermangelung religiöser Grundlagen auf Sand gebaut schienen, noch unzureichend verwirklicht war. In diesem Buch steht die Untersuchung dieses normativen Aspektes im Vordergrund. Es geht mir nicht um die Frage, ob Voegelins Modellvorstellung von politischer Ordnung auf das alte Ägypten oder das römische Kaiserreich anwendbar ist, sondern es soll versucht werden zu klären, ob Voegelins Vorstellungen in der heutigen Zeit unter den Bedingungen pluralistischer und sich entwickelnder multikultureller Gesellschaften noch tragfähig sind und normative Gültigkeit beanspruchen dürfen. Letzteres ist natürlich nicht nur eine Frage von Zeitumständen, sondern vor allem eine Frage der Begründungsqualität.

B. Methode

Die Untersuchungsmethode, die in diesem Buch angewandt wird, ist die einer rationalen Rekonstruktion, d.h. es wird versucht, anhand einzelner Texte Voegelins dessen Thesen zu rekonstruieren und ihre Begründung kritisch zu prüfen. Nur am Rande wird dagegen auf philologische und historische Fragen eingegangen wie die, welche Entwicklung Voegelins Begriffe innerhalb seines Werkes durchgemacht haben, durch welche Philosophen er geprägt wurde oder welche zeitgeschichtlichen Umstände auf sein Denken Einfluss genommen haben. Im Vordergrund steht stattdessen die Frage der Gültigkeit von Voegelins Theorie.

Gegen eine derartige Herangehensweise sind von zwei gegensätzlichen Richtungen her Einwände denkbar. Einerseits könnte eingewandt werden, dass Voegelin heutzutage keineswegs mehr aktuell und eine theoretische Auseinandersetzung mit seinen Gedanken daher nicht mehr von Interesse sei. Andererseits könnte gegen die Methode der rationalen Rekonstruktion und Kritik der Vorwurf erhoben werden, dass sie, da einem positivistischen Wissenschaftsideal verpflichtet, dem Denken Voegelins nicht gerecht werden könne.

Der erste Einwand ließe sich dahingehend weiter ausführen, dass Voegelin als ein typischer Vertreter der Epoche des kalten Krieges inzwischen nurmehr eine historische Erscheinung sei.9Dies deutet mit Vorsicht Eugene Webb an. Vgl. Eugene Webb: Review of Michael Franz, Eric Voegelin and the Politics of Spiritual Revolt: The Roots of Modern Ideology, in: Voegelin Research News, Volume III, No. 1, February 1997, auf: http://alcor.concordia.ca/\~ vorenews/v-rnIII2.html (Host: Eric Voegelin Institute, Lousiana State University. Zugriff am: 1.8.2007), im folgenden zitiert als Webb, Review. Wenn man heute einen politischen Romantiker wie, um ein beliebiges Beispiel zu wählen, Konstantin Frantz analysierte, so würde man auch keine Zeit damit verschwenden, seine weltfremden Träumereien von einem christlichen Europa zu widerlegen, sondern ihn von vornherein nur unter einer rein geistes- oder zeitgeschichtlichen Perspektive, also gewissermaßen als ein historisches Kuriosum betrachten. Werden derartige Vorbehalte gegen Voegelin auch selten offen geäußert, so liegen sie doch in der Luft und bilden auch unausgesprochen einen der Gründe, weshalb Voegelin heutzutage – trotz des jüngst neuerwachten Interesses – im Ganzen eher in Vergessenheit geraten ist. Sollte sich aber Voegelins Theorie auch als gänzlich unhaltbar erweisen, so scheint mir eine Auseinandersetzung mit Voegelin auf der Sachebene dennoch lohnend, weil Voegelins Theorie als ein bestimmter Ansatz quasi-religiöser Politikbegründung eine geistige Möglichkeit repräsentiert, die unabhängig davon, ob sie gerade in Mode ist oder nicht, aus grundsätzlichem Interesse der Untersuchung wert ist. Im übrigen können auch bei politikphilosophischen Grundsatzdiskussionen Stimmungsumschwünge eintreten, die das, was noch wenige Jahrzehnte zuvor als abwegig galt, auf einmal wieder naheliegend und vertretbar erscheinen lassen. Dies gilt umso mehr, als auch die abstruseste Philosophie zur Grundlage politischen Handelns und politischer Ordnung gemacht werden kann. Und wenn einmal eine obskure Philosophie gesellschaftlich wirksam geworden ist, so bleibt der bloße Hinweis auf ihre Abstrusität ohnmächtig, da diese Philosophie dem Empfinden der meisten Menschen dann ganz natürlich erscheint.

Dem zweiten Einwand liegt die Frage zu Grunde, ob die Methode der rationalen Rekonstruktion für eine Untersuchung von Voegelins Werk angemessen ist. Voegelin wünschte sich von seinen Lesern eine ganz bestimmte Lesehaltung, die weniger durch eine kritisch-rationale Einstellung als durch den meditativen Nachvollzug seiner Gedanken bestimmt sein sollte, denn er glaubte, eine besondere Art von Wissenschaft zu verfertigen, bei der es gerade nicht auf das Aufstellen von Thesen und das kritische Abwägen von Argumenten ankommt. Aber zugleich beanspruchte Voegelin, mit seinen Schriften die theoretischen Grundlagen politischer Ordnung zu bestimmen. Ob diese Grundlagen tragfähig sind, lässt sich jedoch nur überprüfen, indem man sie rational analysiert. Die Rechtfertigung für meine, dem Denken Voegelins vielleicht etwas fremde, analytische Herangehensweise liegt also in Voegelins eigener Zielvorgabe, die geistigen Grundlagen guter politischer Ordnung zu finden. Da eine politische Ordnung für jeden, der in ihr lebt, verbindliche Geltung haben soll, so muss ihre Begründung auch intersubjektiv nachvollziehbar sein. Übrigens nahm Voegelin für seine Art von Politikwissenschaft in Anspruch, dass sie rationale Wissenschaft sei. Aber dies beruht, wie noch zu zeigen sein wird‚10Siehe dazu Seite , besonders Fußnote , sowie grundsätzlich zu Voegelins Sprachgebrauch Kapitel . auf einer willkürlichen Umdeutung des Begriffes der Rationalität.

Anders, als sich dies für die Methode der rationalen Rekonstruktion eigentlich empfiehlt, erfolgt die Darstellung von Voegelins bewusstseinsphilosophischen Schriften nicht durch eine Zuspitzung von Voegelins Aussagen zu einzelnen Thesen, sondern in der Form einer Wiedergabe seines Gedankenganges. Der Grund hierfür besteht darin, dass Voegelins Texte in hohem Maße einem erzählerischen Stilprinzip verpflichtet sind und sich daher gegen eine Zuspitzung zu einzelnen klaren Thesen sträuben. Eine Zusammenfassung in Thesen würde deshalb bereits ein sehr hohes Maß von Interpretation in Voegelins Texte hineintragen, so dass nicht mehr leicht zu erkennen wäre, wie die Thesen aus Voegelins Worten entnommen worden sind. Aus diesem Grund wird der Inhalt eines jeden untersuchten Textes zunächst ausführlich mit eigenen Worten wiedergegeben, so dass sich meine Interpretation leicht nachvollziehen lässt. Unmittelbar an die Darstellung eines jeden Textes oder auch einzelner Textpassagen schließt sich eine eingehende Kritik dieser Textpassagen an. Mag dieses Verfahren der intermittierenden Kritik auch einen Eindruck von Voreiligkeit und Nicht-ausreden-lassen-wollen erwecken, so ist es doch dadurch gerechtfertigt, dass die untersuchten Texte bezüglich ihrer Entstehungszeit teilweise recht weit auseinanderliegen und dementsprechend unterschiedliche Fragen aufwerfen. Außerdem lässt sich eine ins Einzelne gehende Kritik nur schwer an eine umfassende Darstellung anschließen, nach welcher den Lesern und Leserinnen nur noch die groben Züge des Gedankenganges im Gedächtnis geblieben sind. Eine Detail-Untersuchung ist aber beabsichtigt, denn der Wert einer Philosophie entscheidet sich meiner Ansicht nach weniger an den großen Linien der ihr zu Grunde liegenden metaphysischen Weltauf\/fassung als an der Qualität ihrer Durchführung im Detail.

C. Quellen und Sekundärliteratur

Dieses Buch beabsichtigt eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den wichtigsten bewusstseinsphilosophischen Standpunkten Voegelins, beansprucht aber keinesfalls eine umfassende Darstellung von Voegelins Bewusstseinsphilosophie zu sein. Bewusstseinsphilosophische Überlegungen begleiten Voegelins Schaffen von seinen frühesten Schriften bis zu den spätesten Werken‚11Vgl. etwa das Kapitel über „Time and Existence“, in: Eric Voegelin: On the Form of the american Mind, Baton Rouge / London 1995, S.23ff. wobei die Bedeutung der Bewusstseinsphilosophie in Voegelins Werk im Laufe der Zeit immer mehr zunimmt. Dabei geht Voegelins Bewusstseinsphilosophie fließend in seine Geschichtsdeutung und seine politische Theorie über.12Besonders deutlich wird dies in der Einleitung zu Order and History I. Vgl. Eric Voegelin: Order and History. Volume One. Israel and Revelation, Baton Rouge / London 1986 (zuerst: 1956), im folgenden zitiert als: Voegelin, Order and History I, S.1-11. Eine Vollständigkeit beanspruchende Untersuchung von Voegelins Bewusstseinsphilosophie müsste all diese Zusammenhänge mit berücksichtigen und in hohem Maße auch solche Schriften Voegelins einbeziehen, die nicht im engeren Sinne bewusstseinsphilosophisch genannt werden können.

Aus pragmatischen Gründen beschränkt sich dieses Buch daher auf die Untersuchung von „Anamnesis“, dem einzigen ausdrücklich als bewusstseinsphilosophisch ausgewiesenen größeren Werk, welches Voegelin zu dieser Thematik selbst veröffentlicht hat. Weiterhin werden aus dem Werk „Anamnesis“, das neben bewusstseinsphilosophischen auch eine Reihe von historischen Aufsätzen Voegelins versammelt, nur die im engeren Sinne bewusstseinsphilosophischen Aufsätze berücksichtigt, welche den ersten und dritten Teil dieses Werkes bilden, während der zweite Teil von „Anamnesis“ überwiegend historische Probleme behandelt. Durch die Beschränkung auf „Anamnesis“ bleiben die späteren Entwicklungen von Voegelins Bewusstseinsphilosophie außen vor. So wird Voegelins Auseinandersetzung mit dem Thema „Egophanie“ (Selbstbezogenheit des modernen Menschen im Gegensatz zur Gottbezogenheit), welches in „Order and History IV“ einen so großen Raum einnimmt‚13Vgl. Voegelin, Order and History IV, S.260ff. nicht näher behandelt. Auch der Komplex der „consciousness-reality-language“ und das „paradox of consciousness“, zwei zentrale Begriffe der letzten, in „Order and History V“ erreichten Entwicklungsstufe seiner Bewusstseinsphilosophie, treten in „Anamnesis“ lediglich in der noch vergleichsweise kruden Form des dort entwickelten vielschichtigen und paradoxen Realitätsbegriffs auf.14Vgl. Eric Voegelin: Order and History. Volume Five. In Search of Order, Baton Rouge / London 1987, im folgenden zitiert als: Voegelin, Order and History V, S. 14-18. – Vgl. Voegelin, Anamnesis, S. 304-305. Trotz dieser Einschränkungen umfasst „Anamnesis“, besonders durch den zeitlichen Abstand der darin aufgenommenen Texte, eine große Spannbreite von Voegelins bewusstseinsphilosophischem Denken und kann daher als durchaus repräsentativ für Voegelins gesamte Bewusstseinsphilosophie angesehen werden. Die Kritik an Voegelin, die in diesem Buch anhand einzelner bewusstseinsphilosophischer Schriften entwickelt wird, ist zu einem großen Teil von grundsätzlicher Art, so dass sie sich leicht auf andere Schriften Voegelins übertragen lässt. Einer allzu großen Fixierung auf bloße Einzelaspekte von Voegelins Bewusstseinsphilosophie wird dadurch entgegengewirkt, dass im ersten Teil des Buches ein Gesamtüberblick über die politische und historische Philosophie Voegelins gegeben wird, in welche die Bewusstseinsphilosophie eingebettet ist.

Die Lage der Sekundärliteratur zu Eric Voegelin und zu seiner Bewusstseinsphilosophie ist nicht in jeder Hinsicht günstig. Zwar gibt es über Eric Voegelin und besonders zu seinem Hauptwerk „Order and History“ schon ein beachtliches Schrifttum‚15Vgl. Geoffrey L. Price: Recent International Scholarship on Voegelin and Voegelinian Themes. A Brief Topical Bibliography, in: Stephen A. McKnight / Geoffry L. Price (Hrsg.): International and Interdisciplinary Perspectives on Eric Voegelin, Missouri 1997, S. 189-214. – Eine regelmäßig aktualisierte Bibliographie enthalten die Voegelin-Research News des Eric Voegelin Insitute der Louisiana State University, http://alcor.concordia.ca/\~ vorenews/ aber gerade zu Voegelins Bewusstseinsphilosophie sind Einzeluntersuchungen noch recht dünn gesät.16Eine erschöpfende Darstellung der mittleren Schaffensperiode, einschließlich der Bewusstseinsphilosophie des ersten Teils von Anamnesis liefert Barry Cooper. Vgl. Barry Cooper: Eric Voegelin and the Foundations of Modern Political Science, Columbia and London 1999, S. 161ff. – Für die spätere Schaffensperiode, insbesondere „Order and History V“: Vgl. Michael P. Morrissey: Consciousness and Transcendence. The Theology of Eric Voegelin, Notre Dame 1994, S. 117ff. – Meist wird die Bewusstseinsphilosophie jedoch nur im Rahmen einer anderen Thematik mitbehandelt. Vgl. beispielsweise: Petropulos, William: The Person as ‘Imago Dei’. Augustine and Max Scheler in Eric Voegelins ‘Herrschaftslehre’ and ‘The Political Religions’, München 1997, S. 35-38. Hinsichtlich dieser Seite von Voegelins Werk herrscht noch ein Forschungsdefizit, zu dessen Behebung dieses Buch ebenfalls einen Beitrag leisten möchte. Darüber hinaus leidet die Sekundärliteratur zuweilen an einer gewissen Einseitigkeit, die, wie es scheint, dadurch zustande kommt, dass sie zu einem großen Teil von überzeugten Anhängern Voegelins bestritten wird, während die vorhandenden und möglichen Gegner Voegelins ihn offenbar mehr oder weniger ignorieren. Nicht selten wird recht unkritisch das Selbstbild Voegelins, des großen Gelehrten, der in gottvergessener Zeit in den Tiefen der Geschichte auf Wahrheitssuche geht, kolportiert und geradezu eifersüchtig gegen Einwände verteidigt.17Deutlich wird dies etwa an den heftigen Reaktionen auf Eugene Webbs maßvolle Voegelin-Kritik. – Vgl. Thomas J. Farrell: The Key Question. A critique of professor Eugene Webbs recently published review essay on Michael Franz’s work entitled “Eric Voegelin and the Politics of Spiritual Revolt: The Roots of Modern Ideology“, in: Voegelin Research News, Volume III, No.2, April 1997, auf: http://alcor.concordia.ca/\~ vorenews/v-rnIII2.html – Maben W. Poirier: VOEGELIN– A Voice of the Cold War Era ...? A COMMENT on a Eugene Webb review, in: Voegelin Research News, Volume III, No.5, October 1997, auf: http://alcor.concordia.ca/\~ vorenews/V-RNIII5.HTML (Host jeweils: Eric Voegelin Institute, Lousiana State University. Zugriff am: 1.8.2007). Freilich ist Voegelin nicht ganz unschuldig daran, dass sein Werk unter die Zeloten gefallen ist, sah er doch selbst in Ansichten, die zu seiner Denkweise im Gegensatz standen, die „Rhetorik deformierter Existenz“ am Werk, und empfahl er einmal sogar, dem „verführerischen Zwang [für den modernen Menschen, E.A.], sich selbst zu deformieren“, mit den kräftigen Worten eines altägyptischen Dichters entgegenzutreten, die da lauten: „Siehe, mein Name wird übel riechen durch dich // mehr als der Gestank von Voegelmist // an Sommertagen, wenn der Himmel heiß ist“.18Vgl. Eric Voegelin: Äquivalenz von Erfahrungen und Symbolen in der Geschichte, in: Eric Voegelin: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte, Späte Schriften (Hrsg. von Peter J. Optiz), Stuttgart 1988, S.99-126 (S.105). Erst neuerlich sind einige Beiträge erschienen, die sich mit der gebotenen Distanz und zum Teil auch sehr kritisch mit Voegelin auseinandersetzen. Nach wie vor scheint dies aber eher noch die Ausnahme zu sein.19Als ein durchaus typisches Beispiel für die Art von Sekundärliteratur, die sich fast nur aus Bestandsaufnahme zusammensetzt, aber so gut wie keine kritische Diskussion enthält, sei hier nur das folgende herausgegriffen: Glenn Hughes (Ed.): The Politics of the Soul. Eric Voegelin on Religious Experience, Lanham / Boulder / New York / Oxford 1999. – Als Beispiele der Voegelin-Kritik seien herausgegriffen: Mit gesellschaftskritischem Akzent: Richard Faber: Der Prometheus-Komplex. Zur Kritik der Politotheologie Eric Voegelins und Hans Blumenbergs, Königshausen 1984. – Ideologiekritisch vor allem gegenüber Voegelins Gnosis-Begriff: Albrecht Kiel: Säkularisierung als Geschichte des Unheils. Die Gleichsetzung von Rationalität und Ordnung mit Katholizität in der Geschichtsphilosophie Eric Voegelins, in: Albrecht Kiel: Gottesstaat und Pax Americana. Zur Politischen Theologie von Carl Schmitt und Eric Voegelin, Cuxhaven und Dartford 1998, S.95-118. – Erhebliche Zweifel an der philologischen Genauigkeit Voegelins meldet Zdravko Planinc an: Zdravko Planinc: The Uses of Plato in Voegelin’s Philosophy of Consciousness: Reflections prompted by Voegelin’s Lecture, „Structures of Consciousness“, in: Voegelin-Research News, Volume II, No. 3, September 1996, auf: http://alcor.concordia.ca/\~ vorenews/v-rnII3.html (Host: Eric Voegelin Institute, Lousiana State University. Zugriff am: 1.8.2007). – Sehr kritisch gegenüber Voegelin: Hans Kelsen: A New Science of Politics. Hans Kelsen’s Reply to Eric Voegelin’s „New Science of Politics“. A Contribution to the Critique of Ideology (Ed. by Eckhart Arnold), Heusenstamm 2004, im folgenden zitiert als: Kelsen, A New Science of Politics. – Ähnlich Voegelin-kritisch auch: Eckhart Arnold: Eric Voegelin als Schüler Hans Kelsens, erscheint voraussichtlich Wien 2007. – Mit kritischen Akzenten: Michael Henkel: Positivismuskritik und autoritärer Staat. Die Grundlagendebatte in der Weimarer Staatsrechtslehre und Eric Voegelins Weg zu einer neuen Wissenschaft der Politik (bis 1938), München 2005.

Außer der Sekundärliteratur zu Eric Voegelin wird auch philosophische Literatur zu den Themen, die Voegelin in seinen bewusstseinsphilosophischen Texten anspricht, herangezogen. Hier besteht allerdings die Schwierigkeit, dass es in der Philosophie kein Expertentum gibt, und dass man daher je nachdem, auf welche Schule man zurückgreift, zu einer sehr unterschiedlichen Ansicht des Gegenstandes gelangen kann. In diesem Buch wurden vor allem die Autoren zu Rate gezogen, die auch Voegelin in seinen Schriften anspricht. Dies bereitet für die Untersuchung des ersten Teils von „Anamnesis“ keine Probleme, da klar ist, dass Voegelin sich hier vornehmlich mit der Phänomenologie auseinandersetzt. Schwieriger ist dies jedoch für dritten Teil von „Anamnesis“ zu realisieren, da Voegelin hier wesentlich selbständiger vorgeht. Weiterhin werden solche Autoren mit einbezogen, die von Voegelin zwar nicht immer ausdrücklich erwähnt werden, auf die er sich jedoch stillschweigend zu beziehen scheint.

D. Aufbau

Das Buch ist in drei Teile untergliedert. Der erste Teil (Kapitel ) gibt einen Grundriss von Voegelins politischer Philosophie. Ziel ist es, die Hauptthesen von Voegelins politischer Philosophie darzustellen sowie seinen methodischen Ansatz zu bestimmen. Insbesondere soll gezeigt werden, wie und an welcher Stelle bewusstseinsphilosophische Voraussetzungen in Voegelins politisches Denken eingehen. In diesem Teil beziehe ich mich überwiegend auf Voegelins „Neue Wissenschaft der Politik“‚20Eric Voegelin: Die Neue Wissenschaft der Politik. Eine Einführung, München 1959, im folgenden zitiert als: Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik. da dieser Schrift unter Voegelins Werken am ehesten der Charakter einer Programmschrift eigen ist. Dabei werden von vornherein auch kritische Einwände gegen Voegelins Auf\/fassungen diskutiert. Die Kritik dient nicht zuletzt dazu, den Problemhorizont abzustecken, der bei der Untersuchung von Voegelins Bewusstseinsphilosophie berücksichtigt werden muss. Inhaltlich stimmt meine Kritik, soweit sie Voegelins „Neue Wissenschaft der Politik“ betrifft, vielfach mit der von Hans Kelsen geübten überein‚21Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O. von der ich allerdings erst nach der Niederschrift meiner damaligen Magisterarbeit Kenntnis bekommen hatte. Auf Übereinstimmungen zu Kelsens Deutung habe ich, wo sie mir besonders aufgefallen sind, nun in den Fußnoten hingewiesen. Neben der „Neuen Wissenschaft der Politik“ beziehe ich mich auch kritisch auf Voegelins geschichtsphilosophische Prämissen, wie sie von Voegelin vor allem in den Einleitungen zu den Einzelbänden von „Order and History“ entfaltet werden.

Im zweiten Teil, der seiner Länge wegen auf mehrere Kapitel verteilt ist (Kapitel , , ), werden ausführlich Voegelins bewusstseinsphilosophische Schriften dargestellt und einer eingehenden Detailkritik unterzogen. Den Abschluss des zweiten Teils (Kapitel ) bildet die Diskussion einiger Grundprobleme von Voegelins Bewusstseinsphilosophie, wobei die kritische Betrachtung von Voegelins Begriff der (religiösen) Erfahrung im Zentrum steht. Es gilt dabei kritisch Bilanz zu ziehen, ob der in Voegelins Denken zentrale Begriff der „Erfahrung“ hinreichend durch die bewusstseinsphilosophischen Überlegungen Voegelins begründet und erläutert ist, um für das Verständnis und die Gestaltung politischer Ordnung fruchtbar gemacht werden zu können.

Im letzten, mehr essayistisch gehaltenen Teil des Buches (Kapitel ), wird schließlich auf einer etwas allgemeineren Ebene die Frage angesprochen, ob gute politische Ordnung einer religiösen Grundlage bedarf. Dabei wird zu zeigen versucht, dass eine religiös-spirituelle Grundlegung der Politik, wie sie Voegelin vorschwebte, sowohl aus grundsätzlichen Überlegungen als auch insbesondere unter den Bedingungen einer pluralistischen und zunehmend multikulturellen Gesellschaft vor erheblichen Schwierigkeiten steht. Zugleich wird die Frage aufgeworfen, ob eine rein säkulare, durch Konsens bestimmte Grundlegung politischer Ordnung auf Basis eines Gesellschaftsvertrages denkbar ist, und ob daher politische Ordnung des transzendenten Bezuges nicht ohnehin gänzlich entraten kann. Eine Frage, die ich ziemlich uneingeschränkt bejahe.

Den Abschluss des Buches (Kapitel ) bilden schließlich einige Gedanken zu der Frage, ob Eric Voegelins kulturhistorischer Ansatz der gegenwärtigen Politikwissenschaft noch etwas mitzuteilen hat, selbst wenn die meisten seiner Ansichten inzwischen als überholt gelten müssen.


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